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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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»Adieu Wolodja«

Die vor vier­zig Jah­ren, am 30. Sep­tem­ber 1985 ver­stor­be­ne fran­zö­si­sche Schau­spie­le­rin Simo­ne Signo­ret war auch eine beacht­li­che Schrift­stel­le­rin. Davon zeugt ihr ein­zi­ger, knapp vor ihrem Able­ben erschie­ne­ner Roman »Adieu Wolod­ja«, der uns heu­te nicht nur lite­ra­risch noch eini­ges zu sagen hat, son­dern vor allem aktu­ell auch poli­tisch. Denn es geht um eine Geschich­te von Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­nern, nament­lich den »Gutt­mans, Rog­in­skis, Nuss­baums, Katz‹, Sterns« und ande­rer, die den anti­se­mi­ti­schen Pogro­men der ersten Jahr­zehn­te des 20. Jahr­hun­derts in Polen und der West­ukrai­ne ent­kom­men waren und haupt­säch­lich mit Leder- und Schnei­der­hand­werk in Paris sess­haft wur­den. Das wirt­schaft­li­che und per­sön­li­che Auf und Ab der Akteu­re der teil­wei­se in ihrem Eigen­tum ste­hen­den Hand­werks­be­trie­be oder einer »Koope­ra­ti­ve« bil­det den Rah­men der Geschichte.

»Petl­ju­ra ist ermor­det wor­den«, heißt das erste Kapi­tel. Erst fünf­hun­dert Sei­ten spä­ter erfährt man in die­sem kunst­voll und span­nend kon­stru­ier­ten histo­ri­schen Roman durch zitier­te Zei­tungs­aus­schnit­te aus dem Jahr 1926 prä­zi­se­res: »26. Mai. Petl­ju­ra, ehe­ma­li­ger Dik­ta­tor der Ukrai­ne, in Paris durch Lands­mann ermor­det (Echo de Paris)«. 150 Sei­ten davor hat­te man bereits über den Täter Samu­el Schwartzbard und den gegen ihn ange­streng­ten auf­se­hen­er­re­gen­den Pro­zess im Okto­ber 1927 erfah­ren. Der aus Bes­sa­ra­bi­en stam­men­de, seit 1910 in Paris leben­de, dann ein­ge­bür­ger­te Schwartzbard hat­te den durch die Sowjet­macht und die Rote Armee besieg­ten und nach Frank­reich ent­kom­me­nen ukrai­ni­schen Kurz­zeit-Prä­si­den­ten auf offe­ner Stra­ße nie­der­ge­schos­sen und sich wider­stands­los fest­neh­men las­sen. Er galt als Anar­chist, dien­te im Ersten Welt­krieg drei Jah­re lang in der fran­zö­si­schen Armee und von 1918 bis 1920 als Sol­dat der Roten Armee in der Ukrai­ne, wo er die von Pogro­men ver­wü­ste­ten Orte sah. Zudem wur­den fünf­zehn Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge Schwartzbards, ein­schließ­lich sei­ner Eltern, in anti­jü­di­schen Pogro­men getötet.

Pro­zess­de­tails und poli­ti­sche Ana­ly­sen sind nicht Gegen­stand des Romans. Der anti­bol­sche­wi­sti­sche Kampf des ukrai­ni­schen Kurz­zeit­re­gimes war vor allem einer gegen die jüdi­sche Bevöl­ke­rung. Die anti­se­mi­ti­schen Gemet­zel unter dem Kom­man­do Petl­ju­ras konn­ten vom kom­mu­ni­sti­schen Star­ver­tei­di­ger Schwartzbards, Hen­ry Tor­rès, der­art minu­ti­ös durch Zeu­gen nach­ge­wie­sen wer­den, dass die extra aus der Ukrai­ne ange­rei­sten zusätz­li­chen »acht­zig Zeu­gen« der Ver­tei­di­gung, so Signo­ret im Roman, ohne Aus­sa­ge wie­der zurück­fah­ren konn­ten, weil für das Gericht die Sache bereits klar war: Frei­spruch Schwartzbards, da es sich zwar um ein »Ver­bre­chen aus Lei­den­schaft« gehan­delt habe, die­se aber aus sei­ner berech­tig­ten Empö­rung gespeist war. Vie­le pro­mi­nen­te Unter­stüt­zer wie Albert Ein­stein, Tho­mas Masa­ryk oder Romain Rolland hat­ten sich für Schwartzbard ein­ge­setzt, und zudem war die »Drey­fus-Affä­re« noch prä­sent, ja die­ser selbst leb­te noch.

Und Wolod­ja? Signo­rets Roman­kon­struk­ti­on weist ihm den Platz als Cou­sin von Elie Gutt­man zu. Wla­di­mir Gutt­man, ali­as Wolod­ja, galt als ver­schol­len oder ermor­det, wäh­rend dem Rest der Fami­lie die Flucht »aus der Gegend von Schi­to­mir« (west­lich von Kiew) nach Frank­reich gelun­gen war. Als Zeu­ge der Ver­tei­di­gung Schwartzbards erscheint die­ser Wla­di­mir über­ra­schend, von einer Pogrom­ver­let­zung gezeich­net, zum Pro­zess in Paris und hin­ter­lässt den Ver­wand­ten sei­ne vor Pogro­men offen­bar siche­re­re neue Adres­se: Pol­ta­wa in der Ost­ukrai­ne, ca. 100 km west­lich von Char­kow. Nach wie­der­um lan­ger ver­wandt­schaft­li­cher Funk­stil­le erhielt Elie Gutt­mann 1938 einen Brief »eines Mon­sieur D.« aus Zürich: Der Kom­mu­nist Wolod­ja sei nach Sibi­ri­en ver­schickt wor­den und dort gestorben.

Aber das Schick­sal der zu Fran­zo­sen gewor­de­nen jüdi­schen Ukrai­ner ist für Signo­ret damit noch nicht zu Ende. Sie setzt ihnen noch ein Denk­mal als uner­schrocke­ne Kämp­fe­rin­nen und Kämp­fer der Rési­stance. Und sie fragt schließ­lich, ob »die Last der Lei­chen von Mil­lio­nen ech­ter Hel­den« die Kno­chen des Wla­di­mir Gutt­man ver­ges­sen las­sen müss­ten? – »Das wür­de hei­ßen: Adieu, Wolodja.«