1.
Die zunehmende Abschottung der Europäischen Union (EU) scheint zu wirken, wie vorläufige Zahlen der EU-Grenzschutzbehörde Frontex mit Sitz in Warschau zeigen. Danach sind die registrierten »irregulären« Grenzübertritte in die EU in den ersten sechs Monaten dieses Jahres um mehr als 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum zurückgegangen.
Die stärksten Rückgänge seien auf der Westbalkanroute (minus 53 Prozent), an den östlichen Landgrenzen (minus 50 Prozent) und auf der westafrikanischen Route (minus 41 Prozent) verzeichnet worden, teilte Frontex mit. Mit »irregulär« sind Grenzübertritte von Personen gemeint, die Grenzen ohne gültige Einreisedokumente passieren. Schutzsuchende hingegen reisen in der Regel ohne Visum ein, um das Recht auf Asyl in Anspruch zu nehmen.
Die verkehrsreichste Migrationsroute in die EU sei der zentrale Mittelmeerraum, auf den 39 Prozent aller »irregulären« Grenzübertritte entfielen, hieß es. Dort habe es in den ersten sechs Monaten dieses Jahr eine Zunahme um zwölf Prozent im Vergleich zum ersten Halbjahr 2024 gegeben.
Deutlich zugenommen haben nach Frontex-Angaben die irregulären Ausreisen nach Großbritannien, nämlich um 23 Prozent auf 33.215 Personen im ersten Halbjahr.
2.
Drastisch gesunken ist auch die Zahl der in Deutschland gestellten Asylanträge. Zwischen dem 1. Januar und dem 30. Juni wurden bundesweit 65.495 Asylanträge gemeldet – das ist ein Rückgang von 43 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Das geht aus einem Bericht der EU-Kommission hervor, über den die WELT AM SONNTAG am 7. Juli berichtete. Nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge handelt es sich statistisch bereinigt sogar nur um 61.336 Menschen, die erstmals einen Antrag auf Schutz in Deutschland stellten.
Erstmals seit Jahren ist Deutschland damit gemessen an der Zahl der Schutzanträge nicht mehr Spitzenreiter in Europa, sondern steht nun an dritter Stelle. Die meisten Asylanträge in der EU meldete Spanien (76.020), gefolgt von Frankreich (75.428). Schlusslichter sind Ungarn (47 Asylanträge), die Slowakei (84) und Litauen (152).
Dem deutlichen Rückgang der in Deutschland und Europa gemeldeten Asylanträge folgen Rufe nach weiteren Schritten, um Migration zu begrenzen. Der Bericht der EU-Kommission zeige, »dass die Maßnahmen wirken«, sagte der EU-Abgeordnete Jan Christoph Oetjen (FDP). »Aber darauf darf man sich jetzt nicht ausruhen. Wir müssen weiter dafür sorgen, dass wir die Migrationsfrage in der gesamten EU in den Griff bekommen.« Dazu gehöre auch die weitere Stärkung von Frontex zum Schutz der Außengrenzen. »Gerade hier müssen wir ansetzen und die Grenzschutzagentur weiter ausbauen.«
3.
Ein wesentlicher Grund für den Rückgang der Zahlen, so die EU-Migrationsexpertin Lena Düpont (CDU), seien eine verstärkte Kooperation zwischen Drittstaaten und der EU-Grenzschutzbehörde Frontex – und die Partnerschaftsabkommen mit wichtigen nordafrikanischen Ländern. Die WELT AM SONNTAG schreibt: »Die neuen, teilweise milliardenschweren Unterstützungspakete, welche die EU-Kommission unter Führung von Präsidentin Ursula von der Leyen in der Vergangenheit an Länder wie Tunesien oder Ägypten vergeben hatte (Länder mit vielen Bürger- und Menschenrechtsverletzungen) gelten als äußerst erfolgreich. Der Deal: Die Länder können Kredite und Investitionen aus der EU nutzen, um das heimische Gesundheits- und Bildungswesen zu verbessern, aber auch, um ihre Sicherheitsbehörden und den Grenzschutz auszubauen. Ziel ist, die Länder wirtschaftlich zu stärken und so auch die Gründe für Migration zu reduzieren.«
Das ist aber nicht die ganze Wahrheit: Ziel ist, dass die Länder selbst die Flüchtlinge am Verlassen ihrer Länder hindern.
