Dass jede kapitalistische Gesellschaft Ungleichheit produziert, ganze Bevölkerungsgruppen sozial benachteiligt, ist an sich bekannt. Eher selten thematisiert wird allerdings die dem Kapitalismus innewohnende strukturelle Altersdiskriminierung. Der Autor des hier vorgestellten Buches – der österreichische Soziologe Andreas Stückler – beschäftigt sich vorrangig mit dem irrationalen Charakter solcher Altersdiskriminierung.
Wie Stückler anhand umfänglichen Zahlenmaterials nachweist, ist Alter weniger eine biologische Tatsache als vielmehr eine soziale Konstruktion. Das Herausfallen aus dem Arbeitsprozess wird in der Industriegesellschaft als Altersruhe institutionalisiert – in vorindustriellen Gesellschaften existierte faktisch keine Trennung von Alter und Lohnarbeit.
Wie der Autor zeigt, waren die Jahrhunderte des frühen Kapitalismus für die Mehrheit der europäischen Bevölkerung eine Zeit tiefster Not. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts scheint die Lebenserwartung in Westeuropa im Zuge der Durchsetzung des Kapitalismus im Vergleich zum Spätmittelalter eher gesunken zu sein. Ein Ansteigen des Lebensalters der Bevölkerungsmehrheit ist dann erst seit dem Beginn der Industrialisierung nachweisbar – in Österreich beispielsweise konnten Männer um das Jahr 1910 nur mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 44 Jahren rechnen, etwa zeitgleich waren kaum mehr als 5 Prozent der deutschen Bevölkerung älter als 65 Jahre.
Diese Entwicklung gab es zeitversetzt überall in der Welt. Die im Vergleich zu vormodernen Gesellschaften sehr spezifische Grundstruktur der kapitalistischen Gesellschaft, mit der geldförmigen Verwertung von Arbeit als Zentrum, ist heute faktisch auf dem gesamten Globus durchgesetzt. Wie es im Buch heißt, wurde die bisher weltweit höchste durchschnittliche Lebenserwartung (84 Jahre) bei einer Erhebung im Jahre 2016 in Japan nachgewiesen – die niedrigste zeitgleich in der Zentralafrikanischen Republik (ca. 50 Jahre). In der Geschichte der Menschheit insgesamt wurde noch nie von so vielen Menschen ein so hohes Alter erreicht – der Preis dafür war und ist jedoch eine zunehmende Prekarisierung der Lebensverhältnisse alternder Menschen.
Die Entstehung der Institution Altersheim hatte ihre Wurzeln in der Versorgung invalider Soldaten in der Periode des frühen Kapitalismus. Pensionssysteme sorgten dann zu Beginn der Industrialisierung für die Akzeptanz nationalstaatlicher Strukturen durch die Mehrheit der gesellschaftlichen Unterschicht. Zum Einkommensgaranten für ältere Menschen wurde der Staat allerdings erst spät. Als unproduktiv definierte Teile der Bevölkerung – Arme, Bettler, Vagabunden, Kranke und Alte – landeten häufig in Zucht- und Arbeitshäusern. Einen schauerlichen Höhepunkt hatte diese Entwicklung dann in der systematisch betriebenen physischen Beseitigung von als »überflüssig« betrachteten Alten, insbesondere Bewohnerinnen und Bewohnern von Heimen durch die Nazis.
Und auch gegenwärtige Diskussionen über eine »Überalterung« der Gesellschaft sind, wie im Buch nachgewiesen, keineswegs frei von Euthanasiefantasien. Angesichts der gegenwärtig durch die Medien geisternden altersfeindlichen Strategien verschiedener politischer Parteien zur Krisenbewältigung sollte das Buch unbedingt zur Kenntnis genommen werden.
Andreas Stückler: »Kritische Theorie des Alter(n)s«, Mandelbaum Verlag, Wien 2024, 485 S., 34 €.