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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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»America first« – seit wann eigentlich?

Nun haben wir ihn wie­der als Schach­fi­gur der Geo­po­li­tik – den »Ame­ri­ca first«-Mann. Nach den ersten Mona­ten sei­ner Amts­zeit kann man zumin­dest eines fest­stel­len: Die Sprün­ge der US-Admi­ni­stra­ti­on sind mit einem Schach­spiel nicht zu ver­glei­chen – Wahl­ver­spre­chen zur Ukrai­ne (»… in 24 Stun­den …«) war ein Falsch­spiel, Lan­des­ho­heit von Pana­ma bis zum Nord­pol wäre wün­schens­wert, Zöl­le rauf, Zöl­le run­ter … Mir scheint es wie die Wie­der­ho­lung eines bekann­ten poli­ti­schen Films von Char­lie Chaplin.

Aber ohne die Ein­hal­tung bestimm­ter Regeln kann die inter­na­tio­na­le Poli­tik über­haupt nicht funk­tio­nie­ren, am wenig­sten die Geo­po­li­tik! Denn alle Staa­ten sind mit­ein­an­der ver­bun­den, begin­nend bei der UNO-Char­ta bis hin zu bila­te­ra­len Han­dels- oder Mili­tär­ver­trä­gen. Miss­ach­tet man die­se Zusam­men­hän­ge, kommt es unwei­ger­lich zu Kon­flik­ten. Kon­kret bedeu­tet das: Das Jon­glie­ren z. B. mit Zöl­len wird auch immer eine Gegen­re­ak­ti­on her­vor­ru­fen! Konn­te das nie­mand in der US-Admi­ni­stra­ti­on vor­her­se­hen; bei deren sicher nicht gerin­gen Gehäl­tern soll­te solch ein Denk­pro­zess eigent­lich vor­aus­ge­setzt werden …

Oder über­wie­gen in die­sen Krei­sen ganz ande­re Gedan­ken­kom­bi­na­tio­nen? Seit Jah­res­be­ginn wer­den Nach­bar­staa­ten unter Druck gesetzt, sich doch end­lich in die USA »ein­ge­mein­den« zu las­sen; die Mili­tär­prä­senz im Pana­ma­ka­nal wird ein­ge­for­dert; die Sank­tio­nen gegen Kuba wer­den aggres­siv aus­ge­wei­tet. Bereits die­se Bei­spie­le zei­gen, dass eine Aus­ge­wo­gen­heit nicht zu beob­ach­ten ist. Unwei­ger­lich drängt sich die Fra­ge auf: Woher kommt solch ein Ver­hal­ten (oder soll­te man sagen Aggres­si­vi­tät?) gegen­über ande­ren Staa­ten, ihren sou­ve­rä­nen Rech­ten und ihrer Sicher­heit? Wel­che Denk­wei­se liegt dem zugrun­de, wenn eine Groß­macht – jedem Völ­ker­recht Hohn spre­chend – die Sou­ve­rä­ni­tät eines ande­ren Lan­des mit Bom­ben aus­zu­lö­schen droht und laut­stark einen »Regime Chan­ge« for­dert? Ist dies die Eigen­art des jet­zi­gen Prä­si­den­ten oder ein Merk­mal der aktu­ell herr­schen­den Krei­se? Doch dann kommt mir die Erin­ne­rung an einen frü­he­ren Apo­lo­ge­ten der US-Außen­po­li­tik, und zwar Zbi­gniew Brze­zin­ski. Sei­ne Theo­rien und Dar­stel­lun­gen beinhal­te­ten – im Lau­fe der Jah­re – zwar auch Unstim­mig­kei­ten, jedoch war er als Theo­re­ti­ker kon­se­quent für den Uni­la­te­ra­lis­mus (ver­ein­facht gesagt: Han­deln eines Staa­tes ohne Rück­sicht auf die Inter­es­sen ande­rer). Dies deckt sich im Wesent­li­chen mit dem Begriff »Ame­ri­ca first«. Blickt man noch wei­ter in der Histo­rie der USA zurück, gibt es auch wei­te­re Ereig­nis­se, die mit die­ser außen­po­li­ti­schen Linie über­ein­stim­men: Eine gewis­se Aggres­si­vi­tät schien auch in den ver­gan­ge­nen Jahr­hun­der­ten latent vor­han­den gewe­sen zu sein. Auf die sicher unzäh­li­gen Ver­öf­fent­li­chun­gen, Sta­ti­sti­ken und Ana­ly­sen zur US-Außen­po­li­tik kann hier nicht ein­ge­gan­gen wer­den; eini­ge inter­es­san­te Eck­da­ten sol­len jedoch als Bei­spie­le genannt werden.

