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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Abschottung Europas zeigt Wirkung

1.
Die zuneh­men­de Abschot­tung der Euro­päi­schen Uni­on (EU) scheint zu wir­ken, wie vor­läu­fi­ge Zah­len der EU-Grenz­schutz­be­hör­de Fron­tex mit Sitz in War­schau zei­gen. Danach sind die regi­strier­ten »irre­gu­lä­ren« Grenz­über­trit­te in die EU in den ersten sechs Mona­ten die­ses Jah­res um mehr als 20 Pro­zent im Ver­gleich zum Vor­jah­res­zeit­raum zurückgegangen.

Die stärk­sten Rück­gän­ge sei­en auf der West­bal­kan­rou­te (minus 53 Pro­zent), an den öst­li­chen Land­gren­zen (minus 50 Pro­zent) und auf der west­afri­ka­ni­schen Rou­te (minus 41 Pro­zent) ver­zeich­net wor­den, teil­te Fron­tex mit. Mit »irre­gu­lär« sind Grenz­über­trit­te von Per­so­nen gemeint, die Gren­zen ohne gül­ti­ge Ein­rei­se­do­ku­men­te pas­sie­ren. Schutz­su­chen­de hin­ge­gen rei­sen in der Regel ohne Visum ein, um das Recht auf Asyl in Anspruch zu nehmen.

Die ver­kehrs­reich­ste Migra­ti­ons­rou­te in die EU sei der zen­tra­le Mit­tel­meer­raum, auf den 39 Pro­zent aller »irre­gu­lä­ren« Grenz­über­trit­te ent­fie­len, hieß es. Dort habe es in den ersten sechs Mona­ten die­ses Jahr eine Zunah­me um zwölf Pro­zent im Ver­gleich zum ersten Halb­jahr 2024 gegeben.

Deut­lich zuge­nom­men haben nach Fron­tex-Anga­ben die irre­gu­lä­ren Aus­rei­sen nach Groß­bri­tan­ni­en, näm­lich um 23 Pro­zent auf 33.215 Per­so­nen im ersten Halbjahr.

2.
Dra­stisch gesun­ken ist auch die Zahl der in Deutsch­land gestell­ten Asyl­an­trä­ge. Zwi­schen dem 1. Janu­ar und dem 30. Juni wur­den bun­des­weit 65.495 Asyl­an­trä­ge gemel­det – das ist ein Rück­gang von 43 Pro­zent im Ver­gleich zum Vor­jah­res­zeit­raum. Das geht aus einem Bericht der EU-Kom­mis­si­on her­vor, über den die WELT AM SONNTAG am 7. Juli berich­te­te. Nach Anga­ben des Bun­des­am­tes für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge han­delt es sich sta­ti­stisch berei­nigt sogar nur um 61.336 Men­schen, die erst­mals einen Antrag auf Schutz in Deutsch­land stellten.

Erst­mals seit Jah­ren ist Deutsch­land damit gemes­sen an der Zahl der Schutz­an­trä­ge nicht mehr Spit­zen­rei­ter in Euro­pa, son­dern steht nun an drit­ter Stel­le. Die mei­sten Asyl­an­trä­ge in der EU mel­de­te Spa­ni­en (76.020), gefolgt von Frank­reich (75.428). Schluss­lich­ter sind Ungarn (47 Asyl­an­trä­ge), die Slo­wa­kei (84) und Litau­en (152).

Dem deut­li­chen Rück­gang der in Deutsch­land und Euro­pa gemel­de­ten Asyl­an­trä­ge fol­gen Rufe nach wei­te­ren Schrit­ten, um Migra­ti­on zu begren­zen. Der Bericht der EU-Kom­mis­si­on zei­ge, »dass die Maß­nah­men wir­ken«, sag­te der EU-Abge­ord­ne­te Jan Chri­stoph Oet­jen (FDP). »Aber dar­auf darf man sich jetzt nicht aus­ru­hen. Wir müs­sen wei­ter dafür sor­gen, dass wir die Migra­ti­ons­fra­ge in der gesam­ten EU in den Griff bekom­men.« Dazu gehö­re auch die wei­te­re Stär­kung von Fron­tex zum Schutz der Außen­gren­zen. »Gera­de hier müs­sen wir anset­zen und die Grenz­schutz­agen­tur wei­ter ausbauen.«

