Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Nicht-Meldungen und Staatsräson

Das Bild der Rea­li­tät wird durch Medi­en ver­mit­telt – selek­tiv und manch­mal retu­schiert und mit Bild­be­ar­bei­tungs­pro­gram­men geschönt. Zur Selek­ti­on gehört auch, wor­über nicht berich­tet wird. Dass man­che Ereig­nis­se eine Mel­dung wert sind, ande­re nicht, ist oft­mals nur schwer nach­zu­voll­zie­hen. Da eine Nicht-Mel­dung natur­ge­mäß nicht begrün­det wird – sonst wäre es ja eine Mel­dung –, ent­steht zwangs­läu­fig ein Manipulationsverdacht.

Am 20.2. berich­te­te die Tages­zei­tung jun­ge Welt über Recher­chen der UN-Son­der­be­richt­erstat­te­rin und Men­schen­rechts­be­auf­trag­ten Ale­na Dou­han in Vene­zue­la. Danach haben Sank­tio­nen der USA und der EU gegen das Land »ver­hee­ren­de Aus­wir­kun­gen auf die Bevöl­ke­rung«; sie erschwer­ten »den Zugang des Lan­des zu Nah­rungs­mit­teln und Medi­ka­men­ten«. Die huma­ni­tä­re Kri­se in dem Land sei eine direk­te Aus­wir­kung der Sank­tio­nen. Der ein­zi­ge Weg zum Schutz der Men­schen­rech­te sei »die Auf­he­bung der Sank­tio­nen und die Wie­der­her­stel­lung von nor­ma­len Bezie­hun­gen zwi­schen den Natio­nen«, sag­te Duo­han. Die­se Stel­lung­nah­me war sonst nur der Welt eine Mel­dung wert. Sie ver­kehr­te aller­dings die Ergeb­nis­se der UN-Beauf­trag­ten ins Gegen­teil: »Euro­pa wird mit UN-Hil­fe von Vene­zue­las Dik­ta­tor Nico­las Madu­ro an den Pran­ger gestellt.«

Laut einer Stu­die des UN-Welt­ernäh­rungs­pro­gramms hat sich die wirt­schaft­li­che und sozia­le Lage in Syri­en bedroh­lich ent­wickelt und seit dem Abflau­en der Kämp­fe sogar ver­schlech­tert. 60 Pro­zent der Bevöl­ke­rung lei­den an Nah­rungs­man­gel. Vie­le sind kom­plett auf UN-Hilfs­lie­fe­run­gen ange­wie­sen. Die wenig­sten Medi­en (etwa taz am 23.2.) berich­ten dar­über; nicht erwähnt wird, wel­che Rol­le dabei der Cae­sar Act (Sank­tio­nen der USA) und die völ­ker­rechts­wid­ri­gen US-Mili­tär­ba­sen im Land spie­len. Zie­len die Mäch­te, die in Syri­en mit Gewalt einen Regime-Chan­ge durch­set­zen wol­len, auf eine Spal­tung des Lan­des, wie der rus­si­sche Außen­mi­ni­ster Law­row behaup­tet? Hat all das die Bevöl­ke­rung nicht zu interessieren?

Auch in der Innen­po­li­tik tun sich Infor­ma­ti­ons­lücken auf. Auf der Inter­net­sei­te von Poli­ce-IT (Link Nach­Denk­Sei­ten am 12.2.) ent­deckt man eine Mel­dung über VeRA. Das ist die Abkür­zung für »ver­fah­rens­über­grei­fen­de Recher­che und Ana­ly­se« und ist Teil des Pro­gramms Poli­zei 2020 »zur Koope­ra­ti­on der deut­schen Poli­zei- und Sicher­heits­be­hör­den«. Nichts erfährt man dar­über in den gro­ßen Medi­en, obwohl doch schon die Zusam­men­ar­beit der Poli­zei mit Geheim­dien­sten aller kri­ti­schen Auf­merk­sam­keit bedürf­te. Nach Poli­ce-IT braut sich da Bri­san­tes zusam­men: »Mit der gleich­zei­ti­gen Ein­füh­rung von Steu­er-Id und dem Gesetz zur Regi­ster­mo­der­ni­sie­rung, das über 200 Daten­ban­ken von Behör­den und Insti­tu­tio­nen gleich­zei­tig nutz­bar machen soll, und der zeit­glei­chen Ein­füh­rung von VeRA ent­steht ein zen­tra­ler Beob­ach­tungs- und Über­wa­chungs­mo­ni­tor über uns alle und wer­den Poli­zei- und die ande­ren (…) Sicher­heits­be­hör­den zu Super­be­hör­den mit Aus­for­schungs­mög­lich­kei­ten gemacht, von denen das Reichs­si­cher­heits­haupt­amt oder die Sta­si nur träu­men konn­ten.« War­um erfah­ren wir anders­wo nichts darüber?

