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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Respektlos und ignorant

Am letz­ten Okto­ber­wo­chen­en­de trug man Wolf­gang Kohl­h­aa­se auf dem Doro­theen­städ­ti­schen Fried­hof in der Haupt­stadt zu Gra­be. Dem schwar­zen Sarg folg­ten sehr, sehr vie­le Pro­mi­nen­te von Büh­ne, Film und Show­biz – mehr­heit­lich aus dem Osten. Aller­dings ver­miss­te man die bei sol­chen Ereig­nis­sen übli­che Prä­senz der Pres­se, ins­be­son­de­re des Fern­se­hens. Nicht ein­mal die RBB-Abend­schau aus Char­lot­ten­burg war zuge­gen, die doch sonst über jeden umge­fal­le­nen Pflan­zen­kü­bel oder Play­boy in der Haupt­stadt aus­führ­lich berich­tet. Auch Ver­tre­ter aus der Poli­tik fehl­ten (sieht man ein­mal von Wal­ter Mom­per ab, der schon lan­ge a. D. ist, und vom Land­rat aus Mär­kisch-Oder­land). So gese­hen, fand der Abschied von einem der bedeu­tend­sten deut­schen Dreh­buch­au­to­ren und Erzäh­ler fast unter Aus­schluss der Öffent­lich­keit statt. Eigent­lich ein Skan­dal. Viel­leicht aber auch nicht. Wenn’s denn Zufall war, hat­te er ver­mut­lich den­noch Methode.

Wir wis­sen, dass Redak­tio­nen und Jour­na­li­sten sich unter­ein­an­der nicht ver­ab­re­den, da ist der Kon­kur­renz­kampf vor. Den­noch ver­hal­ten sie sich wie kom­mu­ni­zie­ren­de Röh­ren, selbst wenn dies in Abre­de gestellt wird. So hat das Maß an Igno­ranz den glei­chen Pegel, die Unter­schie­de sind mar­gi­nal bei Distan­zie­rung oder Auf­merk­sam­keit für ein The­ma, eine Per­son oder Grup­pie­rung. Dadurch ent­steht bei Außen­ste­hen­den, uns Rezi­pi­en­ten, der Ein­druck einer gewis­sen Gleich­schal­tung. Der ist falsch. Nie­mand schreibt vor, wor­über sie berich­ten sol­len (oder es bes­ser las­sen), es gibt kei­ne Vor­ga­ben, ob oder auf wel­che Wei­se sie ihre Zuwen­dung oder Ver­ach­tung sicht­bar machen. Und den­noch gibt es eine erstaun­li­che Uni­for­mi­tät der Mei­nun­gen. Die nennt man Main­stream. Und in die­sem schwim­men nahe­zu alle. Obwohl es doch nie­mand verlangt.

Ein Sei­ten­arm die­ses Haupt­stroms, um im Bil­de zu blei­ben, ist der Osten. Die dort Leben­den wer­den gele­gent­lich und harm­los als gene­tisch Defor­mier­te dar­ge­stellt (sie­he Jes­sy Well­mers »Russ­land, Putin und wir Ost­deut­schen«, RBB), oft des­avou­iert oder gar denun­ziert. Oder der Lächer­lich­keit preis­ge­ge­ben. Vor­herr­schend ist jedoch die Igno­ranz. Wenn ein Münch­ner Spezl in sei­ne Restau­rant­kas­se greift und Steu­ern hin­ter­zieht, füllt das Sen­de­zeit ohne Ende auf allen Kanä­len, und der Blät­ter­wald rauscht wie im Herbst­sturm. Doch nach dem pflicht­schul­di­gen Ver­mel­den sei­nes Todes ist der Name des Ost­deut­schen Kohl­h­aa­se sofort ver­ges­sen, ver­mut­lich weil die Igno­ran­ten ihn und sei­ne Fil­me ohne­hin nicht kann­ten, wie Andre­as Dre­sen in sei­ner Trau­er­re­de im Zusam­men­hang mit einer Aus­zeich­nungs­ver­an­stal­tung in Mün­chen erwähnte.