3.
Ein wesent­li­cher Grund für den Rück­gang der Zah­len, so die EU-Migra­ti­ons­exper­tin Lena Düpont (CDU), sei­en eine ver­stärk­te Koope­ra­ti­on zwi­schen Dritt­staa­ten und der EU-Grenz­schutz­be­hör­de Fron­tex – und die Part­ner­schafts­ab­kom­men mit wich­ti­gen nord­afri­ka­ni­schen Län­dern. Die WELT AM SONNTAG schreibt: »Die neu­en, teil­wei­se mil­li­ar­den­schwe­ren Unter­stüt­zungs­pa­ke­te, wel­che die EU-Kom­mis­si­on unter Füh­rung von Prä­si­den­tin Ursu­la von der Ley­en in der Ver­gan­gen­heit an Län­der wie Tune­si­en oder Ägyp­ten ver­ge­ben hat­te (Län­der mit vie­len Bür­ger- und Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen) gel­ten als äußerst erfolg­reich. Der Deal: Die Län­der kön­nen Kre­di­te und Inve­sti­tio­nen aus der EU nut­zen, um das hei­mi­sche Gesund­heits- und Bil­dungs­we­sen zu ver­bes­sern, aber auch, um ihre Sicher­heits­be­hör­den und den Grenz­schutz aus­zu­bau­en. Ziel ist, die Län­der wirt­schaft­lich zu stär­ken und so auch die Grün­de für Migra­ti­on zu reduzieren.«

Das ist aber nicht die gan­ze Wahr­heit: Ziel ist, dass die Län­der selbst die Flücht­lin­ge am Ver­las­sen ihrer Län­der hindern.

Schät­zun­gen zufol­ge wur­den von der EU zwi­schen 2014 und 2020 mehr als 13 Mil­li­ar­den Euro an Staa­ten außer­halb ihres Hoheits­ge­bie­tes bereit­ge­stellt, damit sie Migra­ti­on nach Euro­pa ver­hin­dert. Offi­zi­ell lau­fen die­se Zah­lun­gen unter dem Deck­man­tel der Ent­wick­lungs­po­li­tik. Ein gutes Bei­spiel dafür ist das Abkom­men zwi­schen der EU und Tune­si­en, das feder­füh­rend von der Post­fa­schi­stin Gior­gia Melo­ni ver­mit­telt und aus­ge­han­delt wur­de. Wäh­rend das Abkom­men zunächst als eine Form der Ent­wick­lungs­zu­sam­men­ar­beit dar­ge­stellt wur­de, zei­gen ver­öf­fent­lich­te Details, dass der Fokus auf der Ver­hin­de­rung ille­ga­li­sier­ter Migra­ti­on liegt, wäh­rend die Frei­zü­gig­keit der tune­si­schen Eli­ten durch ein Eras­mus-Bil­dungs-Pro­gramm in Euro­pa geför­dert wer­den soll. All das im Namen der Entwicklung.

Dabei ist der Ein­satz von Ent­wick­lungs­zu­sam­men­ar­beit zur Ver­hin­de­rung von Migra­ti­on schon in sich ein Wider­spruch. Seit den 1990er Jah­ren herrscht in den Migra­ti­ons­wis­sen­schaf­ten weit­ge­hen­de Einig­keit, dass wirt­schaft­li­che Ent­wick­lung die Aus­wan­de­rung ver­stärkt. Die EU scheint nichts­de­sto­trotz ent­schlos­sen, der­ar­ti­ge Pro­gram­me noch aus­zu­wei­ten. Seit 2021 hat die EU vier­zehn erneu­er­te oder neue Migra­ti­ons­ab­kom­men bekannt­ge­ge­ben. Dabei liegt der zen­tra­le regio­na­le Fokus auf Nord­afri­ka. Ein zwei­ter stra­te­gi­scher Schwer­punkt ist in Ost­eu­ro­pa und den Staa­ten des ehe­ma­li­gen Jugo­sla­wi­ens ange­sie­delt. Außer­dem ist die EU aktu­ell bemüht, Ägyp­ten, Mau­re­ta­ni­en und Sene­gal zu zwin­gen, Bewe­gungs­frei­heit und Asyl­rech­te in ihrem Namen ein­zu­schrän­ken. Die­se Poli­tik läuft aller­dings sel­ten wider­stand­los ab. So wur­de z. B. im Sene­gal kürz­lich eine Kam­pa­gne mit dem Ziel die Tätig­kei­ten von Fron­tex im Land zu stop­pen, ins Leben geru­fen. Die Men­schen pran­gern an »wie die EU mit [ihren] Regi­men zusam­men­ar­bei­tet, um Men­schen im Mit­tel­meer und in den Tran­sit­län­dern zu töten«.

