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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Unser Phoenix: Lazarus

Ein Festi­val in Coro­na-Zei­ten? In Ham­burg wird der Ver­such unter­nom­men. Das dies­jäh­ri­ge Som­mer­fe­sti­val auf Kamp­na­gel fin­det statt: vom 12. bis zum 30. August in den Hal­len und außer­halb im »Avant-Gar­ten«. Die Zuschau­er­men­gen sind redu­ziert, so fin­den nun in der gro­ßen Hal­le 6 nicht 840, son­dern nur 250 Per­so­nen Platz. Selbst im Festi­val­gar­ten heißt es: ein­checken, ent­we­der über die QR-Codes an den Sitz­plät­zen oder über Kon­takt­for­mu­la­re. Das von mir aus­ge­wähl­te Stück der nord­iri­schen Cho­reo­gra­fin Oona Doh­erty »Hope Hunt – and the Ascen­si­on into Laza­rus« fand drau­ßen statt und begann schon um 19 Uhr. Vor­her im Außen­be­reich: eine Band mit schö­ner ara­bi­scher Musik auf der Wald­büh­ne. Die ande­ren Büh­nen hat­ten noch kein Pro­gramm. Ich stieß auf das »Peng! Coll­ec­ti­ve«, klein und unschein­bar. Es bestand aus einer »Inter­ak­ti­ven Instal­la­ti­on«, ein Video­ge­rät mit zwei Stüh­len davor – besetzt. Ein erklä­ren­der Zet­tel an der Wand: »Klin­gel­streich beim Kapi­ta­lis­mus«. Die Kli­ma­ka­ta­stro­phe ist in vol­lem Gan­ge und »die Wirt­schaft rast meteo­ri­ten­gleich auf eine glo­ba­le Rezes­si­on zu«. Die Pan­de­mie schaf­fe erst­mals den Raum für ein »glo­ba­les Inne­hal­ten«, sagt die Grup­pe. Sie ergreift die Chan­ce, »um grund­le­gen­de System­fra­gen zu stel­len«. Als fin­gier­tes Bun­des­amt hat Peng! »Gesprä­che mit den obe­ren Eta­gen von zehn deut­schen Unter­neh­men geführt und nach­ge­fragt: Wie bereit sind die Unter­neh­men, sich staat­lich regu­lie­ren zu las­sen?« Um wel­che Fir­men es sich han­del­te und ihre Ant­wor­ten erfuhr ich nicht, lei­der ließ es die Zeit nicht zu, dem Video zu fol­gen. Die Über­rum­pe­lungs­tak­tik erin­ner­te mich an den unsterb­li­chen Horst Tomay­er, der als »Luis Tren­ker« bei Ernst Jün­ger anrief und so auch noch Auf­nah­me in des­sen Gesamt­aus­ga­be fand.

Abge­lenkt durch Peng!, kam ich fast zu spät zu Oona Doh­erty. Ange­kün­digt war ihr Stück als eine »ener­ge­ti­sche Cho­reo­gra­fie über die unte­ren sozia­len Schich­ten Euro­pas und die ambi­va­len­ten Kon­zep­te von Geschlecht und Klas­se«. Ihre Per­for­mance: in der Nähe des Oster­bek-Kanals im Frei­en auf einer Wie­se, rund­her­um Häu­ser – das Publi­kum, mit Sicher­heits­ab­stand, war hier geschütz­ter als in den Hal­len. Die »Männ­lich­keit in der euro­päi­schen Arbei­ter­klas­se« (Info-Text) – hier ein schwar­zer Golf mit lau­ter Rock-Musik und ein Mann mit einer Fla­sche in der Hand. Der Mann, der »vie­le Män­ner ist«, taucht auf, steigt ein, rast davon. Ein kna­ben­haf­tes Wesen mit streich­holz­kur­zem Haar ver­sucht, ihn auf­zu­hal­ten, rennt hin­ter­her, eine »Jagd nach Hoff­nung«. Sie wen­det sich um, läuft durch die Zuschau­er zur Büh­ne, die sich nur zen­ti­me­ter­hoch über den Boden erhebt. Ist sie, Oona Doh­erty, die­ser Mann, der »in unter­schied­li­che Figu­ren« mutiert?

Der Tanz, manch­mal auf­be­geh­rend, dann erschöpft am Boden. Die Arme hoch­rei­ßend schreit sie: »Death« und »Schei­ße«, drei­mal hin­ter­ein­an­der. Zeigt auch mal Hip-Hop-Ele­men­te im Tanz. Dann immer wie­der »Home«- und »Hope«-Ausrufe mit viel Gestik. Sie zieht den dunk­len Pul­li, die Hose und Socken aus. Alles fein zusam­men­ge­legt vor die Büh­ne plat­ziert. Nun steht ein wei­ßes Wesen vor uns. Musik­wech­sel. Chor­ge­sang, Mön­che, himm­li­sche Musik, die fließt so dahin. Eine Anlei­he beim est­ni­schen Mode-Kom­po­ni­sten Arvo Pärt, von Cho­reo­gra­fen heu­te geschätzt. Kein Rhyth­mus. Sie ver­lässt die Büh­ne, läuft über die Brücke, die den Kanal über­spannt. Klat­schen. Krach vom Was­ser her – Fuß­ball­fans? Nein, vom Laut­spre­cher. Sie kommt zurück, ver­beugt sich. Schluss? Anschei­nend. Der Text von Doh­erty hilft nicht wei­ter, hin­ter­lässt Rat­lo­sig­keit. »Ver­blas­sen zum wei­ßen Laza­rus, der sich als Phö­nix erhebt. Ein Ver­such«, so ihre Inter­pre­ta­ti­on, »das Ste­reo­typ des abge­häng­ten Man­nes zu dekon­stru­ie­ren«. Nein, es geht wei­ter, »und es im strah­len­den Weiß einer Cara­vag­gio-Vor­höl­le erstrah­len zu las­sen«. Ach, ich habe davon gar nichts mitbekommen.

Die­se Höl­le scheint eher das Eröff­nungs­stück in Hal­le 6 von Flo­ren­ti­na Holz­in­ger berei­tet zu haben mit den »Mar­ti­al-Arts-Kampf­sze­nen« ihrer Tän­ze­rin­nen und viel flie­ßen­dem Blut und eini­gem Urin. Welch ein Glück, in der frei­en Natur mit der eher sanf­ten Oona die Zeit ver­bracht zu haben.