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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Tiefer Fall führt oft zu höherem Glück

Vie­le Pas­sa­gen aus Shake­speares Wer­ken sind geflü­gel­te Wor­te – dazu gehört auch das über den tie­fen Fall aus »Cym­be­li­ne«. Einen tie­fen Fall erlebt gera­de das Ver­ei­nig­te König­reich, in des­sen einst so mäch­ti­gem Eng­land der Dra­ma­ti­ker, Lyri­ker und Schau­spie­ler Wil­liam Shake­speare Ende des 16./Anfang des 17. Jahr­hun­derts die bedeu­tend­sten Büh­nen­stücke der Welt­li­te­ra­tur schrieb. Ob der tie­fe Fall aller­dings – wie so oft – zu einem »höhe­rem Glück« führt, ist noch längst nicht aus­ge­macht. Selbst dann nicht, wenn das Anfang Juni von Donald Trump den Bri­ten in Aus­sicht gestell­te lukra­ti­ve Han­dels­ab­kom­men mit den USA in abseh­ba­rer Zeit zustan­de kom­men sollte.

Der Mai war in poli­ti­scher Hin­sicht so etwas wie ein Won­ne­mo­nat für zwei bri­ti­sche Par­tei­en, die in den ver­gan­ge­nen Jah­ren so gut wie kei­ne Rol­le spiel­ten, die Libe­ral Demo­crats (LibDems) und die Green Par­ty, sowie für die neu­ge­grün­de­te Brexit Par­ty von Nigel Fara­ge. Das zeig­te sich schon bei der Kom­mu­nal­wahl am 2. Mai (an der die Brexit Par­ty nicht teil­nahm), als die Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler der Regie­rungs- und füh­ren­den Oppo­si­ti­ons­par­tei die Quit­tung für ihren ver­fah­re­nen Brexit-Kurs ver­pass­ten. Die Con­ser­va­ti­ve Par­ty ver­lor weit mehr als tau­send Sit­ze und zugleich die Kon­trol­le über zahl­rei­che Bezirks­ver­wal­tun­gen, der Labour Par­ty erging es nicht wesent­lich bes­ser. Die LibDems und die Greens sowie erst­mals auch zahl­rei­che unab­hän­gi­ge Kan­di­da­ten pro­fi­tier­ten von der Schwä­che der bei­den Volks­par­tei­en enorm und erhiel­ten mehr Stim­men und Ein­fluss als je zuvor. Die neue Brexit Par­ty wie­der­um zeig­te bei der im Ver­ei­nig­ten König­reich man­gels Brexit-Voll­zugs not­wen­di­gen Wahl zum EU-Par­la­ment, was eine uni­ons­feind­li­che Har­ke ist: Sie errang auf Anhieb 29 der den Bri­ten zuste­hen­den 73 Sit­ze. Erneut büß­ten die im Brexit-Cha­os ver­fan­ge­nen alten Volks­par­tei­en mas­siv an Ein­fluss ein – Labour erhielt ledig­lich zehn und die Tories sogar nur vier Sit­ze – für sie war es das schlech­te­ste Wahl­er­geb­nis seit 1832. Die von den EU-Befür­wor­tern bevor­zug­ten LibDems erhiel­ten immer­hin 16 und die Greens sie­ben Sit­ze. Übri­gens behält das EU-Par­la­ment wegen der ein­rücken­den bri­ti­schen Abge­ord­ne­ten solan­ge die bis­he­ri­ge Grö­ße von 751 Mit­glie­dern, bis der Brexit voll­zo­gen ist. Danach wird die Zahl der Abge­ord­ne­ten auf 705 begrenzt, wobei 27 der ehe­ma­li­gen bri­ti­schen Sit­ze dann an nicht aus­rei­chend reprä­sen­tier­te Staa­ten wie Frank­reich, Ita­li­en und Spa­ni­en sowie an ein mög­li­ches Neu­mit­glied ver­teilt wer­den sollen.

