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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Weil der Mensch ein Mensch ist

… erhebt er sich gegen Unter­drückung, Aus­beu­tung, kor­rup­te Eli­ten: in Indi­en, Frank­reich, Chi­le, Irak, Tsche­chi­en, Alge­ri­en, Liba­non. Aber es gibt auch »auto­ri­tä­re Natio­nal­ra­di­ka­le« (W. Heit­mey­er), die nicht für ihre Wür­de und für Gerech­tig­keit kämp­fen, son­dern ihre Wut abre­agie­ren: durch aggres­si­ve Abgren­zung, Hass gegen Fein­de und alle, die sie zu sol­chen erklä­ren. Ver­ro­hung nimmt zu, Zusam­men­halt schwin­det – als Fol­ge einer ver­roh­ten Poli­tik? So sehr es Macht­eli­ten zu bemän­teln suchen: Zie­le und Metho­den der glo­bal vor­herr­schen­den Poli­tik för­dern eine deso­la­te gesell­schaft­li­che Stim­mung. Das neo­li­be­ra­le Dog­ma zer­stört das sozia­le Zusammenleben.

 

Ver­ach­tung

Seit Mona­ten fin­den in Chi­le Mas­sen­pro­te­ste und Stra­ßen­kämp­fe gegen die kras­se Ungleich­heit statt. Ein Ver­gleich der sta­ti­sti­schen Maß­zah­len för­dert Über­ra­schen­des zuta­ge: In Deutsch­land ist die sozia­le Ungleich­heit grö­ßer als in Chi­le, so dass sogar der Inter­na­tio­na­le Wäh­rungs­fonds kon­sta­tiert: »Deutsch­land ist eines der Län­der mit der höch­sten Ver­mö­gens- und Ein­kom­mens-Ungleich­heit der Welt.«

Zu wes­sen Lasten kon­zen­triert sich der Reich­tum bei den 0,1%-Oligarchen? Wir wis­sen es seit Jahr­zehn­ten: Die Zahl von Armut betrof­fe­ner Men­schen wächst in Deutsch­land und anders­wo. Grö­ße­re Alters­ar­mut ist vor­pro­gram­miert: Auf eine Anfra­ge der Links­par­tei gibt das Bun­des­mi­ni­ste­ri­um bekannt, dass Arbeit­neh­mer 45 Jah­re Voll­zeit schuf­ten und dabei pro Stun­de 12,63 Euro ver­die­nen müs­sen, um auf die Grund­si­che­rung im Alter zu kom­men. Die Poli­tik ver­lässt sich auf den Gewöh­nungs­ef­fekt und unse­re Gleichgültigkeit.

Sowohl die unge­rech­te Ver­tei­lung von Ein­kom­men und Ver­mö­gen als auch die syste­ma­tisch aus­ge­blu­te­te Daseins­vor­sor­ge betref­fen das All­tags­le­ben der Men­schen, die der­zeit über unbe­zahl­ba­re Woh­nun­gen, krank und arm machen­de Arbeit oder eine kaput­te sozia­le Infra­struk­tur kla­gen. Alle wis­sen: Ein Kran­ken­haus­auf­ent­halt gefähr­det die Gesund­heit, denn die Pri­va­ti­sie­rung zugun­sten von Kon­zer­nen und die Abrech­nung nach Fall­pau­scha­len geht nach­weis­lich zu Lasten des Per­so­nals und der Pati­en­ten, wie etwa der Doku­men­tar­film »Der markt­ge­rech­te Pati­ent« ein­dring­lich zeigt.

Der neo­li­be­ra­le Umbau hat es geschafft, die Daseins­vor­sor­ge und die Grund­la­gen eines sozia­len Rechts­staa­tes zu zer­stö­ren. Gro­ße Tei­le der Bevöl­ke­rung der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land wol­len die­se »Refor­men« nicht: In einer Umfra­ge des Forum New Eco­no­my vom Okto­ber 2019 bekla­gen 80 Pro­zent die Pri­va­ti­sie­rung öffent­li­cher Lei­stun­gen. Schwin­den­den sozia­len Zusam­men­halt durch die Ungleich­heit kri­ti­sie­ren gar 87 Pro­zent. Statt­des­sen wol­len 87 Pro­zent mehr staat­li­che Inve­sti­tio­nen für Kli­ma­schutz, Schu­len, Uni­ver­si­tä­ten und Bahn. Gegen die Gerech­tig­keits­for­de­run­gen der Bevöl­ke­rung führt aber die Macht­eli­te ihre bewähr­te ideo­lo­gi­sche Waf­fe ins Feld: Die Rei­chen haben ihren Besitz und die damit ver­bun­de­ne Macht ver­dient – die Armen haben ver­sagt. Zu Recht emp­fin­den die Men­schen die­se Hal­tung als Ver­höh­nung, als Ver­ach­tung und Abwer­tung; zur mate­ri­el­len Benach­tei­li­gung kommt die see­li­sche Ver­let­zung. Die Lebens­lü­ge der Pro­fi­teu­re glau­ben allen­falls sie sel­ber; ihr Klas­sen­dün­kel zer­setzt die Basis fried­li­chen Zusammenlebens.

