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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Victor Klemperer und Werner Krauss/​Kraus/​Krauß?

Wie ist es zu erklä­ren, dass die bei­den pro­mi­nen­te­sten Roma­ni­sten der DDR der 1950er Jah­re, Vic­tor Klem­pe­rer und Wer­ner Krauss, die bei­de – in unter­schied­li­cher Wei­se – schwer im Faschis­mus gelit­ten hat­te, mit­ein­an­der so hef­tig in Kon­flikt gera­ten sind, dass die Staats­ge­walt sich zum Ein­grei­fen ver­an­lasst sah?

Es gibt eine gan­ze Rei­he von Ant­wor­ten auf die­se Fra­ge: Da ist zunächst der Gene­ra­tio­nen­un­ter­schied (Klem­pe­rer Jg. 1881, Krauss Jg. 1900), dann aber vor allem die Aus­gangs­si­tua­ti­on im Faschis­mus: Für Klem­pe­rer ver­eng­te sich die beruf­li­che und pri­va­te Welt radi­kal: vom Uni­ver­si­täts­ka­the­der ins »Juden­haus«, unter der stän­di­gen Gefahr, depor­tiert und ver­nich­tet zu wer­den. Krauss, schon in den 1920er Jah­ren ein Lin­ker, konn­te sei­ne Uni­ver­si­täts­kar­rie­re bis in die 1940er Jah­re fort­set­zen, sogar mit befremd­li­chen Ver­su­chen der Tar­nung, die äußer­lich wie Anpas­sung wir­ken muss­ten. Dann aber ent­schied er sich zur Teil­nah­me am Wider­stand (im Rah­men der weit­ver­zweig­ten Orga­ni­sa­ti­on, die die Nazis als »Rote Kapel­le« bezeich­ne­ten). Er wur­de zum Tode ver­ur­teilt, über­leb­te aber die Todeszellen.

In der DDR galt Klem­pe­rer als »Opfer des Faschis­mus«, Krauss als »Kämp­fer gegen den Faschis­mus«. Die­se Bezeich­nun­gen waren mit einem unter­schied­li­chen Sta­tus in der DDR-Gesell­schaft ver­bun­den. Bei der Befrei­ung vom Faschis­mus war Klem­pe­rer fast schon im Ren­ten­al­ter und hat­te das ver­ständ­li­che, fast schon ver­zwei­fel­te Bestre­ben, in sei­ner Uni­ver­si­täts­kar­rie­re nach­zu­ho­len, was ihm nach der Ent­las­sung durch die Nazis ver­sagt wor­den war. Krauss stand am Beginn einer neu­en Kar­rie­re in der DDR, nach­dem er die West­zo­nen ver­las­sen hat­te. Klem­pe­rer sah sich als bür­ger­li­chen Wis­sen­schaft­ler, schloss sich aber der KPD an, weil er von der SBZ/​DDR erwar­te­te, vor dem Faschis­mus geschützt zu sein. Krauss war mit sei­ner Vita von vorn­her­ein will­kom­men, wenn sich auch zei­gen soll­te, dass sein Ver­ständ­nis von Sozia­lis­mus nicht immer mit dem in der DDR herr­schen­den in Über­ein­klang stand und er sich zeit­wei­se zu einer gewis­sen Anpas­sung gezwun­gen sah (eini­ge sei­ner Schü­ler wur­den sogar inhaf­tiert). Das Ergeb­nis: Klem­pe­rer fühl­te sich Krauss wis­sen­schaft­lich und ideo­lo­gisch unter­le­gen und sah ihn als Kon­kur­ren­ten. Krauss‘ Selbst­si­cher­heit irri­tier­te ihn. So spitz­te sich die Aus­ein­an­der­set­zung, letzt­lich von bei­den Sei­ten, zu.