Der Armuts- und Reich­tums­be­richt der Bun­des­re­gie­rung, der eine wei­te­re kras­se Spal­tung der Gesell­schaft offen­bart, bleibt in den mei­sten gro­ßen Medi­en eine Ein­tags­flie­ge. Auch nach dem Sozi­al­be­richt des Wis­sen­schafts­zen­trums Ber­lin für Sozi­al­for­schung (in Zusam­men­ar­beit mit drei Insti­tu­tio­nen des Bun­des), der die ver­fe­stig­te Armut offen­legt, ging man rasch zur Tages­ord­nung über. Eine sol­che Ungleich­ver­tei­lung der Ein­kom­men und Ver­mö­gen in Ver­bin­dung mit der Ver­fe­sti­gung der Armut dürf­te es zwar in einem sozia­len Rechts­staat nicht geben. Aber der Zustand ist poli­tisch geschaf­fen und gewollt, und die kon­for­men Medi­en haben offen­sicht­lich nicht vor, den Skan­dal den Ver­ant­wort­li­chen anzu­la­sten. Sie pran­gern zwar Bestechung und Berei­che­rung von Par­la­men­ta­ri­ern als »Ein­zel­fäl­le« an; wo sol­che Kor­rup­ti­on hin­ge­gen System hat – Steu­er­po­li­tik, Lob­by­is­mus, poli­ti­scher Ein­fluss des Kapi­tals –, da hal­ten sie sich dis­kret zurück.

Die Liste der syste­ma­tisch ver­nach­läs­sig­ten The­men der letz­ten Zeit lie­ße sich lan­ge fort­set­zen. Kaum Erwäh­nung fand etwa die Auf­rü­stung der EU-Grenz­schutz­agen­tur Fron­tex oder die Ver­net­zung rechts­extre­mer Eli­te­sol­da­ten, Poli­zi­sten und Geheim­dienst­ler; die chao­ti­sche poli­tisch-wirt­schaft­li­che Lage in der Ukrai­ne, die (aktu­ell gele­ak­te) Unter­stüt­zung des Put­sches in Boli­vi­en durch Groß­bri­tan­ni­en oder die Pro­pa­gan­da­lü­gen über den Krieg in Liby­en. Dass 450 sozia­le Orga­ni­sa­tio­nen den Stopp des Frei­han­dels­ver­tra­ges zwi­schen der EU und den Mer­co­sur-Län­dern for­dern, war nur der taz und eini­gen Alter­na­tiv-Medi­en eine Mel­dung wert. Wir wür­den über sol­che Ereig­nis­se gar nicht unter­rich­tet, gäbe es nicht unab­hän­gi­ge Medi­en und Nach­rich­ten­por­ta­le. Auch Qua­li­täts­be­rich­te in mei­nungs­prä­gen­den Medi­en kön­nen nicht dar­über hin­weg­täu­schen, dass die Lei­tungs­ebe­ne regie­rungs­nah und staats­tra­gend ist.

Zu den staats­tra­gen­den Auf­ga­ben gehört offen­sicht­lich auch das Auf­bau­en von Feind­bil­dern durch Main­stream­m­e­di­en, die ohne jour­na­li­sti­sche Sorg­falt schwer­wie­gen­de Beschul­di­gun­gen gegen Staa­ten erhe­ben, die sich dem herr­schen­den Kon­sens und den Inter­es­sen des Westens nicht unter­ord­nen (vgl. dazu den auf­schluss­rei­chen Bericht des Kon­flikt­for­schers Leo Ensel auf infosperber.ch am 25.3.21: »West-Ost-Brücken­bau­er, abge­drängt an die Rän­der – ein Lehr­stück«.) Wie im Kal­ten Krieg über­neh­men zum Bei­spiel die gro­ßen Medi­en eine Mel­dung der East Strat­Com Task Force des Aus­wär­ti­gen Dien­stes der EU (EAD): »Russ­land betreibt einem EU-Bericht zufol­ge eine syste­ma­ti­sche und umfas­sen­de Des­in­for­ma­ti­ons­kam­pa­gne gegen Deutsch­land« (Deut­sche Wel­le 9.3.). Ziel der Kam­pa­gne sei es, Unsi­cher­heit und Zwie­tracht zu säen. Fast wort­gleich repro­du­zie­ren etwa Tages­spie­gel, Focus, Han­dels­blatt, BNN, ZDF, Dlf, Zeit die Nach­richt. Hat sich auch nur eine der Redak­tio­nen die Mühe gemacht, die Anschul­di­gung zu über­prü­fen? Die­se Arbeit bleibt ›alter­na­ti­ven‹ Medi­en über­las­sen. So zei­gen etwa die Nach­Denk­Sei­ten, dass die EU-Task Force zahl­rei­che nicht-rus­si­sche Inter­net­por­ta­le oder gar (nicht-staat­li­che) Blog­ger zur angeb­li­chen rus­si­schen Kam­pa­gne zählt (vgl. auch die Ana­ly­se von Tho­mas Röper im Anti-Spie­gel vom 9.3.).

