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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Türkei und westliche Doppelmoral

Die poli­ti­sche Erpres­sung war ein vol­ler Erfolg: Als Vor­aus­set­zung für die Rück­nah­me sei­nes Vetos gegen die Auf­nah­me von Schwe­den und Finn­land in die Nato hat­te der tür­ki­sche Prä­si­dent Erdo­gan ein här­te­res Vor­ge­hen die­ser bei­den Län­der gegen die kur­di­sche Arbei­ter­par­tei PKK sowie ver­bün­de­te Orga­ni­sa­tio­nen und Netz­wer­ke gefor­dert. Denn die­se bei­den Län­der, so die Begrün­dung, sei­en »Brut­stät­ten des Terrors«.

Ein tri­la­te­ra­les Memo­ran­dum, das am Ran­de des Nato-Gip­fels in Madrid Ende Juni 2022 zustan­de kam, geht nun auf alle Bedin­gun­gen Anka­ras ein, um die »legi­ti­men Sicher­heits­be­den­ken der Tür­kei aus­zu­räu­men«: Das 2019 ver­häng­te Waf­fen­em­bar­go Schwe­dens und Finn­lands gegen die Tür­kei wird im Sin­ne der »Bünd­nis­so­li­da­ri­tät« auf­ge­ho­ben. Die PKK wird als »Ter­ror­or­ga­ni­sa­ti­on« fest­ge­schrie­ben, ihre mut­maß­li­chen Anhän­ger, Netz­wer­ke und Akti­vi­tä­ten sol­len ver­schärft ver­folgt wer­den. Und die syrisch-kur­di­sche Selbst­ver­wal­tung in Nord­sy­ri­en, mit­samt ihrer »Volks­ver­tei­di­gungs­ein­hei­ten« YPG/​PYD, sol­len, anders als bis­lang, künf­tig kei­ner­lei huma­ni­tä­re Unter­stüt­zung mehr erhal­ten – also jene kur­di­schen Ein­hei­ten, die mit Unter­stüt­zung der USA, Euro­pas und auch Schwe­dens erfolg­reich, aber unter gro­ßen Opfern gegen den »IS«-Terror in Nord­sy­ri­en gekämpft hatten.

Die rela­tiv libe­ra­le Gesetz­ge­bung Schwe­dens und Finn­lands wird also ent­spre­chend geän­dert und ver­schärft. Und kur­di­sche Akti­vi­sten, die im schwe­di­schen und fin­ni­schen Exil leben und dort als poli­ti­sche Flücht­lin­ge Schutz vor Ver­fol­gung suchen, sol­len künf­tig, nach beschleu­nig­ter Prü­fung, leich­ter an die Tür­kei aus­ge­lie­fert wer­den kön­nen – etwa wegen angeb­li­cher PKK-Kon­tak­te (»Ter­ror­ver­dacht«). Die Rede ist von über 70 Betrof­fe­nen, die nun in Angst und Schrecken leben, weil ihnen Miss­hand­lung, Fol­ter und lang­jäh­ri­ge Haft drohen.