Wäre als erstes Bei­spiel die Ver­drän­gung und teil­wei­se Aus­rot­tung der India­ner zu nen­nen? Denn als dies begann (etwa um 1760), waren deren Gebie­te noch nicht von den »wei­ßen« Sied­lern ver­ein­nahmt gewe­sen. Damit lagen sie fak­tisch außer­halb der von den (meist euro­päi­schen) Ein­wan­de­rern bean­spruch­ten Ter­ri­to­ri­en, also nicht im Ame­ri­ka nach dem Ver­ständ­nis der Sied­ler. Bereits damals, in der US-Früh­zeit, zeig­te sich eine Ten­denz, Inter­es­sen mit Waf­fen­ge­walt durch­zu­set­zen. Dies war final been­det mit der Nie­der­la­ge der India­ner­stäm­me bei Woun­ded Knee 1890. Aber bereits vor die­sem Zeit­punkt gab es wei­te­re enor­me Aktio­nen, um die Ver­ei­nig­ten Staa­ten »grö­ßer zu machen«.

Im Jahr 1794 wur­de ein Pro­gramm für eine Kriegs­flot­te auf­ge­legt, die die Pira­te­rie bekämp­fen soll­te – aber nicht nur vor der US-Küste, son­dern bis hin­ein ins Mit­tel­meer! Die gebau­ten Fre­gat­ten wur­den in See­manns­krei­sen als »Iron­sides« bezeich­net wegen ihrer star­ken Armie­rung aus Eichenholz.

Das als Mon­roe-Dok­trin bezeich­ne­te außen­po­li­ti­sche Prin­zip der USA von 1823 (kurz­ge­fasst: Wir wol­len nicht wie­der vom alten Euro­pa kolo­ni­siert wer­den!) hin­der­te die ton­an­ge­ben­den Poli­ti­ker nicht dar­an, sich ihrer­seits Gebie­te von ande­ren Staa­ten anzu­eig­nen. In den vier­zi­ger Jah­ren des 19. Jahr­hun­derts wur­de zuerst Texas von Spa­ni­en annek­tiert, kurz danach folg­ten Kali­for­ni­en, Ari­zo­na, Neva­da, New Mexi­co, eben­so Tei­le von Utah, Wyo­ming, Colo­ra­do, Flo­ri­da. (Dies fiel etwa in die Zeit, als in Euro­pa Hein­rich Hei­ne schrieb: »Sie pre­dig­ten öffent­lich Was­ser und tran­ken heim­lich Wein.«)

Kurz nach­dem die India­ner die soge­nann­te »Befrie­dung« erfuh­ren, wur­de eine wei­te­re Okku­pa­ti­on initi­iert. Anlass war die Explo­si­on eines US-Kriegs­schiffs im spa­ni­schen Hafen von Havan­na. Hier­bei ist – viel­leicht zum ersten Mal – die nega­ti­ve Rol­le zu erken­nen, die eine Pro­pa­gan­da-Pres­se spie­len kann: Der Zei­tungs­ver­le­ger Hearst kor­re­spon­dier­te mit sei­nem Kuba-Repor­ter, er sol­le die »rich­ti­gen« Bil­der lie­fern, er wür­de dar­auf­hin den Krieg lie­fern. Und tat­säch­lich wur­de Kuba 1898 von den USA okku­piert, ange­führt von »Ted­dy« Roo­se­velt, der es drei Jah­re spä­ter zum US-Prä­si­den­ten brach­te. Schein­bar haben mar­tia­li­sche Gestal­ten einen Bonus im Denk­ver­hal­ten vie­ler US-Bürger.

