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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Alter als soziales Konstrukt

Dass jede kapi­ta­li­sti­sche Gesell­schaft Ungleich­heit pro­du­ziert, gan­ze Bevöl­ke­rungs­grup­pen sozi­al benach­tei­ligt, ist an sich bekannt. Eher sel­ten the­ma­ti­siert wird aller­dings die dem Kapi­ta­lis­mus inne­woh­nen­de struk­tu­rel­le Alters­dis­kri­mi­nie­rung. Der Autor des hier vor­ge­stell­ten Buches – der öster­rei­chi­sche Sozio­lo­ge Andre­as Stück­ler – beschäf­tigt sich vor­ran­gig mit dem irra­tio­na­len Cha­rak­ter sol­cher Altersdiskriminierung.

Wie Stück­ler anhand umfäng­li­chen Zah­len­ma­te­ri­als nach­weist, ist Alter weni­ger eine bio­lo­gi­sche Tat­sa­che als viel­mehr eine sozia­le Kon­struk­ti­on. Das Her­aus­fal­len aus dem Arbeits­pro­zess wird in der Indu­strie­ge­sell­schaft als Alters­ru­he insti­tu­tio­na­li­siert – in vor­in­du­stri­el­len Gesell­schaf­ten exi­stier­te fak­tisch kei­ne Tren­nung von Alter und Lohnarbeit.

Wie der Autor zeigt, waren die Jahr­hun­der­te des frü­hen Kapi­ta­lis­mus für die Mehr­heit der euro­päi­schen Bevöl­ke­rung eine Zeit tief­ster Not. Bis zur Mit­te des 17. Jahr­hun­derts scheint die Lebens­er­war­tung in West­eu­ro­pa im Zuge der Durch­set­zung des Kapi­ta­lis­mus im Ver­gleich zum Spät­mit­tel­al­ter eher gesun­ken zu sein. Ein Anstei­gen des Lebens­al­ters der Bevöl­ke­rungs­mehr­heit ist dann erst seit dem Beginn der Indu­stria­li­sie­rung nach­weis­bar – in Öster­reich bei­spiels­wei­se konn­ten Män­ner um das Jahr 1910 nur mit einer durch­schnitt­li­chen Lebens­er­war­tung von 44 Jah­ren rech­nen, etwa zeit­gleich waren kaum mehr als 5 Pro­zent der deut­schen Bevöl­ke­rung älter als 65 Jahre.

Die­se Ent­wick­lung gab es zeit­ver­setzt über­all in der Welt. Die im Ver­gleich zu vor­mo­der­nen Gesell­schaf­ten sehr spe­zi­fi­sche Grund­struk­tur der kapi­ta­li­sti­schen Gesell­schaft, mit der geld­för­mi­gen Ver­wer­tung von Arbeit als Zen­trum, ist heu­te fak­tisch auf dem gesam­ten Glo­bus durch­ge­setzt. Wie es im Buch heißt, wur­de die bis­her welt­weit höch­ste durch­schnitt­li­che Lebens­er­war­tung (84 Jah­re) bei einer Erhe­bung im Jah­re 2016 in Japan nach­ge­wie­sen – die nied­rig­ste zeit­gleich in der Zen­tral­afri­ka­ni­schen Repu­blik (ca. 50 Jah­re). In der Geschich­te der Mensch­heit ins­ge­samt wur­de noch nie von so vie­len Men­schen ein so hohes Alter erreicht – der Preis dafür war und ist jedoch eine zuneh­men­de Pre­ka­ri­sie­rung der Lebens­ver­hält­nis­se altern­der Menschen.

Die Ent­ste­hung der Insti­tu­ti­on Alters­heim hat­te ihre Wur­zeln in der Ver­sor­gung inva­li­der Sol­da­ten in der Peri­ode des frü­hen Kapi­ta­lis­mus. Pen­si­ons­sy­ste­me sorg­ten dann zu Beginn der Indu­stria­li­sie­rung für die Akzep­tanz natio­nal­staat­li­cher Struk­tu­ren durch die Mehr­heit der gesell­schaft­li­chen Unter­schicht. Zum Ein­kom­mens­ga­ran­ten für älte­re Men­schen wur­de der Staat aller­dings erst spät. Als unpro­duk­tiv defi­nier­te Tei­le der Bevöl­ke­rung – Arme, Bett­ler, Vaga­bun­den, Kran­ke und Alte – lan­de­ten häu­fig in Zucht- und Arbeits­häu­sern. Einen schau­er­li­chen Höhe­punkt hat­te die­se Ent­wick­lung dann in der syste­ma­tisch betrie­be­nen phy­si­schen Besei­ti­gung von als »über­flüs­sig« betrach­te­ten Alten, ins­be­son­de­re Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­nern von Hei­men durch die Nazis.

Und auch gegen­wär­ti­ge Dis­kus­sio­nen über eine »Über­al­te­rung« der Gesell­schaft sind, wie im Buch nach­ge­wie­sen, kei­nes­wegs frei von Eutha­na­sief­an­ta­sien. Ange­sichts der gegen­wär­tig durch die Medi­en gei­stern­den alters­feind­li­chen Stra­te­gien ver­schie­de­ner poli­ti­scher Par­tei­en zur Kri­sen­be­wäl­ti­gung soll­te das Buch unbe­dingt zur Kennt­nis genom­men werden.

Andre­as Stück­ler: »Kri­ti­sche Theo­rie des Alter(n)s«, Man­del­baum Ver­lag, Wien 2024, 485 S., 34 €.