Über Hun­dert­tau­send Kur­den, ihre Orga­ni­sa­tio­nen und Medi­en zah­len also ins­ge­samt einen hohen Preis für die Ent­schei­dung Schwe­dens und Finn­lands, ange­sichts des Ukrai­ne­krie­ges dem west­li­chen Mili­tär­bünd­nis Nato bei­zu­tre­ten und damit ihre mili­tä­ri­sche Neu­tra­li­tät auf­zu­ge­ben. Doch die­se Erpres­sungs­ge­schich­te fügt sich ein in ein altes Trau­er­spiel: Denn bereits seit Jahr­zehn­ten set­zen sich die EU und auch die Bun­des­re­pu­blik nicht nur unzu­rei­chend von der aus­ufern­den Ter­ror­dok­trin des tür­ki­schen Staa­tes ab, sie haben sich in die­se »Antiterror«-Strategie regel­recht ein­bin­den las­sen. Und sie haben sich dar­über hin­aus auch noch über den mil­li­ar­den­schwe­ren EU-Flücht­lings­deal (2016) stark von der Tür­kei abhän­gig und erpress­bar gemacht: ein men­schen­recht­lich inak­zep­ta­bles Abkom­men, das den EU-Staa­ten Geflüch­te­te aus Afri­ka und Nah­ost, ins­be­son­de­re aus Syri­en »vom Hals hal­ten« soll. Tat­säch­lich koope­rie­ren EU und Bun­des­re­pu­blik schon all­zu lan­ge mit der Tür­kei eng, unkri­tisch, teils will­fäh­rig – gera­de bei der Flücht­lings­ab­wehr sowie im »Anti­ter­ror­kampf«. Sie haben letzt­lich mit ihrer über­aus heik­len Mili­tär-, Poli­zei- und Geheim­dienst-Koope­ra­ti­on die krie­ge­ri­sche Kur­den­po­li­tik der Tür­kei flan­kiert und abge­si­chert sowie mit Waf­fen­lie­fe­run­gen befeuert.

Im tür­kisch-kur­di­schen Kon­flikt beschrei­ten die EU mit ihrer Ter­ror­li­ste, auf der die PKK und wei­te­re kur­di­sche Orga­ni­sa­tio­nen geli­stet sind, und die Bun­des­re­pu­blik mit ihrem seit 1993 gel­ten­den PKK-Ver­bot nach wie vor den Weg der Repres­si­on, der Kri­mi­na­li­sie­rung und Aus­gren­zung. Und dies auch unter der aktu­el­len Ampel­re­gie­rung, obwohl sich doch die einst gewalt­ori­en­tier­te PKK in Euro­pa mit­samt ihren Struk­tu­ren, Mit­teln und Zie­len längst grund­le­gend geän­dert hat, obwohl sich auch die poli­ti­sche Situa­ti­on in Euro­pa und der Tür­kei sowie im Nahen und Mitt­le­ren Osten stark wan­del­te. Die immer noch vor­herr­schen­de Kri­mi­na­li­sie­rungs- und Aus­gren­zungs­po­li­tik ist damit voll­ends zum kon­tra­pro­duk­ti­ven Ana­chro­nis­mus gewor­den, der eine so drin­gend nöti­ge fried­li­che und gerech­te Lösung der tür­kisch-kur­di­schen Fra­ge schwer behin­dert. Mit der tür­ki­schen Erpres­sung Schwe­dens und Finn­lands wird die­se fal­sche und grund­rechts­ge­fähr­den­de Poli­tik jedoch noch aus­ge­wei­tet und verfestigt.

Am Ran­de des Nato-Macht­be­reichs pas­sie­ren im Übri­gen noch ganz ande­re Angriffs­sze­na­ri­en, die ger­ne aus­ge­blen­det wer­den. Tat­säch­lich fragt man sich ver­wun­dert: Wo um alles in der Welt blie­ben die poli­ti­schen Ant­wor­ten und Kon­se­quen­zen ange­sichts des eska­lie­ren­den Kriegs gegen die kur­di­sche Bevöl­ke­rung in der Tür­kei, ange­sichts der poli­ti­schen Ver­fol­gung Anders­den­ken­der, will­kür­li­cher Inhaf­tie­run­gen und lang­jäh­ri­ger Ver­ur­tei­lun­gen wegen nebu­lö­ser Ter­ror­vor­wür­fe? Und vor allem: Wo blie­ben eigent­lich ange­mes­se­ne Reak­tio­nen auf die mili­tä­ri­schen Angrif­fe des Nato-Staats Tür­kei gegen die kur­di­sche Selbst­ver­wal­tung in Nord­sy­ri­en oder – im Wind­schat­ten des Ukrai­ne­kriegs – auch gegen kur­di­sche Ein­hei­ten im Nord­irak und die Auto­no­me Regi­on Kur­di­stan? Han­delt es sich doch um jah­re­lan­ge völ­ker­recht­wid­ri­ge Angrif­fe auf sou­ve­rä­ne Staa­ten und deren Zivil­be­völ­ke­rung, wie auch der Wis­sen­schaft­li­che Dienst des Deut­schen Bun­des­ta­ges unmiss­ver­ständ­lich fest­ge­stellt hat: Die­se tür­ki­schen »Ver­stö­ße gegen das Gewalt­ver­bot« der UN-Char­ta gesche­hen ohne jede Bedro­hungs­la­ge, ohne aku­te Selbst­ver­tei­di­gungs­si­tua­ti­on, da von kur­di­scher Sei­te etwa aus Nord- oder Ost-syri­en – anders als die Tür­kei behaup­tet – nach­weis­lich kei­ner­lei Gefahr, kei­ner­lei Ter­ror­be­dro­hung aus­ge­gan­gen war.