 

Ohn­macht

Der Neo­li­be­ra­lis­mus konn­te den Sie­ges­zug antre­ten, weil sei­ne schein­wis­sen­schaft­li­chen Annah­men über Mensch, Wirt­schaft und Gesell­schaft der Macht­eli­te einen Frei­brief aus­stell­ten: »Ungleich­heit ist nicht bedau­er­lich, son­dern höchst erfreu­lich. Sie ist ein­fach nötig«, wie von Hay­ek, einer der »Väter« des Markt­ra­di­ka­lis­mus, dozier­te. Poli­ti­ker befrei­ten das Kapi­tal durch Dere­gu­lie­rung und Libe­ra­li­sie­rung von allen Fes­seln, legi­ti­mier­ten die Ent­hem­mung. Jetzt war (fast) alles erlaubt, was dem Pro­fit diente.

Poli­ti­ker wie Ber­lus­co­ni, Trump oder Bol­so­n­a­ro wer­den gern als Psy­cho­pa­then bezeich­net; unzäh­li­ge der Kor­rup­ti­on bezich­tigt (Netan­ja­hu, Rajoy, Sar­ko­zy). Ver­ges­sen wird: Sie erlang­ten ihre Macht nur durch die Unter­stüt­zung des Kapi­tals, des­sen Inter­es­sen sie durch­setz­ten. Zu Recht empört man sich über kri­mi­nel­le Machen­schaf­ten der Kon­zer­ne in Deutsch­land, etwa beim Maut-, CumEx- und Die­sel-Skan­dal oder den Steu­er­pa­ra­die­sen; aber die Empö­rung über Geset­ze, die lega­le Raub­zü­ge und Ent­eig­nun­gen der Bevöl­ke­rung durch Steu­er­vor­tei­le und Pri­va­ti­sie­rung ermög­li­chen, bleibt begrenzt. Jeg­li­che Moral und mensch­li­che Emp­fin­dung wird durch das Ziel der Pro­fit­ma­xi­mie­rung außer Kraft gesetzt. Ein Bei­spiel: Min­de­stens neun­zehn Sui­zid­fäl­le und zwölf Selbst­mord­ver­su­che gin­gen auf das Kon­to der Chefs von France Télé­com: Nach Pri­va­ti­sie­rungs­maß­nah­men drück­te der Kon­zern die »Sanie­rung« durch Psy­cho­ter­ror der Beschäf­tig­ten durch. Sie soll­ten »desta­bi­li­siert« wer­den, bis sie »wenn nicht durch die Tür, dann halt durchs Fen­ster gehen«, wie der dama­li­ge Chef und Bera­ter von Prä­si­dent Sar­ko­zy emp­fahl (vgl. n-tv.de, 11.7.19).

Kon­zer­ne und Ban­ken agie­ren ohne­hin frei von Moral, »Schat­ten­ban­ken« auch frei von Kon­trol­le. Black­Rock etwa als größ­ter Finanz­in­ve­stor der Welt hat eine Ver­fü­gungs­macht über knapp sie­ben Bil­lio­nen US-Dol­lar mit Betei­li­gun­gen an 17.000 gro­ßen Akti­en­ge­sell­schaf­ten – auch allen DAX-Kon­zer­nen. Bei allen gro­ßen deut­schen Woh­nungs­bau­kon­zer­nen – die fünf größ­ten besit­zen über 900.000 Woh­nun­gen – ist Black­Rock unter den Haupt­ak­tio­nä­ren – mit fata­len Fol­gen für Woh­nungs­su­chen­de und Mie­ter. Der Deutsch­land­chef des Finanz­in­ve­stors, Fried­rich Merz, CDU, hat Ambi­tio­nen auf die Kanz­ler­schaft. Er betreibt enga­giert die Pri­va­ti­sie­rung der Alters­ver­sor­gung, im Inter­es­se der Inve­sto­ren, nicht der Rent­ne­rIn­nen. Black­Rock-Chef Lar­ry Fink meint: »Die Welt braucht unse­re Füh­rung« (Le Mon­de diplo­ma­tique, Janu­ar 2020).