Für die ohne­hin nur mehr am letz­ten Tropf hän­gen­de bri­ti­sche Pre­mier­mi­ni­ste­rin The­re­sa May ver­lief der Mai ganz und gar nicht won­nig – nach dem Kom­mu­nal­wahl­de­sa­ster ging es ihr bereits schlecht, nach dem Mit­te des Monats erfolg­ten Schei­tern der Gesprä­che mit Oppo­si­ti­ons- und Labour-Chef Jere­my Cor­byn über einen Kom­pro­miss im Brexit-Streit noch schlech­ter, nach der post­wen­den­den Ableh­nung ihres Zehn-Punk­te-Plans, mit dem sie am 21. Mai das Par­la­ment doch noch für ihren zuvor drei­mal abge­wie­se­nen Brexit-Deal gewin­nen woll­te, abso­lut schlecht. Als der Guar­di­an am 23. Mai titel­te: »Bar­ri­ca­ded insi­de No 10, May clings on to power« (Ver­bar­ri­ka­diert in Dow­ning Street Nr. 10 klam­mert sich May an die Macht), schlug gleich­sam ihr letz­tes Stünd­lein an den Schalt­he­beln der Macht. Am 24. Mai ver­kün­de­te sie ihren Rück­tritt als Tory-Par­tei­vor­sit­zen­de mit Wir­kung zum 7. Juni und als Pre­mier­mi­ni­ste­rin sowie Vor­sit­zen­de des Com­mon­wealth of Nati­ons, sobald eine Nach­fol­ge für sie gewählt ist. Wenn nicht alles täuscht, wird Köni­gin Eli­sa­beth einen neu­en Pre­mier­mi­ni­ster im Lau­fe der vier­ten Juli­wo­che ernen­nen. Dazu spä­ter mehr.

The­re­sa May hat – wie zuvor ihr Vor­gän­ger David Came­ron – dem Ver­ei­nig­ten König­reich und der Bevöl­ke­rung durch ihre poli­ti­sche Irr­fahrt einen uner­mess­lich gro­ßen Scha­den zuge­fügt. Bezeich­nend auch, dass wäh­rend ihrer Regie­rungs­zeit mehr Mini­ster und Staats­se­kre­tä­re ihre Ämter nie­der­leg­ten oder ver­lo­ren als unter den Pre­miers der jün­ge­ren Ver­gan­gen­heit. Als letz­te ver­ließ mit der Brexit-Befür­wor­te­rin Andrea Lead­som das 36. Mit­glied die Regie­rung und ver­setz­te The­re­sa May damit qua­si einen zusätz­li­chen Tritt aus dem Amt. (Zur Erin­ne­rung: Lead­som hat­te 2016 für den Vor­sitz der Kon­ser­va­ti­ven Par­tei und das Amt der Pre­mier­mi­ni­ste­rin kan­di­diert und war kurz vor dem Ziel durch ein Inter­view geschei­tert, in dem sie die Kon­kur­ren­tin May wegen ihrer Kin­der­lo­sig­keit ins Zwie­licht zu rücken ver­sucht hatte.)

The­re­sa Mays bereits im Juli 2016 bei der Inau­gu­ra­ti­on gezün­de­te Phra­se »Brexit bedeu­tet Brexit« hat sich als teuf­lisch hohl erwie­sen, ihr nun knapp drei Jah­re spä­ter dem Volk mit­ge­teil­ter Abschieds­spruch fast schon als Segen: »Es ist und wird immer eine Ange­le­gen­heit von tie­fem Bedau­ern für mich sein, dass es mir nicht gelun­gen ist, den Brexit zu voll­zie­hen.« Merk­wür­di­ger­wei­se äußer­te die Pfar­rers­toch­ter kein Bedau­ern über das skan­da­lö­se Ver­feh­len all der groß­spu­ri­gen sozia­len Ver­spre­chun­gen, die sie bei ihrer Antritts­re­de im Juli 2016 gege­ben hat­te. Nicht die Pri­vi­le­gier­ten, son­dern die gesell­schaft­lich Benach­tei­lig­ten wür­den von ihrer »Regie­rung für die gan­ze Nati­on« pro­fi­tie­ren, hat­te sie ver­spro­chen und betont: »Wir müs­sen die schrei­en­de Unge­rech­tig­keit bekämp­fen, dass die bei uns in Armut Gebo­re­nen im Durch­schnitt neun Jah­re frü­her als ande­re ster­ben; dass Schwar­ze vor Gericht här­ter als Wei­ße behan­delt wer­den; dass wei­ße Söh­ne der Arbei­ter­klas­se sel­te­ner als alle ande­ren eine Uni­ver­si­tät besu­chen; dass Kin­der nach dem Besuch von öffent­li­chen Schu­len deut­lich sel­te­ner in Top-Jobs auf­stei­gen als Pri­vat­schü­ler; dass Frau­en weni­ger ver­die­nen als Män­ner; dass für psy­chisch Kran­ke nicht genug Kapa­zi­tä­ten bereit­ste­hen« und so wei­ter. (eige­ne Übersetzung)

