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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ostdeutsches Denkmal

Hans Mod­row voll­endet Ende des Monats sein 91. Lebens­jahr und ist in einer benei­dens­wert guten Ver­fas­sung, was nicht nur er mit Dank­bar­keit und Demut quit­tiert. Sie erlaubt ihm nicht nur wei­te Rei­sen zu machen (im Sep­tem­ber war er in diplo­ma­ti­scher Mis­si­on zwi­schen Bejing, Pjöng­jang und Seo­ul unter­wegs, dem­nächst bricht er nach Havan­na auf). Er arbei­tet auch unver­än­dert innen­po­li­tisch und mit Stra­te­gie, was ihn in sei­ner Par­tei Die Lin­ke eher zu einer Aus­nah­me macht. So treibt Mod­row seit Jah­ren BND und Ver­fas­sungs­schutz mit sei­nem Aus­kunfts­er­su­chen vor sich her – vor Jah­res­frist gab ihm das Leip­zi­ger Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt Recht, und das oben­drein im glei­chen Saa­le, wo einst der Reichs­tags­brand­pro­zess erfolg­te. Der Bun­des­bür­ger Mod­row ver­langt von den vor­mals west­deut­schen Dien­sten, was sei­ner­zeit die Ost­deut­schen von ihrem Dienst for­der­ten: Ich will mei­ne Akte! Die Sta­si-Unter­la­gen kön­nen seit 1992 mit beacht­li­cher staat­li­cher Unter­stüt­zung stu­diert wer­den, die Ein­sicht in die ande­ren Geheim­dienst­pa­pie­re hin­ge­gen wird beharr­lich ver­wei­gert: aus archiv­recht­li­chen Grün­den (30 Jah­re) und wegen des Daten­schut­zes (auch ver­stor­be­ne Spit­zel haben Ange­hö­ri­ge). Die west­li­chen Dien­ste haben min­de­stens 65.000 DDR-Bür­ger aus­ge­späht, wie eine von Mod­row ange­reg­te Klei­ne Anfra­ge der Links­frak­ti­on an die Bun­des­re­gie­rung ergab. Er zum Bei­spiel wur­de, wie die ersten an ihn über­ge­be­nen Doku­men­te zeig­ten, seit den 50er Jah­ren syste­ma­tisch bespit­zelt. Sei­ne Obser­va­ti­on ende­te laut Aus­kunft des dama­li­gen Bun­des­in­nen­mi­ni­sters angeb­lich 2012. Da war Mod­row zwi­schen­zeit­lich Abge­ord­ne­ter des Bun­des­ta­ges und des Euro­pa­par­la­ments gewe­sen und der Kal­te Krieg gegen die DDR auf­grund ihres Ver­schwin­dens Geschich­te. War­um also?

Glei­ches Recht für alle, ver­langt das Grund­ge­setz, und auch Hans Mod­row for­dert es für sich und sei­ne ost­deut­schen Lands­leu­te hart­näckig ein. Die Akten-Fra­ge ist dabei von zen­tra­ler Bedeu­tung. Sie dient nicht der Befrie­di­gung pri­va­ter Neu­gier son­dern der Her­stel­lung von Gleich­be­rech­ti­gung vor dem Gesetz.

Über­haupt die Geschich­te. In die­sem Jahr wird die Bun­des­re­pu­blik sieb­zig, und die DDR ging vor drei­ßig Jah­ren unter. Was lehrt uns die Ver­gan­gen­heit für die Zukunft? Im fer­nen Korea, im Nor­den wie im Süden, hat man ihn sehr genau befragt, wel­che lang­fri­sti­gen Fol­gen die deutsch-deut­sche Ver­ei­ni­gung hat­te und hat. Die­se Feh­ler möch­te man dort nicht wiederholen.

Mod­row sieht die Beschäf­ti­gung mit die­sen Fra­gen hier­zu­lan­de als Zukunfts­pro­jekt. In die­sem Sin­ne ist er nicht nur bei Marx, son­dern auch bei Bis­marck: »Man muss mit den Rea­li­tä­ten wirt­schaf­ten und nicht mit Fik­tio­nen.« Der von ihm seit Jah­ren geführ­te Älte­sten­rat in der Links-Par­tei wird auf sein Drän­gen dazu erneut Impul­se set­zen, indem zunächst bilan­ziert wird. Was sind die Gemein­sam­kei­ten zwi­schen Ost und West, und wo lie­gen die Unter­schie­de? Wel­che las­sen sich ein­eb­nen, wel­che muss man beto­nen? Was dann eine spe­zi­fi­sche Her­aus­for­de­rung für die ein­sti­ge »Küm­me­rer­par­tei« im Osten wäre, denn deren Platz hat – schein­bar – inzwi­schen eine ande­re über­nom­men, was für die Demo­kra­tie des gan­zen Staa­tes fatal ist.