Vie­le Men­schen fra­gen aber: Wie­so begren­zen die Poli­ti­ker, die wir dafür bezah­len, nicht die All­macht die­ser gie­ri­gen Mon­ster? Wie kön­nen sie öffent­li­ches Eigen­tum ver­scher­beln? Es hat sich, für alle spür­bar, ein abge­ho­be­nes tota­li­tä­res Macht­sy­stem ent­wickelt, das auf mensch­li­che Bedürf­nis­se kei­ne Rück­sicht zu neh­men bereit ist. Die Men­schen sind auf ihre Rol­le als Kun­de und Arbeits­kraft redu­ziert und emp­fan­gen als Signal der Herr­schen­den: Ihr seid uns sowas von egal! Man fühlt sich anony­men Aus­beu­tern aus­ge­lie­fert. Die Fol­gen sind das Gefühl von Ohn­macht und ein umfas­sen­der Ver­trau­ens­ver­lust – und auch Wut. Der Kon­zern-All­macht steht die Ohn­macht des Sou­ve­räns gegenüber.

 

Fake Rea­li­ty

Wel­che Inter­es­sen bestim­men die Richt­li­ni­en der Poli­tik bei exi­sten­zi­el­len The­men wie Daseins­vor­sor­ge, Mili­ta­ris­mus und Auf­rü­stung, Kli­ma­ka­ta­stro­phe und sozia­le Ungleich­heit? Vom inti­men Zusam­men­spiel der Macht­eli­te, ihren Zie­len und Metho­den soll das Volk nichts erfah­ren. Durch syste­ma­ti­sche Beein­flus­sung der Öffent­lich­keit wird die Rea­li­tät im Sin­ne der Pro­fi­teu­re umge­deu­tet. Die US-Regie­rung ließ sich etwa bera­ten, wie die Kli­ma­ka­ta­stro­phe durch Dis­kre­di­tie­rung wis­sen­schaft­li­cher Ergeb­nis­se so ver­ne­belt wer­den kann, dass kei­ne Maß­nah­men ergrif­fen wer­den müs­sen – bekannt gewor­den durch das gele­ak­te Frank-Luntz-Memo­ran­dum von 2002. Bei The­men wie Auf­rü­stung und impe­ria­le Aus­deh­nung von Ein­fluss­zo­nen sol­len Feind­bil­der die öffent­li­che Mei­nung len­ken, bis die Geschich­te revi­diert wird: So bezich­tig­te die Bun­des­kanz­le­rin Russ­land im Bun­des­tag (27.11.2019), mit sei­nen Angrif­fen bis an die Gren­ze der NATO gekom­men zu sein. Ähn­li­che Ver­dre­hun­gen und Lügen in Pres­se und TV beschrei­ben Vol­ker Bräu­ti­gam und Fried­helm Klink­ham­mer als »Syste­ma­tik der Kol­la­bo­ra­ti­on der Medi­en mit der Regie­rung: Täu­schung, Ablen­kung vom Wesent­li­chen, Unvoll­stän­dig­keit, Ver­harm­lo­sung.« (https://www.rubikon.news/artikel/das-lacheln-der-killer)

Der Krieg um die Köp­fe wird mit »Nar­ra­ti­ven« geführt, also emo­tio­na­len Erzäh­lun­gen, die auf das Unter­be­wuss­te zie­len: Wir­kung statt Wahr­heit, Mani­pu­la­ti­on statt Infor­ma­ti­on. Wenn aber Poli­tik durch die Regie­rungs­par­tei­en als Pro­pa­gan­da betrie­ben wird, genießt sie eine Glaub­wür­dig­keit wie Fern­seh-Wer­bung, näm­lich gar kei­ne – auch wenn sie den­noch Ein­stel­lun­gen und Gefüh­le zu beein­flus­sen ver­mag. Füh­ren­de Per­so­nen gro­ßer Medi­en gehö­ren auch zum Macht­kar­tell; die eng­ma­schi­ge Ver­net­zung demo­kra­tisch nicht legi­ti­mier­ter Lob­by- und Eli­te­ver­bän­de wie Atlan­tik­brücke oder Bil­der­berg Mee­tings wird in einem Schau­bild des Swiss Pro­pa­gan­da Rese­arch gut sicht­bar, vgl. https://swprs.files.wordpress.com/2017/08/netzwerk-medien-deutschland-spr-mt.png

