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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Sisyphus in China

Wie ver­lie­fen all die Skan­da­le, wer erin­nert sich noch an die Affä­ren um Steu­er­gel­der oder ver­un­treu­te Wahl­gel­der, in die hoch­ran­gi­ge Poli­ti­ker oder Funk­tio­nä­re ver­strickt waren? Selbst ein aktu­el­ler Cum-Ex- oder Wire­card-Skan­dal kann nichts dar­an ändern: Sie blei­ben unbe­rühr­bar, oder mäch­ti­ge Schutz­en­gel las­sen sie weich­ge­pol­stert lan­den. Es bedürf­te eines Sisy­phus in der bür­ger­li­chen Justiz, um hier etwas zu ändern. Sisy­phus – in der grie­chi­schen Mytho­lo­gie ver­ur­teilt, immer wie­der uner­müd­lich einen schwe­ren Fel­sen berg­wärts zu schleppen.

In Chi­na ist Sisy­phus am Werk, in einem gewähl­ten Kol­lek­tiv. Dort heißt Sisy­phus Cen­tral Com­mis­si­on for Disci­pli­ne Inspec­tion, CCDI; die Behör­de zur Bekämp­fung der Kor­rup­ti­on wird unter­stützt durch Whist­le­b­lower, die durch ein Whist­le­b­lower-Gesetz aus dem Jah­re 2015 ermu­tigt wer­den, auch in Par­tei- und Gewerk­schafts­grup­pen von Unternehmen.

»Die Tiger ein­sper­ren, die Flie­gen ver­scheu­chen«, die­ses Mot­to gab der chi­ne­si­sche Prä­si­dent Xi Jin­ping 2012 zur Eröff­nung der Kam­pa­gne gegen Kor­rup­ti­on aus – eine Ent­spre­chung des deut­schen Sprich­worts: »Der Fisch stinkt vom Kopf her.« Daher galt es, in der füh­ren­den Par­tei auf­zu­räu­men: Die Kam­pa­gne war beglei­tet durch eine Ände­rung des Par­tei­sta­tuts, das per­sön­li­che Ver­hal­ten betref­fend: Acht Punk­te wur­den auf­ge­nom­men, um »Büro­kra­tie, Ver­schwen­dung und Extra­va­ganz aus­zu­rot­ten«. In der Fol­ge san­ken die öffent­li­chen Aus­ga­ben der Zen­tral­re­gie­rung um 35 Pro­zent. Dienst­wa­gen und Aus­lands­rei­sen wur­den auf das abso­lut Not­wen­di­ge beschränkt, Luxus­ge­schen­ke von Vuit­ton, Cha­nel, Guc­ci und ande­ren gestri­chen – 2014 brach der Umsatz von Her­mes in Chi­na deut­lich ein, eben­so der von Luxus­re­stau­rants. Die Ände­rung des Par­tei­sta­tuts beinhal­te­te auch stren­ge­re Auf­nah­me­be­din­gun­gen. Bis 2017 sta­gnier­te die Zahl der Par­tei­mit­glie­der; erst 2017, nach der erfolg­rei­chen Bilanz der Anti­kor­rup­ti­ons-Kam­pa­gne wur­den zwei Mil­lio­nen neue Mit­glie­der auf­ge­nom­men, über 80 Pro­zent unter 35 Jah­ren, 50 Pro­zent in der Pro­duk­ti­on tätig. Die Kom­mu­ni­sti­sche Par­tei Chi­nas (KPCh) zähl­te damit 89,5 Mil­lio­nen Mit­glie­der in 4,57 Mil­lio­nen Basisgruppen.

2017 mach­te Sisy­phus eine kur­ze Ver­schnauf­pau­se mit einer Zwi­schen­bi­lanz: Von den Par­tei­ge­nos­sen wur­den seit 2012 über ein­ein­halb Mil­lio­nen, in offi­zi­el­len Funk­tio­nen beschäf­tigt, bestraft, dar­un­ter 440 Top-Mana­ger und 43 Mit­glie­der des Zen­tral­ko­mi­tees. Allein im Jahr 2016 haben sich 57.000 KPCh-Mit­glie­der selbst ange­zeigt, um eine nied­ri­ge­re Stra­fe zu bekommen.

Folg­ten 2013 auf 52,2 Pro­zent der Ermitt­lun­gen auch Bestra­fun­gen, ging die­se Quo­te 2017 auf 3,77 Pro­zent der Fäl­le zurück, ein Beweis für die Effi­zi­enz der Unter­su­chun­gen, aber auch für die Dring­lich­keit und die Not­wen­dig­keit per­ma­nen­ter Wach­sam­keit. Schließ­lich wer­den damit die Aus­wüch­se bour­geoi­sen Ver­hal­tens ver­folgt, und die syste­mi­schen Fol­gen der kapi­ta­li­sti­schen Öff­nung, der Her­aus­bil­dung einer bour­geoi­sen, nach Pro­fit stre­ben­den Klas­se wer­den der poli­ti­schen Füh­rung der KPCh unterworfen.

Bis Juni 2020 wur­den 7831 Flüch­ti­ge (dar­un­ter 2075 Par­tei­ge­nos­sen und Regie­rungs­mit­ar­bei­ter) aus mehr als 90 Län­dern aus­ge­lie­fert, dar­un­ter 348 von Inter­pol gesuch­te Wirt­schafts­ver­bre­cher. Etwa 2,8 Mil­li­ar­den US-Dol­lar konn­ten an ver­un­treu­tem Ver­mö­gen zurück­ge­führt wer­den, berich­te­te das chi­ne­si­sche Wirt­schafts­ma­ga­zin Cai­xin Glo­bal am 11. August.

Dass Sisy­phus nicht bereit ist nach­zu­las­sen, zeigt auch die Offen­heit, in der über Ver­feh­lun­gen und Ver­ur­tei­lun­gen in den chi­ne­si­schen Medi­en berich­tet wird. Seit Som­mer 2019 befin­den sich in mei­nem per­sön­li­chen Archiv über 100 Arti­kel. Her­aus­ra­gend der Ban­ken­sek­tor in Shang­hai, der durch einen Bestechungs­skan­dal erschüt­tert wird. Allein in der ver­gan­ge­nen Woche waren meh­re­re Inhaf­tie­run­gen in den Schlag­zei­len: Cai­xin Glo­bal mel­de­te am 15. Sep­tem­ber, der größ­te Fisch sei mit Zhou Wen­jie ins Netz gegan­gen, er ist Vize-Chef von der Shang­hai­er Zweig­stel­le der Ban­ken- und Ver­si­che­rungs-Auf­sichts­be­hör­de CBIRC. Min­de­stens fünf wei­te­re Top-Bank­ma­na­ger sind in die Affä­re ver­wickelt, auf­ge­deckt im Zusam­men­hang mit der Ver­haf­tung des frü­he­ren Chefs der natio­na­len Bör­sen-Auf­sicht (CSRC), Liu Shi­yu, vor einem Jahr. Der hat­te gestän­dig eine min­der­schwe­re Stra­fe bekom­men, er hat­te Ver­wand­ten bei ille­ga­len Geschäf­ten gehol­fen und dazu Geschen­ke angenommen.

 

Geor­ges Hal­ler­may­er, Jahr­gang 1946, pen­delt seit 30 Jah­ren zwi­schen Frank­reich und Deutsch­land. Histo­ri­ker, Dozent und stell­ver­tre­ten­der Cen­trums­lei­ter bei den Carl-Duis­berg-Cen­tren. Vie­le Jah­re Betriebs­rat und Mit­glied im GEW-Lan­des­vor­stand Saar.