Die Bedeu­tung Mod­rows für die­ses Land haben meh­re­re Jah­re lang zwei aus­wär­ti­ge Wis­sen­schaft­ler unter­sucht, wobei sie sich – das liegt an ihrer Pro­fes­si­on – mehr auf die Ver­gan­gen­heit denn auf die poli­ti­sche Gegen­wart kon­zen­trier­ten. Der öster­rei­chi­sche Histo­ri­ker Micha­el Geh­ler und sein Part­ner Oli­ver Dürkop plan­ten ursprüng­lich, Hans Mod­row als Zeit­zeu­gen zu den Bezie­hun­gen zwi­schen der DDR und Öster­reich zu befra­gen, und zwar in jener Pha­se, als die­ser 1989/​90 Mini­ster­prä­si­dent der zwei­ten deut­schen Repu­blik und damit de fac­to Wider­part von Bun­des­kanz­ler Hel­mut Kohl war. Offen­kun­dig haben die bei­den Zeit­ge­schicht­ler bald bemerkt, auf wel­che Gold­ader sie da gesto­ßen waren, wes­halb die Sache sich immer mehr aus­wei­te­te. Sie gru­ben in Archi­ven, sich­te­ten Publi­ka­tio­nen, spra­chen mit ande­ren über Mod­row und mit die­sem selbst. Zwi­schen 2014 und 2018 tra­fen sie sich sie­ben Mal und inter­view­ten ihn aus­führ­lich. Her­aus­ge­kom­men ist ein fast sechs­hun­dert Sei­ten dickes Geschichts­buch, das die Autoren Zeit­zeu­gen­do­ku­men­ta­ti­on nennen.

Gewiss haben kun­di­ge Ost­deut­sche einen sub­jek­tiv ande­ren Blick auf die­se Zeit und auf die Per­son Hans Mod­row als die bei­den. Das mag an deren um Objek­ti­vi­tät bemüh­ten Betrach­tungs­wei­se lie­gen. Abstrak­ti­on und Distanz schlie­ßen natur­ge­mäß Emo­tio­na­li­tät aus. Im Wis­sen um die Tat­sa­che, dass angeb­lich der Zeit­zeu­ge Feind des Histo­ri­kers sei (Wolf­gang Kraus­haar), wan­deln Geh­ler und Dürkop auf einem schma­len Grat. Auf der einen Sei­te wis­sen sie um den Deu­tungs­an­spruch von Zeit­zeu­gen, den sie respek­tie­ren, auf der ande­ren Sei­te wol­len sie die eige­ne Deu­tungs­kom­pe­tenz behaup­ten und damit ihren Kol­le­gen Mar­tin Sab­row indi­rekt wider­le­gen, der eine »schlei­chen­de Ent­mach­tung der Histo­ri­ker­zunft« durch Zeit­zeu­gen aus­ge­macht hat. Zeit­ge­schich­te ist eine ziem­lich ver­track­te Ange­le­gen­heit, wenn der Pul­ver­dampf noch nicht vom Schlacht­feld ver­zo­gen und nicht alle Betei­lig­ten ver­stummt sind.

Hans Mod­row wird durch die­se umfang­rei­che, sehr kom­ple­xe, viel­schich­ti­ge Arbeit aka­de­misch auf­ge­wer­tet, gleich­sam geadelt, wie eine Rezen­sen­tin befand, ihm wer­de dadurch die Ach­tung und Auf­merk­sam­keit zuteil, die er ver­die­ne, was zutref­fend heißt: Sie wur­de ihm bis­lang ver­wei­gert oder nur in Maßen zuge­stan­den. Alle Welt rühmt Kohl als Kanz­ler der Ein­heit – aber Mod­row, der in jener kri­ti­schen Zeit als ost­deut­scher Mini­ster­prä­si­dent Cha­os und Blut­ver­gie­ßen ver­hin­der­te, der mit Weit­sicht und Empa­thie han­del­te und nicht mit Bim­bes, wird glei­che Aner­ken­nung beharr­lich von der offi­zi­el­len Bun­des­re­pu­blik ver­wei­gert. Das Buch kratzt an die­ser fort­dau­ern­den Miss­ach­tung, die eben kein sin­gu­lä­rer Vor­gang ist.

»In Ver­ant­wor­tung. Hans Mod­row und der deut­sche Umbruch 1989/​90.« Her­aus­ge­ge­ben von Oli­ver Dürkop und Micha­el Geh­ler. Stu­di­en­Ver­lag Inns­bruck-Wien-Bozen, 581 Sei­ten, 49,90 €