Mays sozi­al­po­li­ti­sche Regie­rungs­bi­lanz ist laut For­schungs­er­geb­nis­sen und Stu­di­en diver­ser Insti­tu­tio­nen und Orga­ni­sa­tio­nen ver­hee­rend: Nichts ist bes­ser als zuvor. Was Wun­der, dass bei der Kom­mu­nal­wahl kräf­tig Denk­zet­tel ver­teilt wur­den. In vie­len Dör­fern und Klein­städ­ten erle­ben die Men­schen seit Jah­ren finan­zi­el­le Streichor­gi­en, die im Bil­dungs-, Aus­bil­dungs-, Gesund­heits- und Pfle­ge­sy­stem sowie in vie­len Kul­tur- und Sport­ein­rich­tun­gen zu erheb­li­chen Ver­schlech­te­run­gen geführt haben. Von geschlos­se­nen Biblio­the­ken und Sport­plät­zen ganz zu schwei­gen. Und da nun der von den Tories ganz und von Labour irgend­wie halb ver­spro­che­ne Heils­brin­ger, eben der Brexit, der über Nacht alles zum Bes­se­ren wan­deln soll­te, bis heu­te nicht zustan­de gekom­men ist, sind die hohen Stim­men­ver­lu­ste der bei­den schwind­süch­ti­gen Volks­par­tei­en durch­aus nachvollziehbar.

Der Armuts­for­scher und Nobel­preis­trä­ger Sir Angus Deaton weist bereits vor­sorg­lich dar­auf hin, dass Groß­bri­tan­ni­en in die Gefahr einer extre­men Ungleich­heit bei Ent­loh­nung, Wohl­stand und Gesund­heit gera­te, und fragt poin­tiert: »Funk­tio­niert der demo­kra­ti­sche Kapi­ta­lis­mus wirk­lich, wenn er das ledig­lich für einen Teil der Bevöl­ke­rung tut?« (Guar­di­an 14.5.2019; eige­ne Übers.) Jeden­falls hat die Kom­bi­na­ti­on von Nied­rig­löh­nen, unsi­che­re­ren Arbeits­zei­ten, stei­gen­den Lebens­hal­tungs- und Wohn­ko­sten sowie hef­tig gekürz­ten staat­li­chen Sozi­al­lei­stun­gen die Zahl der »arbei­ten­den Armen« auf den höch­sten Stand seit 20 Jah­ren kata­pul­tiert – mehr als vier Mil­lio­nen Bri­ten leben trotz eines Jobs und trotz der offi­zi­ell gerin­gen Arbeits­lo­sen­quo­te in schrei­en­der Armut. Der gera­de publi­zier­te Report von Human Rights Watch »Not­hing Left in the Cup­boards: Austeri­ty, Wel­fa­re Cuts, and the Right to Food in the UK« wirft der bri­ti­schen Regie­rung vor, immer mehr Men­schen im Lan­de durch ihre grau­sa­me und unso­zia­le Poli­tik nicht vor Hun­ger zu bewah­ren und zudem vie­le Kin­der in die Armut zu stür­zen. Das Ver­ei­nig­te König­reich sei die fünft­größ­te Öko­no­mie der Welt, unter­streicht Kar­tik Raj, der Ver­fas­ser der Stu­die, und habe umge­hend dafür zu sor­gen, dass nie­mand hun­gern muss. (vgl. https://www.hrw.org)

