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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Sind wir alle nur Parias?

Mir ist das Wort »Paria« schon hin und wie­der begeg­net, aber ich habe mich nicht ein­ge­hen­der mit sei­ner Bedeu­tung befasst. Vor kur­zem habe ich doch ein­mal gegoo­gelt, und da ist es mir wie Schup­pen von den Augen gefal­len: Wir leben in einer hier­ar­chi­schen Welt von Pari­as! Wir sind mehr­heit­lich Pari­as. Das Wort kommt ursprüng­lich aus dem Indi­schen und bezeich­net dort die »nied­rig­ste Kaste«. Im über­tra­ge­nen Sinn aber bedeu­tet es: Geäch­te­te, außer­halb der Rechts­ord­nung Ste­hen­de, Ent­rech­te­te, Außen­ste­hen­de, wie etwa Juden, Schwar­ze, Frau­en, Schau­spie­ler, Sol­da­ten, aber auch Aus­ge­sto­ße­ne, Out­si­der, Freaks, Min­der­hei­ten, Non­kon­for­mi­sten, Marginalisierte.

Das Wort ist jedoch dop­pel­bö­dig. Das Verb »parie­ren« bedeu­tet einer­seits: gehor­chen, Fol­ge lei­sten, sich beu­gen; ander­seits: kämp­fen, angrei­fen, fech­ten, abweh­ren, dirigieren.

Nur das Sub­stan­tiv ist ein­deu­tig nega­tiv besetzt. So könn­te man sagen, dass etwa die Ver­ächt­lich­ma­chung der DDR, als »tota­li­tä­rer Unrechts­staat«, als »2. Deut­sche Dik­ta­tur«, als »Sta­si­staat« usw., dazu bei­trägt, Men­schen mit einer DDR-Bio­gra­fie zu »Deut­schen zwei­ter oder drit­ter Klas­se« zu deklas­sie­ren, sie also zu Pari­as der Bun­des­re­pu­blik zu machen. Beson­ders krass fiel mir das nach 1990 bei der offi­ziö­sen Behand­lung des The­mas »Juden in der DDR« auf. Obwohl sie in der DDR, nach mei­nen jah­re­lan­gen Recher­chen (sie­he mein Buch »Jüdisch & Links. Erin­ne­run­gen 1921-2021. Zum Kul­tur­er­be der DDR«, Ber­lin, 2022), nach 1945 »den Kern einer lin­ken Par­tei­in­tel­li­genz« bil­de­ten und sich mehr­heit­lich, pro und kon­tra, in die schwie­ri­ge DDR-Geschich­te kri­tisch ein­misch­ten, wird den­noch im Main­stream wahr­heits­wid­rig behaup­tet, dass sie über­wie­gend unter Anti­se­mi­tis­mus zu lei­den hat­ten, nur von mar­gi­na­ler Bedeu­tung für die DDR-Geschich­te waren oder sich über­wie­gend instru­men­ta­li­sie­ren lie­ßen. Merk­wür­dig dabei ist, dass ich mich in der DDR, trotz mei­ner Par­tei­lo­sig­keit und Non­kon­for­mi­tät, nicht als »Aus­ge­sto­ße­ner«, son­dern im Gegen­teil als »Geach­te­ter« gefühlt habe. Erst nach 1990 haben sich die mei­sten von uns, aus jüdi­schen Fami­li­en kom­mend, plötz­lich als Paria emp­fun­den, als »Out­si­der«, als »Geäch­te­te«, beson­ders wenn wir den lin­ken Idea­len treu geblie­ben sind. Ich weiß zugleich, dass es Mil­lio­nen von nicht­jü­di­schen DDR-Bür­gern – Arbei­tern, Bau­ern, Ange­stell­ten, Kul­tur­schaf­fen­den – auch so ging, wenn sie ihre Arbeit ver­lo­ren und sich den kapi­ta­li­sti­schen Arbeits- und Wohn­ver­hält­nis­sen, den poli­ti­schen Ver­hält­nis­sen, meist schmerz­haft und oft ziem­lich ohn­mäch­tig, unter­ord­nen muss­ten, d. h. zu parie­ren hat­ten. Das alles trifft auch auf die über­wie­gen­de Mehr­heit der west­deut­schen Bun­des­bür­ger zu, für die Anpas­sung an die­se Ver­hält­nis­se längst zur »Nor­ma­li­tät« gewor­den ist.

