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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Wessen Staat, wessen Regierung?

Wir haben eine neue Regie­rung! Demo­kra­tisch gewählt, aus­ge­stat­tet mit einer Mehr­heit; ihr Chef ein Poli­ti­ker, den man seit Jahr­zehn­ten gut kennt. Da müss­te doch Auf­bruch­stim­mung und Zuver­sicht herr­schen! Aber laut einer Allens­bach-Umfra­ge für die FAZ setzt nicht mal jeder Vier­te Hoff­nung in die neue Koali­ti­on; Lösun­gen für die Pro­ble­me des Lan­des trau­en ihr 21 Pro­zent der Befrag­ten zu. Bei genau­er Betrach­tung muss man den Skep­ti­kern zustim­men: Wenn die­se Regie­rung mit ihrem Pro­gramm vier Jah­re über­haupt durch­hält, wird sie desa­strö­se sozia­le Ver­hält­nis­se hin­ter­las­sen und die AfD zur stärk­sten Par­tei pushen.

CDU/​CSU und SPD wol­len nicht ver­ste­hen, dass der Pes­si­mis­mus, die mie­se Stim­mung in der Bevöl­ke­rung ein Ergeb­nis ihrer neo­li­be­ra­len Poli­tik der letz­ten 25 Jah­ren ist. Wie soll­ten die Leu­te von der Neu­auf­la­ge der alten Koali­ti­on die Ver­bes­se­rung ihrer Lebens­ver­hält­nis­se erwar­ten? Man fragt sich aller­dings, war­um das Wahl­volk den­noch den Par­tei­en die Mehr­heit für die Regie­rungs­bil­dung ver­schafft, deren Poli­tik sie als unge­recht ein­schätzt: Drei Vier­tel der Bevöl­ke­rung meint, dass in Deutsch­land zu oft das Eltern­haus über die Chan­cen ent­schei­det, die man im Leben hat. Auch die täg­li­chen Mel­dun­gen geben kei­nen Anlass für Hoff­nun­gen: »Arme immer ärmer«, »Gesund­heit immer teu­rer«, »Ende der Acht-Stun­den-Regel?« »Kom­mu­nen plei­te«. Wahl­ent­schei­dend waren des­halb die The­men sozia­le Gerech­tig­keit und Sicher­heit und nicht die von der AFD abge­kup­fer­ten flücht­lings­feind­li­chen For­de­run­gen. Welch ein Wider­sinn: Vie­le wol­len das Ver­trau­en in die Par­tei­en nicht auf­ge­ben, obwohl sie selbst nicht glau­ben, dass es berech­tigt ist.

Der neue Finanz­mi­ni­ster heißt Lars Kling­beil. Er ist ein ver­dien­ter Par­tei­ge­nos­se. Aber wofür steht er eigent­lich, wel­che Zie­le ver­folgt er, wel­che Über­zeu­gun­gen bewe­gen ihn? Über den neu­en Kanz­ler wis­sen wir immer­hin, dass er als Mil­lio­när min­de­stens zwölf Auf­sichts-, Ver­wal­tungs- und Bei­rä­ten in Kon­zer­nen und Ban­ken ange­hör­te; der bedeu­tend­ste Posten war bekannt­lich der Auf­sichts­rats­vor­sitz beim deut­schen Able­ger der Invest­ment­ge­sell­schaft Black­Rock, welt­größ­ter Ver­mö­gens­ver­wal­ter mit ent­spre­chen­dem poli­ti­schem Ein­fluss. Wie kann Fried­rich Merz sei­ne »Kraft dem Woh­le des deut­schen Vol­kes wid­men, sei­nen Nut­zen meh­ren, Scha­den von ihm wen­den«? Oder setzt er das Wohl des Vol­kes mit dem der Kon­zer­ne und Ban­ken gleich, deren Inter­es­sen er bis­lang gedient hat? Die Indu­strie- und Arbeit­ge­ber­ver­bän­de stel­len bereits bekann­te neo­li­be­ra­le For­de­run­gen: BDI-Prä­si­dent Leib­in­ger will Steu­er­ent­la­stun­gen, gerin­ge Ener­gie­ko­sten und Büro­kra­tie­ab­bau. BDA-Prä­si­dent Dil­ger spitzt zu: Weni­ger Steu­ern für die Reich­sten, run­ter mit dem Ren­ten­ni­veau, für pri­va­te Alters­vor­sor­ge, weg mit der »Sozi­al­neid­de­bat­te«; der Staat müs­se end­lich ler­nen, »sei­ne Gier zu zäh­men«. Ein Min­dest­lohn per Gesetz gilt ihm als Kampf­an­sa­ge. Aber er ist zuver­sicht­lich, denn: »Wir haben vie­le Gesprä­che mit Merz geführt. Er hat die Din­ge ver­stan­den, er weiß, was die­ses Land braucht.« Na dann!