Nach dem Erschei­nen mei­nes Buches »Eine lebens­lan­ge Riva­li­tät?« (s. u.), in dem ich die­ser The­ma­tik nach­ge­gan­gen bin, möch­te ich mich hier einer spe­zi­el­len Fra­ge wid­men, die von einer mir auf­fäl­lig erschei­nen­den Beob­ach­tung aus­geht: Hin­sicht­lich des Ver­hält­nis­ses Klem­pe­rers zu Krauss fiel mir näm­lich auf, dass er in sei­nen Tage­bü­chern Krauss’ Namen auf­fäl­lig häu­fig falsch (»Kraus« oder »Krauß«) schreibt. Dabei ist zu berück­sich­ti­gen, dass in Klem­pe­rers Bän­den »So sit­ze ich denn zwi­schen allen Stüh­len« und »Tage­bü­cher 1950-1959« (1999) kaum ein Name außer­halb des Fami­li­en­krei­ses Klem­pe­rers so häu­fig genannt wird wie die­ser (er taucht bis zu fünf Mal auf einer Sei­te auf).

Wie ist die­se Auf­fäl­lig­keit zu deu­ten? Grund­la­ge für mei­ne Hypo­the­se ist – natür­lich? – Freuds Leh­re von den Fehl­lei­stun­gen der Psy­che, wie er sie im I. Teil der »Vor­le­sun­gen zur Ein­füh­rung in die Psy­cho­ana­ly­se« (1916-17) dar­ge­legt hat. Dar­in geht er der Fra­ge nach, ob Ver­se­hen beim Schrei­ben oder Lesen oder Hör­feh­ler nur auf Flüch­tig­keit zurück­ge­führt wer­den oder als Aus­druck psy­chi­scher Mecha­nis­men inter­pre­tiert wer­den kön­nen bzw. müssen.

Die genann­ten bei­den Tage­buch­bän­de umfas­sen 713 S. bzw. 753 Sei­ten Text. Im ersten Band (1945-9) wird Krauss’ Name an 31 Stel­len kor­rekt genannt, 4-mal schreibt Klem­pe­rer »Kraus«, eben­so oft »Krauß«. Die­ser Befund ist unauf­fäl­lig. Die­se Unauf­fäl­lig­keit in die­sen Jah­ren ent­spricht sowohl der Situa­ti­on der gera­de auf­ge­nom­me­nen Bezie­hun­gen der bei­den Gelehr­ten als auch deren ent­spann­tem Ver­hält­nis: Ja, Vic­tor Klem­pe­rer (Jg. 1881) geht – bild­lich gespro­chen – auf den jün­ge­ren Kol­le­gen Wer­ner Krauss (Jg. 1900) zu, der aber im Gegen­satz zu ihm noch bis in die 1940er Jah­re hat­te for­schen kön­nen und der ihm auch, z. B. bei der Beschaf­fung von Lite­ra­tur, behilf­lich war, ein Bedarf, der sich für Klem­pe­rer immer wie­der ergab, da er ab 1933 schritt­wei­se völ­lig aus dem uni­ver­si­tä­ren Bereich ver­drängt wor­den war.

Anders ver­hält es sich mit den Zah­len­ver­hält­nis­sen im zwei­ten Band: Wäh­rend die kor­rek­te Schrei­bung hier nicht ein­mal 4-mal so oft wie im ersten Band auf­taucht (118-mal), kom­men die Ver­schrei­bun­gen »Kraus« (33-mal) bzw. »Krauss« (9-mal) jedoch mehr als 5-mal so oft vor. D. h.: Der Quo­ti­ent der Fehl­schrei­bun­gen des Namens »Krauss« steigt von 0.258 im ersten Band auf 0.356 im zwei­ten Band. Die­ser Anstieg ist signi­fi­kant, da man anneh­men kann, dass der Name sei­nes Kol­le­gen – den er inzwi­schen auch als Kon­kur­ren­ten wahr­nahm – ihm ver­traut gewe­sen sein muss.

