Die vor vierzig Jahren, am 30. September 1985 verstorbene französische Schauspielerin Simone Signoret war auch eine beachtliche Schriftstellerin. Davon zeugt ihr einziger, knapp vor ihrem Ableben erschienener Roman »Adieu Wolodja«, der uns heute nicht nur literarisch noch einiges zu sagen hat, sondern vor allem aktuell auch politisch. Denn es geht um eine Geschichte von Ukrainerinnen und Ukrainern, namentlich den »Guttmans, Roginskis, Nussbaums, Katz‹, Sterns« und anderer, die den antisemitischen Pogromen der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts in Polen und der Westukraine entkommen waren und hauptsächlich mit Leder- und Schneiderhandwerk in Paris sesshaft wurden. Das wirtschaftliche und persönliche Auf und Ab der Akteure der teilweise in ihrem Eigentum stehenden Handwerksbetriebe oder einer »Kooperative« bildet den Rahmen der Geschichte.
»Petljura ist ermordet worden«, heißt das erste Kapitel. Erst fünfhundert Seiten später erfährt man in diesem kunstvoll und spannend konstruierten historischen Roman durch zitierte Zeitungsausschnitte aus dem Jahr 1926 präziseres: »26. Mai. Petljura, ehemaliger Diktator der Ukraine, in Paris durch Landsmann ermordet (Echo de Paris)«. 150 Seiten davor hatte man bereits über den Täter Samuel Schwartzbard und den gegen ihn angestrengten aufsehenerregenden Prozess im Oktober 1927 erfahren. Der aus Bessarabien stammende, seit 1910 in Paris lebende, dann eingebürgerte Schwartzbard hatte den durch die Sowjetmacht und die Rote Armee besiegten und nach Frankreich entkommenen ukrainischen Kurzzeit-Präsidenten auf offener Straße niedergeschossen und sich widerstandslos festnehmen lassen. Er galt als Anarchist, diente im Ersten Weltkrieg drei Jahre lang in der französischen Armee und von 1918 bis 1920 als Soldat der Roten Armee in der Ukraine, wo er die von Pogromen verwüsteten Orte sah. Zudem wurden fünfzehn Familienangehörige Schwartzbards, einschließlich seiner Eltern, in antijüdischen Pogromen getötet.
Prozessdetails und politische Analysen sind nicht Gegenstand des Romans. Der antibolschewistische Kampf des ukrainischen Kurzzeitregimes war vor allem einer gegen die jüdische Bevölkerung. Die antisemitischen Gemetzel unter dem Kommando Petljuras konnten vom kommunistischen Starverteidiger Schwartzbards, Henry Torrès, derart minutiös durch Zeugen nachgewiesen werden, dass die extra aus der Ukraine angereisten zusätzlichen »achtzig Zeugen« der Verteidigung, so Signoret im Roman, ohne Aussage wieder zurückfahren konnten, weil für das Gericht die Sache bereits klar war: Freispruch Schwartzbards, da es sich zwar um ein »Verbrechen aus Leidenschaft« gehandelt habe, diese aber aus seiner berechtigten Empörung gespeist war. Viele prominente Unterstützer wie Albert Einstein, Thomas Masaryk oder Romain Rolland hatten sich für Schwartzbard eingesetzt, und zudem war die »Dreyfus-Affäre« noch präsent, ja dieser selbst lebte noch.
Und Wolodja? Signorets Romankonstruktion weist ihm den Platz als Cousin von Elie Guttman zu. Wladimir Guttman, alias Wolodja, galt als verschollen oder ermordet, während dem Rest der Familie die Flucht »aus der Gegend von Schitomir« (westlich von Kiew) nach Frankreich gelungen war. Als Zeuge der Verteidigung Schwartzbards erscheint dieser Wladimir überraschend, von einer Pogromverletzung gezeichnet, zum Prozess in Paris und hinterlässt den Verwandten seine vor Pogromen offenbar sicherere neue Adresse: Poltawa in der Ostukraine, ca. 100 km westlich von Charkow. Nach wiederum langer verwandtschaftlicher Funkstille erhielt Elie Guttmann 1938 einen Brief »eines Monsieur D.« aus Zürich: Der Kommunist Wolodja sei nach Sibirien verschickt worden und dort gestorben.
Aber das Schicksal der zu Franzosen gewordenen jüdischen Ukrainer ist für Signoret damit noch nicht zu Ende. Sie setzt ihnen noch ein Denkmal als unerschrockene Kämpferinnen und Kämpfer der Résistance. Und sie fragt schließlich, ob »die Last der Leichen von Millionen echter Helden« die Knochen des Wladimir Guttman vergessen lassen müssten? – »Das würde heißen: Adieu, Wolodja.«