Auf der ande­ren Sei­te gibt sich die Bun­des­re­gie­rung sehr wort­karg, wenn sie kri­ti­sche Fra­gen zum Fall Nawal­ny beant­wor­ten soll (vgl. Tele­po­lis, 19.2.). Sie beruft sich auf »berech­tig­te Geheim­hal­tungs­in­ter­es­sen« und behaup­tet: »Der Bun­des­re­gie­rung lie­gen hier­zu kei­ne Erkennt­nis­se vor.« War­um begnü­gen sich die gro­ßen Medi­en mit der Behaup­tung, Infor­ma­tio­nen wür­den das Staats­wohl gefähr­den? Es ist unvor­stell­bar, dass alle Jour­na­li­stIn­nen und Redak­teu­rIn­nen die­ses Kon­vo­lut aus Poli­ti­ker-State­ments, Geheim­dienst­ma­te­ri­al und zusam­men­ge­schu­ster­ten Halb­wahr­hei­ten glau­ben. Von Tau­sen­den, die das Insi­der­wis­sen über Pro­pa­gan­da und Mani­pu­la­ti­on haben, decken nur weni­ge muti­ge Dis­si­den­ten und Whist­le­b­lower das Falsch­spiel auf. Jour­na­li­stIn­nen sind sicher auch Zwän­gen unter­wor­fen, die ein ehe­ma­li­ger Jour­na­list des Medi­en-Impe­ri­ums von Rupert Mur­doch so zusam­men­fass­te: »Er (Mur­doch) sag­te uns nicht, was wir schrei­ben sol­len. Wir wuss­ten aber, was er von uns erwar­tet« (taz, 16.7.2020).

So fand auch ein Inter­view mit dem inve­sti­ga­ti­ven Jour­na­li­sten Max Blu­men­thal in deut­schen Medi­en kei­ne Reso­nanz: »Wie die Geheim­dien­ste & Medi­en Russ­land unter­gra­ben« (acT­Vism munich auf You­Tube, 11.3.). Er wer­te­te gele­ak­te Doku­men­te aus dem Umfeld des bri­ti­schen Außen­mi­ni­ste­ri­ums aus. Sie zei­gen: Mit pri­va­ten Sicher­heits­un­ter­neh­men, Pro­pa­gan­da-Orga­ni­sa­tio­nen und mit­hil­fe der alt­ehr­wür­di­gen BBC und des Medi­en­kon­zerns Thom­son Reu­ters wur­de ein Netz­werk gegen Russ­land auf­ge­baut – für einen effek­ti­ven Infor­ma­ti­ons­krieg und einen Regime-Change.

Welch kras­ser Gegen­satz: Im Fall angeb­li­cher rus­si­scher Des­in­for­ma­ti­on über­neh­men alle nam­haf­ten Medi­en unge­prüft die ›Fak­ten‹ der Task Force. Gro­ßes Schwei­gen bedeckt hin­ge­gen Mel­dun­gen über den west­li­chen Pro­pa­gan­da­krieg gegen Russ­land und Chi­na. Ein Wech­sel der Per­spek­ti­ven kann Auf­schluss geben über die Heu­che­lei des »Wer­te­we­stens«. Die taz titelt am 18.3.: »Brüs­sel will Chi­na bestra­fen« – wegen Unter­drückung der Uigu­ren. Wie wür­den hier­zu­lan­de die Medi­en reagie­ren, wenn Peking Brüs­sel bestra­fen woll­te wegen der men­schen­ver­ach­ten­den Poli­tik der Flücht­lings­be­kämp­fung? Direkt dane­ben ein wei­te­rer Arti­kel: »Groß­bri­tan­ni­en will im ›Indo-Pazi­fik‹ zukünf­tig stär­ker prä­sent sein«. Was wäre hier los, wenn es hie­ße: »Chi­nas Mari­ne will in der Nord­see stär­ker prä­sent sein«?

Wür­den die gro­ßen Medi­en umfas­send recher­chie­ren, dif­fe­ren­ziert berich­ten und ihre Auf­ga­be als kri­ti­sche Instanz gegen­über der Macht­eli­te wahr­neh­men: Deutsch­land wäre ein sozi­al gerech­tes, fried­lie­ben­des Land.