Nicht nur Merz, auch Mini­ste­rIn­nen ste­hen Wirt­schafts­in­ter­es­sen nahe, wie Lob­by­Con­trol zeigt: »Meh­re­re Kabi­netts­mit­glie­der sind oder waren im unter­neh­me­ri­schen Lob­by­ver­band Wirt­schafts­rat der CDU tätig, des­sen Vize­prä­si­dent Merz bis 2021 war. Der Wirt­schafts­rat ver­tritt die Inter­es­sen von Groß­kon­zer­nen und Ver­bän­den wie Deut­sche Bank, Nest­lé oder dem VDA.« Die Rüstungs­in­du­strie hält sich noch mit For­de­run­gen zurück, denn sie erlebt ohne­hin eine Auf­trags- und Pro­fit­ex­plo­si­on. Natür­lich arbei­tet sie aber dar­an, die poli­ti­schen Beschrän­kun­gen durch frü­he­re Export­kon­trol­len oder noch bestehen­de Zivil­klau­seln an Uni­ver­si­tä­ten ein für alle Mal los­zu­wer­den. Und die Bun­des­wehr dringt zusam­men mit der Waf­fen­bran­che auf eine neue Rüstungs­of­fen­si­ve, ins­be­son­de­re High-Tech-Pro­jek­te: Hun­der­te Satel­li­ten, Kampf­droh­nen, KI-gesteu­er­te Raketen.

Der Mili­ta­ris­mus bleibt in der neu­en Regie­rung tief ver­an­kert. Der alte und neue Mini­ster für Kriegs­tüch­tig­keit Pisto­ri­us (SPD) steht für mas­si­ve Auf­rü­stung und Kriegs­men­ta­li­tät; er bleibt stand­fest gegen Frie­dens­ver­hand­lun­gen und steht für Kon­flikt­lö­sung durch Gewalt. Treu zur Sei­te steht ihm Außen­mi­ni­ster Wade­phul (CDU), der dar­an fest­hält: »Russ­land wird für immer ein Feind für uns blei­ben.« Das ist qua­si sei­ne Bot­schaft zum 80. Jah­res­tag – der Befrei­ung oder der Nie­der­la­ge Deutsch­lands, Herr Wade­phul? Sei­ne Hal­tung garan­tiert auch in der Zukunft Feind­bil­der und wer­tet Diplo­ma­tie als Schwä­che. Sei­ne Kriegs­men­ta­li­tät ver­bin­det sich bestens mit dem reak­tio­nä­ren Geist des neu­en Staats­mi­ni­sters für Kul­tur und Medi­en, Wolf­ram Wei­mer. Ger­man For­eign Poli­cy zitiert von ihm Äuße­run­gen, die in Abgrün­de blicken las­sen: Der »erd­rutsch­ar­ti­ge Macht­ver­lust« Euro­pas durch die Ent­ko­lo­nia­li­sie­rung macht ihm Sor­gen, und er lobt die »zivi­li­sa­to­ri­sche Lei­stung, die in einer Welt­erobe­rung steckt«. Die­ser Mann soll also die deut­sche Kul­tur för­dern und in der Welt reprä­sen­tie­ren. GFP schließt: »Sei­ne Posi­tio­nen sind geeig­net, eine ideo­lo­gi­sche Grund­la­ge für eine For­mie­rung der EU sowie für eine aggres­siv aus­grei­fen­de Welt­po­li­tik zu stellen.«

Die ersten Maß­nah­men der Regie­rung: Bun­des­in­nen­mi­ni­ster Dob­rindt will sofort nach Amts­an­tritt Asyl­su­chen­de an der Gren­ze zurück­wei­sen las­sen. Der Bun­des­tag sperrt alle Reprä­sen­tan­ten aus Russ­land und Bela­rus von der Gedenk­ver­an­stal­tung zum 80. Jah­res­tag des Kriegs­en­des aus. Vor­her schon durf­te der rus­si­sche Bot­schaf­ter nicht an den Gedenk­ver­an­stal­tun­gen in den Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern Sach­sen­hau­sen und Ravens­brück teil­neh­men. Bei­de Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger waren 1945 von der Roten Armee befreit wor­den. Und die EU- und Nato-Staa­ten haben ihren Luft­raum für alle Staats- und Regie­rungs­chefs gesperrt, die zum »Tag des Sie­ges« nach Mos­kau rei­sen wollen.