Die­se völ­ker­rechts­wid­ri­gen Angrif­fe in einem zer­mür­ben­den Krieg gegen die Zivil­be­völ­ke­rung wer­den nicht zuletzt mit deut­schen Pan­zern und Waf­fen geführt und befeu­ert. Nato, EU und Bun­des­re­pu­blik tra­gen jeden­falls Mit­ver­ant­wor­tung und Mit­schuld an die­sen schwe­ren Völ­ker­rechts­brü­chen ihres Nato-Mit­glieds­staa­tes. Doch außer diplo­ma­ti­scher Lei­se­tre­te­rei und der Aner­ken­nung tür­ki­scher »Sicher­heits­in­ter­es­sen« in der Regi­on war und ist von die­ser Sei­te nicht viel mehr zu hören. Den­noch gilt: Wer den rus­si­schen Krieg gegen die Ukrai­ne als völ­ker­rechts­wid­ri­gen Angriffs­krieg gei­ßelt, muss auch die Kriegs­an­grif­fe der Tür­kei gegen Syri­en und Irak mit­hil­fe dschi­ha­di­sti­scher Söld­ner­trup­pen, mit töd­li­chen Droh­nen- und Rake­ten­an­grif­fen, Land­nah­men (»Sicher­heits­zo­ne«), hun­dert­tau­send­fa­chen Ver­trei­bun­gen, eth­ni­schen Säu­be­run­gen und Zwangs­um­sied­lung von Flücht­lin­gen sowie geziel­ten Umwelt­zer­stö­run­gen klar und unüber­hör­bar ver­ur­tei­len – als syste­ma­ti­sche völ­ker­rechts­wid­ri­ge An- und Über­grif­fe eines Nato-Mit­glieds auf sou­ve­rä­ne Staa­ten. Alles ande­re ist zwei­er­lei Maß oder west­li­che Doppelmoral.

