Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Stöckchen-Springen

Seit Ende Febru­ar ver­geht kein Tag ohne Refle­xio­nen zur Ukrai­ne; die »Band­brei­te« (vom krie­ge­ri­schen Main­stream bis zu den – schein­bar uner­wünsch­ten – ana­ly­ti­schen Betrach­tun­gen) ist enorm; kaum ein ande­res The­ma wird noch medi­al wahr­ge­nom­men. In den mei­sten Bei­trä­gen fehlt jedoch eine Sicht­wei­se, die schon seit der grie­chi­schen Anti­ke bedeut­sam war: Höre bei­de Sei­ten! Nein, das gibt es im Main­stream nicht mehr – alles »schießt« sich auf Russ­land ein! Dies ist jedoch nicht erst seit dem 24. Febru­ar so. Wer sich die Sen­dun­gen der Deut­schen Wel­le aus Mos­kau in den Mona­ten davor ange­se­hen oder die Kom­men­ta­re auf die rus­si­schen For­de­run­gen zu Minsk II und einer euro­päi­schen Gesamt-Frie­dens­ord­nung wahr­ge­nom­men hat, kann unschwer erken­nen: Die media­len Attacken lau­fen schon lan­ge – eigent­lich schon seit Beginn des Kal­ten Krie­ges nach 1945.

Klar: Das Groß­ka­pi­tal hat­te kei­nen Zugriff auf einen Teil der Welt­wirt­schaft. In ande­ren Gebie­ten klapp­te das viel bes­ser: Die Kon­zes­sio­nen für den Roh­stoff­ab­bau in Latein­ame­ri­ka wur­den von will­fäh­ri­gen Regie­run­gen umge­hend erteilt, eben­so die Bewirt­schaf­tung aus­ge­dehn­ter Län­de­rei­en (u. a. Rin­der­far­men für McDo­nalds auf abge­holz­tem Regen­wald-Boden). In West- und Zen­tral­afri­ka wer­den sel­te­ne Boden­schät­ze eben­so wie Erd­öl von den Welt­markt­füh­rern dan­kend ver­ein­nahmt. Das ging im Osten nicht – von Mag­de­burg bis Shang­hai war der Zugriff verwehrt.

Mitt­ler­wei­le ist dies anders: Auch in Russ­land hat sich die kapi­ta­li­sti­sche Pro­duk­ti­on eta­bliert, auch hier gibt es das Groß­ka­pi­tal, machen Super­rei­che rie­si­ge Gewin­ne (wie die Her­ren Buf­fett und Sor­os auch). Aber war­um wird Russ­land trotz­dem immer noch als »das Böse schlecht­hin« dar­ge­stellt? War­um wirft West­eu­ro­pa mit Stei­nen, obwohl es im (Gas- und Öl-)Glashaus sitzt? Wie kann der poli­ti­sche Main­stream vom »Ver­nich­ten« spre­chen, wenn von Russ­land die Rede ist?

Betrach­tet man die Wirt­schafts­ge­bie­te, die von dem »Wer­te-Westen« mit Sank­tio­nen belegt wer­den, sind dies weni­ger die Län­der, die mit den USA im poli­ti­schen »Gleich­schritt« mar­schie­ren, son­dern haupt­säch­lich die Unbot­mä­ßi­gen. Wer kann das sein? Ganz oben steht natür­lich das klei­ne, aber gefähr­li­che Kuba – ein Affront und Gegen­pol direkt vor der US-Küste! Eben­so gehö­ren dazu z. B. Russ­land, Bel­o­russ­land und Chi­na (die Sank­tio­nen gegen EU-Län­der wir­ken dage­gen wie eine Trump’sche Fehl­lei­stung). Die Letzt­ge­nann­ten sind flä­chen­mä­ßig und wirt­schaft­lich nicht gera­de Leicht­ge­wich­te: In Bel­o­russ­land wird ein Groß­teil des welt­wei­ten Dün­gers pro­du­ziert, Russ­land ist einer der Ener­gie­lie­fe­ran­ten welt­weit, und Chi­na ist vom Mas­sen­pro­duk­ti­ons-Stand­ort zum Tech­no­lo­gie-Rie­sen auf­ge­stie­gen. Mit allen die­sen Län­dern wird welt­weit koope­riert, Han­del getrie­ben und Tech­no­lo­gie aus­ge­tauscht – aber immer mit arro­gan­ter Atti­tü­de, Ver­weis auf Men­schen­rech­te und Sank­ti­ons­dro­hun­gen. Dabei haben gera­de die USA hier schwe­re eige­ne Pro­ble­me – sie­he Guan­ta­na­mo und die Black-Lives-Mat­ter-Situa­ti­on, von den exter­ri­to­ria­len Beset­zun­gen im Nahen Osten ganz zu schweigen.