4.
Das zunächst abstrak­te System wirt­schaft­li­cher und poli­ti­scher Erpres­sung wird zu gezielt ein­ge­setz­ter töd­li­cher Gewalt gegen Men­schen, die sich auf den so genann­ten irre­gu­lä­ren Migra­ti­ons­rou­ten nach Euro­pa bewe­gen und dabei den fal­schen Pass hal­ten. Das US-ame­ri­ka­ni­sche Maga­zin Jaco­bin im Janu­ar 2024: »Dazu gehö­ren die 37 Men­schen, die Spa­ni­ens und Marok­kos Grenz­be­am­te im Som­mer 2022 am Zaun von Mel­il­la mas­sa­krier­ten, die 49 Toten und mehr als 200 Ver­miss­ten an der Gren­ze zwi­schen Weiß­russ­land und Polen, die 603 Toten auf dem Weg zu den Kana­ri­schen Inseln allein im Jahr 2023, die mehr als 28.000 Men­schen, die seit 2014 im Mit­tel­meer ertrun­ken sind und auch die 2.016 Men­schen, die seit 2018 auf den nord­afri­ka­ni­schen Land­rou­ten star­ben – ganz zu schwei­gen von der um ein Viel­fa­ches höhe­ren Dun­kel­zif­fer. Direk­te und indi­rek­te, akti­ve und auf­ge­tra­ge­ne Tötun­gen sind das Ergeb­nis geziel­ter poli­ti­scher Ent­schei­dun­gen der EU und ihrer Mitgliedstaaten.«

Die Absich­ten dahin­ter sind klar: Man leug­net jeg­li­che Mensch­lich­keit und jeg­li­che Rech­te von Men­schen auf der Flucht. Der Polit­öko­nom Robin Jas­pert in Jaco­bin: »Man lässt sie noch weit vor den Gren­zen Euro­pas ster­ben, damit man nicht dafür ver­ant­wort­lich gemacht wer­den kann. Oder noch bes­ser: Man macht direkt afri­ka­ni­sche Regie­run­gen dafür ver­ant­wort­lich, was Unter­stüt­zer einer wei­ßen Vor­herr­schaft in Euro­pa ent­schie­den haben. Die ras­si­fi­zier­te Tren­nung zwi­schen den Men­schen des glo­ba­len Südens und des glo­ba­len Nor­dens ist völ­lig intakt. Die Tötung von mehr als 30.000 unschul­di­gen Men­schen ist nur mög­lich, weil sie kei­ne Ange­hö­ri­gen von Staa­ten des Glo­ba­len Nor­dens und nicht weiß sind.«

5.
Zugleich schlägt die Euro­päi­sche Kom­mis­si­on regel­mä­ßig neue Maß­nah­men vor, um »Fähig­kei­ten und Talen­te« anzu­zie­hen. Für den ange­kün­dig­ten »grü­nen und digi­ta­len Wan­del« will die EU zwölf Mil­lio­nen zusätz­li­cher Immi­gran­ten anzie­hen und auf ihrem Boden aus­beu­ten. Robin Jas­pert: »Auch das ist eine geziel­te poli­ti­sche Ent­schei­dung: Wäh­rend eini­ge Klas­sen von Migran­ten auf ihrem Weg nach Euro­pa umge­bracht wer­den, wer­den ande­re dazu ermu­tigt, die demo­gra­fi­schen Lücken in der arbei­ten­den Bevöl­ke­rung in der EU zu fül­len. Das Ziel die­ser Poli­tik ist eine gespal­te­ne Arbei­ter­klas­se mit gro­ßem ras­si­fi­zier­tem Anteil – Men­schen, die in stän­di­ger Auf­ent­haltspre­ka­ri­tät lebt. Denn die­se Arbeits­kräf­te sind leich­ter zu dis­zi­pli­nie­ren, aus­zu­beu­ten und zu unter­drücken. Unsi­che­re Auf­ent­halts­ti­tel sind so zu einem wich­ti­gen Instru­ment gewor­den, um eine stän­dig ver­füg­ba­re Nied­rig­lohn­klas­se und auch eine poten­zi­el­le Reser­ve­ar­mee an Arbeits­kräf­ten aufzubauen.«

Ausgabe 15.16/2025