So wird eine Fake Rea­li­ty erzeugt, in der Ver­pflich­tung zu Wahr­haf­tig­keit nach Maß­ga­be der Eli­ten-Inter­es­sen gepflegt wird. Die Mani­pu­la­ti­on dringt durch den tech­ni­schen Fort­schritt in alle Lebens­be­rei­che, um Gedan­ken, Gefüh­le und Ent­schei­dun­gen zu beein­flus­sen. Wie die Mas­sen nach dem Wil­len der Eli­ten zu kon­trol­lie­ren und zu steu­ern sind, hat­te Edward Ber­nays in »Pro­pa­gan­da« schon 1928 beschrie­ben: »Die bewuss­te und intel­li­gen­te Mani­pu­la­ti­on der orga­ni­sier­ten Gewohn­hei­ten und Mei­nun­gen der Mas­sen ist ein wich­ti­ges Ele­ment in der demo­kra­ti­schen Gesell­schaft. Wer die unge­se­he­nen Gesell­schafts­me­cha­nis­men mani­pu­liert, bil­det eine unsicht­ba­re Regie­rung, wel­che die wah­re Herr­scher­macht unse­res Lan­des ist.« (zit. n. Wiki­pe­dia) Bei die­ser Mani­pu­la­ti­on der Mei­nun­gen spiel­ten alle Par­tei­en, die in den letz­ten Jahr­zehn­ten die markt­ra­di­ka­le Poli­tik bestimmt haben, eine nicht zu unter­schät­zen­de Rol­le. Ent­ge­gen Arti­kel 21 Grund­ge­setz, wonach Par­tei­en bei der poli­ti­schen Wil­lens­bil­dung des Vol­kes mit­wir­ken, wuss­ten sie ihre Mei­nungs­macht zu monopolisieren.

Vie­le Men­schen ver­lie­ren die Ori­en­tie­rung. Die Kon­fu­si­on ist beab­sich­tigt: Men­schen las­sen sich so bes­ser len­ken. Durch die All­ge­gen­wart von Mani­pu­la­ti­on wird die Grund­la­ge ver­läss­li­cher Kom­mu­ni­ka­ti­on zer­stört, Wahr­heit wird belie­big. Die Fol­ge: see­li­sche Desta­bi­li­sie­rung und Rea­li­täts­ver­lust. Und es bleibt nicht bei der kogni­ti­ven Ver­wir­rung. Denn schon Klein­kin­der ler­nen, dass Gefüh­le nicht dem Auf­bau siche­rer Bezie­hun­gen die­nen, son­dern der Mani­pu­la­ti­on. Um aber die eige­ne Ohn­macht und Bedeu­tungs­lo­sig­keit zu über­win­den, wol­len man­che an die Öffent­lich­keit drin­gen und als stark wahr­ge­nom­men wer­den, mög­lichst viel Wir­kung erzie­len. Ein biss­chen Macht spü­ren – was Poli­ti­ker und skru­pel­lo­se Ban­ker im Gro­ßen prak­ti­zie­ren: Ein Zeu­ge im CumEx-Pro­zess sprach von »ein biss­chen wie bei Pip­pi Lang­strumpf: Ich mache mir mei­ne Welt so, wie ich sie will«.

Unge­rech­tig­keit, Zer­stö­rung der Daseins­vor­sor­ge, Ohn­macht, Ver­trau­ens- und Rea­li­täts­ver­lust sind men­schen­feind­lich und wecken destruk­ti­ve Ener­gien. Wird die Unter­wer­fung unter die­se patho­ge­ne Schein­welt zur Gewohn­heit, ver­liert man die Wür­de. Man kann sie nicht bewah­ren, indem man sich bes­ser ver­wert­bar macht. Men­schen müs­sen nicht Opfer blei­ben. Auf­leh­nung und Wider­stand gegen ein krank­ma­chen­des System die­nen der Sta­bi­li­sie­rung der psy­chi­schen Exi­stenz und des sozia­len Zusam­men­le­bens. Grund­la­ge für Wider­stand ist Sen­si­bi­li­sie­rung: wahr­neh­men, dass die Gesell­schaft etwa durch Pri­va­ti­sie­rung beraubt und ent­rech­tet wird, dass Men­schen durch Mani­pu­la­ti­on in ihrer Wür­de ver­letzt wer­den. Wider­ste­hen heißt auch, sich für die Gewalt zu sen­si­bi­li­sie­ren, die durch Armut, Flücht­lings­be­kämp­fung oder Auf­rü­stung stän­dig um sich greift. Wir kön­nen aus eige­ner Kraft viel ver­än­dern, wenn wir uns zusammentun.