Bis zu die­sem Zeit­punkt gesteht Klem­pe­rer in sei­nem Tage­buch immer wie­der sei­ne nega­ti­ven Gefüh­le Krauss gegen­über. Hier­für nur eini­ge prä­gnan­te Bei­spie­le: Klem­pe­rer berich­tet von einem Traum, in dem er eine Stra­ßen­bahn errei­chen will und Hoff­nung schöpft, dass es ihm noch gelin­gen wird, weil die­se gera­de eine Frau über­fah­ren hat und daher ihre Fahrt zunächst nicht fort­set­zen kann; trotz­dem erreicht Klem­pe­rer die Stra­ßen­bahn nicht (7.4.1951). Es ist ein­drucks­voll, mit wel­cher Ehr­lich­keit er die­sen Traum inter­pre­tiert. Er beginnt mit den Wor­ten: »Im Auf­wa­chen sag­te ich mir sofort: Das alle­go­ri­siert mein Ver­hal­ten Krauss gegenüber.«

Am 2.12.1951 zitiert er Wer­fels »Roman der Oper«, der von der Riva­li­tät zwi­schen Ver­di und Richard Wag­ner han­delt, wobei er sich in der Rol­le Ver­dis sieht, der sich von Wag­ners Moder­ni­tät über­holt sieht, die­sen jedoch um vie­le Jah­re über­lebt. Und schließ­lich (19.6.1953) bezeich­net er Krauss als »die Lei­che auf mei­nem Rücken«. Es han­delt sich hier um eine Anspie­lung auf Ver­gils »Aen­eis« (Buch 8, Ver­se 485-488): Der Dich­ter ver­an­schau­licht hier die angeb­li­che Grau­sam­keit des Etrus­kers Mezen­ti­us, eines Geg­ners des Aene­as, der Leben­den einen Toten auf­band, damit das Lei­chen­gift die­se lang­sam töte.

Bezeich­nend ist, dass Klem­pe­rer Krauss’ Namen vom 2.10.1954 zum letz­ten Mal kor­rekt schreibt. Die Stel­le lau­tet: »Klas­sen­sit­zung der Aka­de­mie [wo Krauss sein neu­es Betä­ti­gungs­feld gefun­den hat­te. – L. Z.]. Krauss blü­hend gesund anwe­send. Aus dem ver­le­se­nen Pro­to­koll erfuhr ich, wie er mich über­spielt hat. Da es Par­tei­ar­beit ist, die er lei­stet, u. da sie an die hist.-philosoph. Klas­se [der Klem­pe­rer nicht ange­hör­te. – L. Z.] geschlos­sen wird, kann ich nichts machen.«

Von hier an schreibt Klem­pe­rer Krauss’ Namen, den er außer­dem nur noch sel­ten nennt, aus­schließ­lich falsch. Am 25.2.1955 ver­merkt Klem­pe­rer mit merk­li­cher Empö­rung über den frü­her immer krän­keln­den »Kraus«: »in strah­len­der Gesund­heit, Agi­li­tät, Hei­ter­keit anwe­send.« Am 23.6.1957 erwähnt er Que­re­len zwi­schen ver­schie­de­nen Wis­sen­schaft­lern in der DDR. Dazu sein Kom­men­tar: »Es gibt also Feind­schaft [sic!] nicht nur zwi­schen Kraus u. Klemperer.«

Den Abschluss bil­det – schwan­kend zwi­schen Ver­söhn­lich­keit und Nicht-Ver­ges­sen-Kön­nen – die letz­te Erwäh­nung des Riva­len: »End­lich noch ein Brief an Krauß, der plötz­lich ›mit herzl. Gruß u. Wün­schen‹ für mei­ne Gesund­heit etwas (…) für eine Neu­auf­la­ge sei­ner ›Grund­po­si­tio­nen der Auf­klä­rung‹ haben möch­te! (…) Ich hielt mein Schrei­ben in abge­zir­kelt glei­cher u. gleich EHR­LI­CHer Herz­lich­keit. – Minuit (Mit­ter­nacht).«

Vic­tor Klem­pe­rer starb am 11.2.1960. Wer­ner Krauss leb­te noch bis zum 28.8.1976. Klem­pe­rer wur­de 78, Krauss 76 Jah­re alt.

 Lothar Zieske: Eine lebens­lan­ge Riva­li­tät. Zum Ver­hält­nis der Roma­ni­sten Vic­tor Klem­pe­rer und Wer­ner Krauss, Ver­lag Hen­trich & Hen­trich, Berlin/​Leipzig 2022, 211 S., 17.90 €.