Die Miss­ach­tung von Ost­deut­schen ist oft gepaart mit Respekt­lo­sig­keit. Man macht sie lächer­lich und insi­nu­iert, sie sei­en nicht ganz dicht, an ihrem Zaun fehl­ten eini­ge Lat­ten. Neh­men wir das Bei­spiel Egon Krenz, dem es maß­geb­lich zu dan­ken ist, dass die »fried­li­che Revo­lu­ti­on« fried­lich blieb und kein Schuss fiel. Die Ber­li­ner Zei­tung schrieb zwar am 13./14. Juli 2019: »Heu­te lang­weilt es, Egon Krenz rou­ti­niert als Witz­fi­gur abzu­tun.« Aber Lan­ge­wei­le und Rou­ti­ne wer­den den­noch wei­ter im west­deut­schen Feuil­le­ton gepflegt – so etwa in der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zei­tung jüngst am 1. Novem­ber, dem Auf­takt­mo­nat zur Kar­ne­vals­zeit. Ste­fan Locke befand in einer Bespre­chung des ersten Ban­des der Erin­ne­run­gen des letz­ten SED-Gene­ral­se­kre­tärs und ein­sti­gen Staats­ober­haup­tes der DDR: »Statt in der Abtei­lung Zeit­ge­schich­te wäre die­ses Buch des­halb bes­ser in der Rubrik Mär­chen auf­ge­ho­ben.« Nun ist es durch­aus statt­haft, den 85-jäh­ri­gen Autor und sei­ne Memoi­ren auch kri­tisch zu sehen. Doch zwi­schen alber­ner Dif­fa­mie­rung und sach­li­cher Kri­tik liegt kein schma­ler, son­dern ein ziem­lich brei­ter Grat. Und wenn man sich für die eine Sei­te ent­schei­det, erfolgt dies in vol­lem Bewusst­sein und mit Absicht.

Sie grün­det auf einer kei­nes­wegs sin­gu­lä­ren Über­zeu­gung. Inso­fern ist es eben nicht Zufall, wenn Ost­deut­sche mit Häme über­zo­gen und der Lächer­lich­keit preis­ge­ge­ben wer­den. Davor schützt sie nicht ein­mal die Her­kunft. Ellen Brom­ba­cher – ande­res Bei­spiel – kommt aus einer Fami­lie, die allein vier­zig Ange­hö­ri­ge im Holo­caust ver­lor. Dar­über berich­te­te sie in einem unlängst erschie­ne­nen Buch (»Deutsch-jüdi­sches Fami­li­en­bild. Mei­ne Kind­heits­mu­ster und Prä­gun­gen«). Der Spie­gel schlen­der­te in Gestalt von Timo Leh­mann mit ihr über den Alex­an­der­platz und schick­te sie in Nr. 44/​2022 ins Pan­op­ti­kum: »Ihre Sicht auf den Alex­an­der­platz steht stell­ver­tre­tend für ihre Sicht auf die DDR und deren Ende: Frü­her war es bes­ser. Auch das meint sie ernst.« Sodann amü­siert und ekelt der »Jour­na­list« sich glei­cher­ma­ßen, dass sie sich für ihre Begeg­nung ein Fast­food-Restau­rant »aus­ge­sucht« habe, »aus­ge­rech­net«. Die wohl in der Wahl der Restau­ra­ti­on unbe­darf­te Brom­ba­cher hat­te die­sen Laden ein­zig des­halb vor­ge­schla­gen, weil er leer war und dar­um die not­wen­di­ge Ruhe für ein ernst­haf­tes Gespräch zu bie­ten schien. Was zu füh­ren aber nicht die Absicht des Repor­ters war. »Die Kom­mu­ni­stin setzt sich, lässt ihre schwar­ze Leder­jacke an, bestellt einen Kakao (›Aber bit­te ohne Sah­ne!‹), schiebt ihr Haar zur Sei­te.« So vie­le Signa­le und Chif­fren in weni­gen Zei­len, das ist die gro­ße Kunst der Ent­hül­lung. Am Ende tri­um­phiert erwar­tungs­ge­mäß der inve­sti­ga­ti­ve Dra­chen­tö­ter Leh­mann: »Brom­ba­cher, das muss man sich klar­ma­chen, ist eine Verfassungsfeindin.«

Eine Jüdin eine Ver­fas­sungs­fein­din, soso. Ist das schon Antisemitismus?

Brom­ba­cher ist auch Kom­mu­ni­stin. Naja dann.

Sie ist in Wahr­heit das Gegen­teil einer Ver­fas­sungs­fein­din. Brom­ba­cher steht näm­lich erklär­ter­ma­ßen in der Tra­di­ti­on des ein­sti­gen KPD-Vor­sit­zen­den und Bun­des­tags­frak­ti­ons­vor­sit­zen­den Max Rei­mann, der bei der Annah­me des Grund­ge­set­zes erklärt hat­te: »Wir unter­schrei­ben nicht. Es wird jedoch der Tag kom­men, da wir Kom­mu­ni­sten die­ses Grund­ge­setz gegen die ver­tei­di­gen wer­den, die es ange­nom­men haben!«

Leh­mann wird Rei­mann ver­mut­lich nicht ken­nen (und so kom­plex gewiss auch nicht den­ken), wohl aber wis­sen, dass deut­sche Rich­ter sehr fein zwi­schen Tat­sa­chen­be­haup­tung und sub­jek­ti­ver Wer­tung zu unter­schei­den ver­mö­gen. Des­halb kann man als Jour­na­list leicht öffent­lich und unwi­der­spro­chen denun­zie­ren, zumal das Beschrei­ten des Rechts­wegs teu­er ist und vor Kla­ge schützt.