Schätzungen zufolge wurden von der EU zwischen 2014 und 2020 mehr als 13 Milliarden Euro an Staaten außerhalb ihres Hoheitsgebietes bereitgestellt, damit sie Migration nach Europa verhindert. Offiziell laufen diese Zahlungen unter dem Deckmantel der Entwicklungspolitik. Ein gutes Beispiel dafür ist das Abkommen zwischen der EU und Tunesien, das federführend von der Postfaschistin Giorgia Meloni vermittelt und ausgehandelt wurde. Während das Abkommen zunächst als eine Form der Entwicklungszusammenarbeit dargestellt wurde, zeigen veröffentlichte Details, dass der Fokus auf der Verhinderung illegalisierter Migration liegt, während die Freizügigkeit der tunesischen Eliten durch ein Erasmus-Bildungs-Programm in Europa gefördert werden soll. All das im Namen der Entwicklung.
Dabei ist der Einsatz von Entwicklungszusammenarbeit zur Verhinderung von Migration schon in sich ein Widerspruch. Seit den 1990er Jahren herrscht in den Migrationswissenschaften weitgehende Einigkeit, dass wirtschaftliche Entwicklung die Auswanderung verstärkt. Die EU scheint nichtsdestotrotz entschlossen, derartige Programme noch auszuweiten. Seit 2021 hat die EU vierzehn erneuerte oder neue Migrationsabkommen bekanntgegeben. Dabei liegt der zentrale regionale Fokus auf Nordafrika. Ein zweiter strategischer Schwerpunkt ist in Osteuropa und den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens angesiedelt. Außerdem ist die EU aktuell bemüht, Ägypten, Mauretanien und Senegal zu zwingen, Bewegungsfreiheit und Asylrechte in ihrem Namen einzuschränken. Diese Politik läuft allerdings selten widerstandlos ab. So wurde z. B. im Senegal kürzlich eine Kampagne mit dem Ziel die Tätigkeiten von Frontex im Land zu stoppen, ins Leben gerufen. Die Menschen prangern an »wie die EU mit [ihren] Regimen zusammenarbeitet, um Menschen im Mittelmeer und in den Transitländern zu töten«.
4.
Das zunächst abstrakte System wirtschaftlicher und politischer Erpressung wird zu gezielt eingesetzter tödlicher Gewalt gegen Menschen, die sich auf den so genannten irregulären Migrationsrouten nach Europa bewegen und dabei den falschen Pass halten. Das US-amerikanische Magazin Jacobin im Januar 2024: »Dazu gehören die 37 Menschen, die Spaniens und Marokkos Grenzbeamte im Sommer 2022 am Zaun von Melilla massakrierten, die 49 Toten und mehr als 200 Vermissten an der Grenze zwischen Weißrussland und Polen, die 603 Toten auf dem Weg zu den Kanarischen Inseln allein im Jahr 2023, die mehr als 28.000 Menschen, die seit 2014 im Mittelmeer ertrunken sind und auch die 2.016 Menschen, die seit 2018 auf den nordafrikanischen Landrouten starben – ganz zu schweigen von der um ein Vielfaches höheren Dunkelziffer. Direkte und indirekte, aktive und aufgetragene Tötungen sind das Ergebnis gezielter politischer Entscheidungen der EU und ihrer Mitgliedstaaten.«
Die Absichten dahinter sind klar: Man leugnet jegliche Menschlichkeit und jegliche Rechte von Menschen auf der Flucht. Der Politökonom Robin Jaspert in Jacobin: »Man lässt sie noch weit vor den Grenzen Europas sterben, damit man nicht dafür verantwortlich gemacht werden kann. Oder noch besser: Man macht direkt afrikanische Regierungen dafür verantwortlich, was Unterstützer einer weißen Vorherrschaft in Europa entschieden haben. Die rassifizierte Trennung zwischen den Menschen des globalen Südens und des globalen Nordens ist völlig intakt. Die Tötung von mehr als 30.000 unschuldigen Menschen ist nur möglich, weil sie keine Angehörigen von Staaten des Globalen Nordens und nicht weiß sind.«
5.
Zugleich schlägt die Europäische Kommission regelmäßig neue Maßnahmen vor, um »Fähigkeiten und Talente« anzuziehen. Für den angekündigten »grünen und digitalen Wandel« will die EU zwölf Millionen zusätzlicher Immigranten anziehen und auf ihrem Boden ausbeuten. Robin Jaspert: »Auch das ist eine gezielte politische Entscheidung: Während einige Klassen von Migranten auf ihrem Weg nach Europa umgebracht werden, werden andere dazu ermutigt, die demografischen Lücken in der arbeitenden Bevölkerung in der EU zu füllen. Das Ziel dieser Politik ist eine gespaltene Arbeiterklasse mit großem rassifiziertem Anteil – Menschen, die in ständiger Aufenthaltsprekarität lebt. Denn diese Arbeitskräfte sind leichter zu disziplinieren, auszubeuten und zu unterdrücken. Unsichere Aufenthaltstitel sind so zu einem wichtigen Instrument geworden, um eine ständig verfügbare Niedriglohnklasse und auch eine potenzielle Reservearmee an Arbeitskräften aufzubauen.«