Auf har­te Sank­tio­nen gegen die Tür­kei oder gar Raus­schmiss aus der Nato wird man aller­dings lan­ge war­ten, schließ­lich gibt es hand­fe­ste geo­po­li­ti­sche Grün­de für die Tole­rie­rung und Zurück­hal­tung von Sei­ten der Nato und EU. Die­se lie­gen nicht zuletzt in der gro­ßen stra­te­gi­schen Bedeu­tung der Tür­kei für das west­li­che Mili­tär­bünd­nis, das sich ger­ne als »Wer­te­ge­mein­schaft« ver­steht: Das Land ist ein geo­stra­te­gisch gewich­ti­ger Bünd­nis­part­ner an der Süd­ost-Flan­ke der Nato, zwi­schen Euro­pa und Asi­en, zwi­schen west­li­cher Welt und Nahem Osten sowie als Wäch­ter am Schwar­zen Meer. Trotz syste­ma­ti­scher Men­schen- und Völ­ker­rechts­ver­let­zun­gen wird die Tür­kei schon allein wegen die­ser Schlüs­sel­po­si­ti­on auf Bie­gen und Bre­chen in der Nato gehal­ten – ein Mit­glieds­staat, der nach den USA die zweit­größ­te Trup­pe stellt. Und die­se auto­kra­tisch regier­te Tür­kei, deren Prä­si­dent sich wäh­rend des Ukrai­ne-Kriegs als Kon­flikt-Ver­mitt­ler wich­tig­macht, wird mili­tä­risch wei­ter auf­ge­rü­stet sowie gehö­rig mit Finanz- und Kre­dit­hil­fen unter­stützt. Mit die­ser Unter­stüt­zung bege­ben sich USA, EU und »west­li­che Wer­te­ge­mein­schaft« ins­ge­samt in ekla­tan­ten Wider­spruch zu ihren eige­nen Wer­ten, die sie gegen­über dem Rest der Welt anson­sten unent­wegt hoch­hal­ten und oft genug selbst erheb­lich miss­ach­ten: so etwa mit ihren sank­ti­ons­los geblie­be­nen Völ­ker­rechts­ver­stö­ßen und Kriegs­ver­bre­chen in Jugo­sla­wi­en, Afgha­ni­stan, Irak, Liby­en, Guan­ta­na­mo etc.

Ange­sichts völ­ker­rechts­wid­ri­ger Angrif­fe der Tür­kei auf Syri­en und Irak und dort leben­de Kur­den, aber auch ange­sichts umfang­rei­cher Rüstungs­expor­te und des EU-Flücht­lings­deals kom­men Nato, EU und Deutsch­land eine gestei­ger­te Ver­ant­wor­tung zu. Um die­ser gerecht zu wer­den, bedarf es eines radi­ka­len Wan­dels der euro­päi­schen Tür­kei- und Kur­den­po­li­tik. Und dazu gehört, end­lich die Ter­ror-Stig­ma­ti­sie­rung, Kri­mi­na­li­sie­rung, Ver­fol­gung und Aus­gren­zung von Kur­den, ihren Orga­ni­sa­tio­nen und Medi­en in Euro­pa und Deutsch­land zu been­den, die einem offe­nen Dia­log mit der kur­di­schen Sei­te dia­me­tral ent­ge­gen­ste­hen. Denn: Die immer noch unge­lö­ste kur­di­sche Fra­ge ist weni­ger denn je ein Ter­ror­pro­blem, son­dern eine men­schen­recht­li­che und demo­kra­ti­sche Her­aus­for­de­rung der Tür­kei mit weit­rei­chen­den Aus­wir­kun­gen auf Euro­pa, die Nato und die Bun­des­re­pu­blik. Einst­wei­len ist zu fordern:

Schutz und Asyl für poli­tisch Ver­folg­te aus der Tür­kei: kei­ne Aus­lie­fe­run­gen von Kurd:innen, Oppo­si­tio­nel­len und Regime­kri­ti­kern im Exil an die Türkei.

Stopp aller deut­schen Rüstungs- und Kriegs­waf­fen­ex­por­te an die Tür­kei, die im Krieg gegen die kur­di­sche Bevöl­ke­rung sowohl in der Tür­kei als auch in Nord­sy­ri­en und Nord­irak bereits eine ver­hee­ren­de Rol­le gespielt haben.

Sofor­ti­ge inter­na­tio­na­le Maß­nah­men, um die völ­ker­rechts­wid­ri­gen Angrif­fe des Nato-Staats Tür­kei auf Nord­sy­ri­en und Nord­irak zu unter­bin­den, Kriegs­ver­bre­chen gericht­lich auf­zu­klä­ren und zu ahn­den sowie die Tür­kei für Kriegs­fol­gen und Zer­stö­run­gen haft­bar zu machen.