In west­deut­schen Redak­ti­ons­stu­ben scheint ein Denk­mu­ster vor­zu­herr­schen, wie ein Zeu­ge irri­tiert bemerk­te. Man rieb sich erfreut die Hän­de, als bei den letz­ten Wah­len die Zustim­mung für die AfD im Osten sank – aber nicht, weil die Ost­deut­schen über­leg­ter (oder gar nicht) wähl­ten, son­dern weil man nun weni­ger aus und über den Osten berich­ten müs­se, wie man sich unter­ein­an­der ver­si­cher­te. Weil die AfD dort – angeb­lich – also im Schwin­den ist, gibt es nichts, wor­über man dort berich­ten müs­se oder könne.

Wahr­haf­tig­keit, der Umgang mit der Wahr­heit, ist wahr­lich ein schwin­den­des Gut.

Ein drit­tes Bei­spiel für den respekt­lo­sen, wohl aber exem­pla­ri­schen Umgang mit Ost­deut­schen liegt zwar zehn Jah­re zurück, wur­de durch eine Per­so­na­lie jedoch jüngst wie­der erinnert.

Der NDR strahl­te 2012 einen neun­zig­mi­nü­ti­gen Doku­men­tar­film über Mar­got Hon­ecker aus und rühm­te sich bun­des­weit eines jour­na­li­sti­schen Coups – die FAZ etwa brach­te damals eine gan­ze Sei­te –, der, was man ver­schwieg, ein­zig des­halb gelun­gen war, dass sich ein Fil­me­ma­cher unter fal­scher Flag­ge in das Haus der bis dato schweig­sa­men »Dik­ta­to­ren-Wit­we« in Sant­ia­go de Chi­le ein­ge­schli­chen hat­te. Es lag aller­dings dem Sen­der nach­weis­lich kei­ne schrift­li­che Zustim­mungs­er­klä­rung vor, die jede und jeder bei Film- und Fern­seh­auf­nah­men unter­zeich­nen muss, wenn sie oder er das Gesicht in die Kame­ra hält. Wenn die­se Zustim­mung fehlt, darf man nicht sen­den. Die Ham­bur­ger Sen­de­an­stalt reagier­te auf ent­spre­chen­de Vor­hal­tun­gen mit einer Pres­se­er­klä­rung: »Dem NDR liegt eine unein­ge­schränk­te, von Mar­got Hon­ecker unter­zeich­ne­te Ein­ver­ständ­nis­er­klä­rung zur Ver­öf­fent­li­chung der Inter­views vor.«

Das war, wie Mar­got Hon­ecker wie­der­holt bekun­de­te, eine Lüge. Sie hat­te dies­be­züg­lich »weder eine schrift­li­che noch eine münd­li­che Erklä­rung« abge­ge­ben. Und wenn sie »um eine sol­che gebe­ten wor­den wäre«, hät­te sie die­se »mit aller Ent­schie­den­heit ver­wei­gert« (Mail vom 11. April 2012 an mich).

Die NDR-Lüge hat­te die Lei­te­rin des Pro­gramm­be­reichs Kul­tur und Dokumentation/​Fernsehen abge­ge­ben. Sie wur­de spä­ter Inten­dan­tin des RBB. Ihr Name, Sie ahnen es bereits: Patri­cia Schlesinger.

Sie muss­te unlängst ihren Hut neh­men – aller­dings aus ande­ren Grün­den, die sich aber wohl aus der glei­chen Quel­le spei­sten: Anma­ßung, Selbst­über­he­bung, Rea­li­täts­ver­lust und Vor­ur­tei­le. Aus die­ser Quel­le trinkt jedoch nicht nur sie.

So erklärt sich am Ende auch der arro­gan­te, wür­de­lo­se Umgang mit Kohl­h­aa­se, Krenz, Brom­ba­cher, Hon­ecker und ande­ren Lands­leu­ten, die den größ­ten Teil ihres Lebens im Osten zubrach­ten und sich dafür nicht schämten.