Aber auch außen­po­li­tisch habe ich, mehr und mehr, die Über­zeu­gung gewon­nen, dass die Ange­hö­ri­gen der poli­ti­schen Klas­se hier­zu­lan­de Pari­as der US-Regie­run­gen sind und dass der Ampel­re­gie­rung dabei auch noch das bür­ger­lich-kon­ser­va­ti­ve Lager im Nacken sitzt. So beu­gen sie sich dem Kriegs­kurs der in den USA Herr­schen­den, nicht nur in der Ukrai­ne, son­dern schon seit dem Jugo­sla­wi­en­krieg. Sie begrei­fen dabei nicht, dass auch die ukrai­ni­schen und rus­si­schen Herr­scher Pari­as der USA und ihrer Nato-Ver­bün­de­ten sind, die nach dem Prin­zip »Tei­le und Herr­sche« die­se Regie­run­gen gegen­ein­an­der­het­zen, um ihren eige­nen Herr­schafts­an­spruch durch­zu­set­zen. Herr Scholz tut dabei so, als ob er hin und wie­der zöger­lich sei, aber er möch­te sich nur mit den USA und den Ver­bün­de­ten abstim­men, um sich in ihre Kriegs­stra­te­gie bes­ser zu inte­grie­ren, ihr also unter­tä­nig zu fol­gen! Anstatt selbst­be­wusst »Nein!« zu die­ser Kriegs­trei­be­rei zu sagen, um auf eine Ver­hand­lungs­lö­sung zu set­zen und nicht auf einen illu­sio­nä­ren »Sieg­frie­den« durch immer neue Waf­fen­lie­fe­run­gen, Tau­sen­de Tote auf allen Sei­ten und end­lo­se Bela­stun­gen auch für die deut­sche Bevölkerung.

Aber selbst in den USA ist die angeb­lich demo­kra­ti­sche Biden-Regie­rung ein Paria, weil ihnen auch dort die erz­kon­ser­va­ti­ven und rech­ten Repu­bli­ka­ner im Nacken sit­zen, die noch bru­ta­ler ihre Kapi­tal­in­ter­es­sen mit ihrer natio­na­li­sti­schen Ideo­lo­gie durch­set­zen wol­len, wie es Trump an der Spit­ze bereits bewie­sen hat.

Lei­der machen auch die Herr­schen­den in Isra­el seit jeher sowohl die jüdi­schen Israe­lis und noch mehr die Palä­sti­nen­ser zu Pari­as. Bei­de Völ­ker haben sich einem krie­ge­ri­schen Kon­fron­ta­ti­ons­kurs zu beu­gen, der angeb­lich Frie­den brin­gen soll, aber, wie in der Ukrai­ne und anders­wo, das genaue Gegen­teil davon bewirkt.

Dies alles ist kei­ne »Ver­schwö­rung«, wirft aller­dings die Fra­ge auf, wer von die­ser Paria-Poli­tik am mei­sten pro­fi­tiert. Die Ant­wort ist klar: Es sind die­je­ni­gen, die am Rüstungs- und Ener­gie­markt beson­ders gut ver­die­nen, denen ihre Wachs­tums- und Pro­fit-Raten viel wich­ti­ger sind als die Bekämp­fung des welt­wei­ten sozia­le Elends und der öko­lo­gi­schen Krise.

Aber gibt es einen Aus­weg aus die­sem glo­ba­len, selt­sam zwang­haf­ten Phä­no­men? Ja, denn wie gesagt: Parie­ren heißt auch fech­ten, kämp­fen, pro­te­stie­ren, abweh­ren! Es ist der ein­zi­ge, wenn auch schreck­lich zähe Weg, wie die welt­wei­ten Pro­test­be­we­gun­gen und sozia­len Kämp­fe seit dem 19. Jahr­hun­dert ein­drucks­voll bewei­sen: die Bewe­gun­gen gegen Armut und Unter­drückung, gegen Frem­den­hass, gegen Frau­en­feind­lich­keit, Kli­ma­kri­se, gegen den Kapi­ta­lis­mus und gegen sei­ne impe­ria­len Krie­ge, die alle Völ­ker zu Pari­as zu kolo­nia­li­sie­ren ver­su­chen, um ihnen ihre Gesell­schafts­ord­nung aufzuzwingen.

Doch die­se welt­wei­ten Wider­stands­be­we­gun­gen kön­nen nur eine befrei­en­de Wir­kung zei­gen, wenn sie nicht aus (anar­chi­sti­schen) Ein­zel­kämp­fern bestehen, son­dern wenn sich dar­an, soli­da­risch, so vie­le Men­schen wie nur irgend mög­lich betei­li­gen. Umso mehr Men­schen dies tun, umso wir­kungs­vol­ler kön­nen die­se Kämp­fe sein, und sie sind nie zu Ende! Denn auch die ande­re Sei­te ver­sucht zu parie­ren, um sich gegen die Ein­schrän­kung ihrer Inter­es­sen zugun­sten des Gemein­wohls mas­siv zu weh­ren und ihre Paria-Herr­schaft auf­recht­zu­er­hal­ten. Lei­der sind sie bis­her von über­mäch­ti­ger Kraft, wenn es uns nicht gelingt, end­lich eine star­ke, soli­da­ri­sche Anti­kriegs­be­we­gung und eine sozi­al gerech­te Kli­ma­ret­tungs­front zu bil­den, die Mensch und Natur aus ihrem Objekt­sta­tus befreit und zu Sub­jek­ten einer gedeih­li­chen Ent­wick­lung für alle macht. Nichts weni­ger als das huma­ne Über­le­ben auf die­ser Erde steht dabei auf dem Spiel.