In den kom­men­den Wochen wird sich erst ein­mal alles um die Nach­fol­ge von The­re­sa May dre­hen. Zur Aus­wahl ste­hen die Kan­di­da­tin­nen und Kan­di­da­ten Boris John­son, Micha­el Gove, Domi­nic Raab, Andrea Lead­som, Jere­my Hunt, Sajid Javid, Matt Han­cock, Mark Har­per, Rory Ste­wart, Esther McVey und Sam Gyimah. Zustän­dig für die Wahl des näch­sten Par­tei- und zugleich Regie­rungs­chefs ist das 1922-Komi­tee der Con­ser­va­ti­ve Par­ty. Es wird unter Ein­be­zie­hung der Voten von spe­zi­fi­schen Grup­pen aus der Tory-Par­la­ments­frak­ti­on in einem mehr­stu­fi­gen Aus­schei­dungs­ver­fah­ren inner­halb von 14 Tagen die Zahl der Bewer­be­rin­nen und Bewer­ber auf zwei redu­zie­ren. Wenn um den 20. Juni dann die­se bei­den kon­ser­va­ti­ven Poli­ti­ker fest­ste­hen – eine Frau wird es wohl nicht schaf­fen – folgt die Befra­gung der cir­ca 160.000 Par­tei­mit­glie­der. Wer wird der Par­tei­wahl­sie­ger in der vier­ten Juli­wo­che? Der welt­ge­fähr­li­che Donald Trump hofft auf Boris John­son, hät­te aber wohl auch nichts gegen Micha­el Gove – schließ­lich for­dert er von den Bri­ten einen »Brexit ohne Deal«. Wie dem auch sei, es ist unter den gege­be­nen Ver­hält­nis­sen schlicht maka­ber, dass nicht die 46 Mil­lio­nen bri­ti­schen Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler den näch­sten Pre­mier wäh­len, son­dern nur die ver­gleichs­wei­se klei­ne Zahl von Mit­glie­dern einer Par­tei, deren 2016 zurück­ge­tre­te­ner Vor­sit­zen­der David Came­ron die Gesell­schaft des König­reichs zunächst in eine sozia­le und dann mit sei­nem Refe­ren­dum in eine poli­ti­sche Spal­tung getrie­ben hat­te, die sei­ne Nach­fol­ge­rin The­re­sa May dann unfass­bar mas­siv vertiefte.

Eigent­lich woll­te und soll­te das Ver­ei­nig­te König­reich am 29. März aus der EU aus­tre­ten. Da das aus­ge­han­del­te Aus­tritts­ab­kom­men für einen gere­gel­ten Brexit im bri­ti­schen Unter­haus immer wie­der schei­ter­te, ver­scho­ben die EU-Staats- und Regie­rungs­chefs das Brexit-Datum erst ein­mal auf spä­te­stens den 31. Okto­ber. Da die Wah­len im Mai an der Zusam­men­set­zung des Unter­hau­ses nichts geän­dert haben, wird der aus dem Kan­di­da­ten­ren­nen her­vor­ge­hen­de näch­ste bri­ti­sche Regie­rungs­chef wohl kein Ret­ter wer­den kön­nen. Die ver­blie­be­ne EU27 schließt Nach­ver­hand­lun­gen des von den bri­ti­schen Par­la­men­ta­ri­ern nach wie vor mehr­heit­lich abge­lehn­ten Abkom­mens aus, und einem von der kom­men­den Regie­rung womög­lich als »mana­ged no deal« ver­bräm­ten Ver­such eines har­ten Aus­stiegs wird sich das Unter­haus zwei­fel­los auch ent­ge­gen­stem­men. Stei­gen die Chan­cen, dass der Brexit durch das bis zum 31. Okto­ber noch mög­li­che Zurück­zie­hen des Aus­tritt­ge­suchs als ver­blen­de­te Ideo­lo­gie auf dem Geschichts­müll­hau­fen lan­det? Oder kommt es wenig­stens zu der von den Remain­ern gewünsch­ten zwei­ten Volks­be­fra­gung? Von der zur­zeit durch Anti­se­mi­tis­mus-Vor­fäl­le und vor allem die Unei­nig­keit über den Brexit über­ra­schend stark geschwäch­ten Labour Par­ty und ihrem ambi­va­lent wir­ken­den Füh­rer Jere­my Cor­byn sind wohl kei­ne »Hel­den­ta­ten« zu erwar­ten. Und die in den bei­den Wah­len jüngst reüs­sie­ren­den LibDems und Greens sind in der Oppo­si­ti­on des Unter­hau­ses (auch auf­grund des Mehr­heits­wahl­rechts) besten­falls Flie­gen­ge­wich­te – die Libe­ra­len haben ledig­lich elf, die Grü­nen nur einen ein­zi­gen Sitz (Labour hin­ge­gen 246). Die von der nord­iri­schen DUP als Regie­rungs­par­tei tole­rier­ten Tories mit ihren 313 Sit­zen wer­den im Übri­gen schon auf­grund der hef­ti­gen Wahl­nie­der­la­gen im Mai kei­ne Neu­wah­len zulas­sen – immer­hin gibt es bis zur näch­sten obli­ga­to­ri­schen Unter­haus­wahl 2022/​23 noch viel der »Macht­er­ho­lung« dien­li­che Zeit. Hin­zu kommt: Aus­weis­lich der Wah­len und Umfra­gen scheint nach wie vor gut oder fast die Hälf­te der wahl­be­rech­tig­ten Bri­ten für den Brexit zu sein.