Die neu-alte Koali­ti­on lie­fert wei­ter­hin Grün­de, das Ver­trau­en zum Staat und sei­nen Insti­tu­tio­nen, zu den Par­tei­en und zu den Medi­en zu ver­lie­ren: Mehr Rüstung, weni­ger Sozi­al­aus­ga­ben, län­ge­re Arbeits­zeit. Die in Fei­er­tags­re­den beschwo­re­nen Wer­te der Demo­kra­tie und des sozia­len Zusam­men­halts wir­ken als unglaub­wür­di­ge Flos­keln, denn sie wer­den nach und nach zer­stört. Redet die Koali­ti­on von Sicher­heit, denkt sie nicht an Alters­ren­te, Kin­der­gär­ten und Woh­nun­gen, an Frie­dens­ver­trä­ge und Angst­frei­heit, son­dern an immer mehr zer­stö­re­ri­sche Waf­fen­sy­ste­me. Ihre Ant­wort auf Natur­zer­stö­rung und unwirt­li­che Städ­te ist Stand­ort­wett­be­werb und Agrar­busi­ness. Inter­na­tio­na­le Zusam­men­ar­beit und gemein­sa­me Sicher­heit gel­ten selek­tiv, gegen­über BRICS-Staa­ten und dem glo­ba­len Süden domi­nie­ren Feind­er­klä­run­gen und Hege­mo­nie­an­sprü­che. Abseh­ba­re Fol­gen: Die Gesell­schaft wird durch ver­schärf­te neo­li­be­ra­le Maß­nah­men und Zuspit­zung des Mili­ta­ris­mus noch mehr zer­ris­sen, die Lage der Men­schen sozi­al und see­lisch desta­bi­li­siert. Armut, Angst und Depres­si­on, Ver­ro­hung, Hass und Gewalt wer­den wach­sen. Kri­tik und Wider­stand wer­den noch här­ter ver­folgt. Ein Son­der­fall ist das Bekämp­fen der AfD: Die neu­en Nazis sind gefähr­lich. Aber statt ein Ver­bot der rechts­extre­men Par­tei zu for­dern, müss­te man die neo­li­be­ra­le, impe­ria­le Poli­tik bekämp­fen, die in Kern­the­men mit ihr über­ein­stimmt und Faschi­sten stark macht.

Ste­fan Kor­ne­li­us von der SZ ist als neu­er Regie­rungs­spre­cher vor­ge­se­hen. Das erin­nert an eine Stern­stun­de poli­ti­scher Auf­klä­rung, prä­sen­tiert in der sati­ri­schen Sen­dung »die Anstalt« (auf You­Tube vom 29.4.2014, bes. ab Minu­te 36). Auch jetzt, nach elf Jah­ren, wirkt sie als aktu­el­le Ana­ly­se der Poli­tik. Sie seziert die polit-media­len Netz­wer­ke mit ihren Machen­schaf­ten, die im Hin­ter­grund die Fäden zie­hen und für glo­ba­le Kri­sen und die deso­la­te Stim­mung bei den Men­schen ver­ant­wort­lich sind. In zehn Minu­ten erfährt man, wie die Medi­en ent­schei­den­de Hin­ter­grün­de des Ukrai­ne­kon­flikts ver­schwie­gen haben. Wie eng die Leit­me­di­en mit einer gan­zen Rei­he trans­at­lan­ti­scher Thinktanks zur Sicher­heits­po­li­tik ver­bun­den sind und ihre eigent­li­che Kon­troll­funk­ti­on ins Gegen­teil ver­keh­ren. So hat etwa eben jener Ste­fan Kor­ne­li­us als Res­sort­lei­ter Poli­tik der SZ gleich­zei­tig im Bei­rat der Bun­des­aka­de­mie für Sicher­heits­po­li­tik die Bun­des­re­gie­rung bera­ten, die er eigent­lich kri­ti­sie­ren müss­te. Resü­mee von den bril­lan­ten Claus von Wag­ner und Max Uthoff: »Dann sind doch alle die­se Zei­tun­gen nur sowas wie die Lokal­aus­ga­be der Nato-Pres­se­stel­le!« Muss man dank­bar sein, dass die­se bis­si­ge Sati­re bis heu­te nicht als ver­fas­sungs­schutz­re­le­van­te Dele­gi­ti­mie­rung des Staa­tes gecan­celt wur­de? Die Sen­dung schließt übri­gens mit einem berüh­ren­den Frie­dens­ap­pell und einem auf­wüh­len­den Lied von Kon­stan­tin Wecker. Ja, so kann poli­ti­scher Wider­stand auch aus­se­hen. Die Sen­dung wirkt wie aus einer ande­ren Welt.