Könn­te es eine ganz ande­re Ursa­che haben, dass die genann­ten Staa­ten vom Wer­te-Westen ange­fein­det wer­den? Viel­leicht ist hier­bei ein ganz ande­rer Zusam­men­hang ent­schei­dend? Mehr­fach hört man von den aktu­el­len Kon­fron­ta­ti­ons-Sprach­roh­ren sol­che Rede­wen­dun­gen wie: »Jedes impor­tier­te Gramm Öl bringt Geld in die Kas­sen des Kremls«, aus FDP-Krei­sen auch den Begriff »syste­mi­scher Kon­flikt mit Russ­land«. Ja, es stimmt: Die Wirt­schafts­lei­stung in Russ­land wird zu ca. 70 Pro­zent von staat­li­chen Betrie­ben erbracht, das heißt, deren Gewin­ne kom­men der Regie­rung zugu­te. In Bel­o­russ­land beläuft sich der staat­li­che Sek­tor auf einen Wert um die 90 Pro­zent des Wirt­schafts­um­fangs. In Chi­na ist die Regu­lie­rung der Wirt­schaft fest in staat­li­cher Hand. Der Umkehr­schluss: Das pri­va­te Kapi­tal kann nicht so schal­ten und wal­ten, wie es möch­te; die Gewin­ne flie­ßen nicht völ­lig in die Taschen der rei­chen Ober­schicht; ihre Ein­fluss­nah­me auf Poli­tik und Gesell­schaft ist stark beschnit­ten. Lässt sich das Groß­ka­pi­tal sowas gern gefal­len? Hat es nicht oft genug bewie­sen, dass es dage­gen mit radi­kal­sten Mit­teln Sturm läuft – manch­mal mit bra­chia­len Mit­teln, manch­mal mit blan­ken Ent­eig­nun­gen (ähn­lich den Treuhand-»Vergaben« des DDR-Volks­ver­mö­gens). Denn die Gewin­ne in pri­va­ten Hän­den ermög­li­chen erst so rich­tig das Spie­len mit dem Geld – ob für ris­kan­te Bör­sen­ge­schäf­te oder Cum-Ex-Tricksereien.

Der Zugriff auf die rie­si­gen rus­si­schen Vor­kom­men kann nicht auf die glei­che Wei­se erfol­gen– dafür wird dann auch schon mal ein Krieg ris­kiert oder pro­vo­ziert. Wenn der dann noch weit­ab von dem Haupt­in­itia­tor – den USA – abläuft, umso bes­ser. Aber die­ser Kon­flikt läuft qua­si haut­nah in Euro­pa ab – muss man dann wirk­lich über jedes Stöck­chen der »Vasal­len­treue« sprin­gen? Mit­tel- und West­eu­ro­pa sind nur einen mili­tär­tech­ni­schen »Wim­pern­schlag« von den Kriegs­hand­lun­gen ent­fernt ist; man soll­te also vor­sich­ti­ger agie­ren. Aber das Gemisch aus Lakai­en­treue, Rus­so­pho­bie und sicher auch per­sön­li­cher Pro­fi­lie­rung lässt anschei­nend nicht viel Spiel­raum für ratio­na­le und diplo­ma­ti­sche Abwä­gun­gen. Denn wenn ich heu­te Unmen­gen von Waf­fen in die Ukrai­ne schicke – kann es dann künf­tig über­haupt noch diplo­ma­ti­sche Kanä­le zu Russ­land geben, etwa mit Frau Baerbock?

Aber auch hier­zu­lan­de bringt die poli­ti­sche Kon­fron­ta­ti­on in kür­ze­ster Zeit enor­me Fol­gen: Wenn die Ener­gie-Impor­te aus Russ­land gekappt wer­den – wer erklärt in einem hal­ben Jahr unse­ren Men­schen, dass jedes Quan­tum Wär­me bru­tal ver­teu­ert wird? Dazu kom­men noch die 100 Mil­li­ar­den für die Rüstung – was wird ihnen fol­gen: erst­mal ein rie­si­ges Man­ko in den Staats­fi­nan­zen, danach das Ster­ben von Uni­ver­si­tä­ten und For­schungs­la­bors, maro­de Schu­len, Leh­rer­man­gel, Kul­tur­ster­ben, kaput­te Auto­bah­nen? Die Bun­des­re­gie­rung will anschei­nend die von der Ukrai­ne »bestell­ten« Gepard-Pan­zer dann auch noch bezah­len (sie­he Aus­sa­gen beim Ramm­stein-Tref­fen) – wie wirkt sich das auf die Haus­halts­bi­lanz aus? Augen­schein­lich will man sich lie­ber auch von einem Staat, der wegen sei­ner Kor­rup­ti­on nicht EU-wür­dig war, auch jedes Stöck­chen hin­hal­ten las­sen, um drü­ber sprin­gen zu können.