Wei­te­re Bei­spie­le schei­nen nicht erfor­der­lich zu sein; sol­che Ereig­nis­se wie der Viet­nam­krieg oder die Zer­rüt­tung von Liby­en sind sicher vie­len poli­tisch wachen Men­schen noch gewär­tig, eben­so wie die bis­he­ri­gen Unter­stüt­zun­gen für reak­tio­nä­re Umstür­ze in ande­ren Län­dern. Wirkt hier eine Art »poli­ti­sches Gen«, das durch alle Poli­ti­ker-Gene­ra­ti­on auf­recht­erhal­ten wur­de bzw. wird, inten­siv befeu­ert durch poli­ti­sche Medi­en und Denk­fa­bri­ken? Letzt­end­lich sind sie alle ein­zu­ord­nen als aggres­si­ve Kriegs-Aben­teu­er, die weit­ab von den USA geführt wor­den sind, also kei­ne direk­te Bedro­hung des US-Staats­ge­biets dar­stell­ten. Nimmt man das Völ­ke­recht und die UN-Char­ta als Maß­stab, dürf­te dies theo­re­tisch nicht gedul­det wer­den. Aus all dem erge­ben sich Fra­gen, deren Beant­wor­tung in der künf­ti­gen Geo­po­li­tik von Bedeu­tung sein wird:

Gibt es star­ke und ein­fluss­rei­che Kräf­te in den USA, die von ihrer staat­li­chen Domi­nanz gegen­über ande­ren Län­dern nie­mals ablas­sen werden?

Kann man einem Frie­dens­an­ge­bot sei­tens der USA glau­ben oder soll­te man der­ar­ti­gen Bekun­dun­gen kri­tisch gegenüberstehen?

Keh­ren sol­che Kriegs-Gelü­ste nach gewis­sen Zeit­span­nen (z. B. wenn eine neue Poli­ti­ker-Gene­ra­ti­on am Ruder ist) immer wie­der zutage?

Inwie­weit sind die füh­ren­den Kräf­te in den USA in der Lage, die Fol­gen ihres Tuns tak­tisch und stra­te­gisch abschät­zen zu können?

Dabei soll­te zu beden­ken sein: Waren vor 120 Jah­ren Krie­ge nur auf einem begrenz­ten Ter­ri­to­ri­um mög­lich, haben sich – begin­nend mit dem 1. Welt­krieg – die Kriegs­ge­bie­te bis heu­te über den gesam­ten Erd­ball aus­ge­brei­tet bis in den Welt­raum hin­aus. Dem­entspre­chend soll­te auch die Risi­ko-Abschät­zung jeder Kriegs­hand­lung ver­ant­wor­tungs­voll und im Vor­hin­ein erfol­gen. Doch nein: Die Abschät­zung der poli­ti­schen Fol­gen scheint in den USA rela­tiv unter­ent­wickelt zu sein. Dies ist ein­deu­tig erkenn­bar bei der kürz­li­chen Bom­bar­die­rung ira­ni­scher Nukle­ar-Anla­gen durch die USA: Wie kann man – neben der bru­ta­len Miss­ach­tung des Völ­ker­rechts – die Frei­set­zung nuklea­rer Strah­lung von unge­ahn­tem Aus­maß ris­kie­ren, nur weil sie weit weg von den USA pas­siert? Hat die Welt – und ins­be­son­de­re die heu­te regie­ren­den Per­so­nen – die Aus­wir­kun­gen von Hiro­shi­ma und Naga­sa­ki ver­ges­sen? Oder wol­len die USA den Staat Iran gezielt ato­mar ver­seu­chen, um danach als »Ret­ter aus der Not« dort ein­zu­mar­schie­ren? Bzw. ihre israe­li­schen »Kriegs­freun­de«?

Für mich passt dies alles in ein Denk­sche­ma, das mal eben Nach­bar­staa­ten ver­ein­nah­men will und aus dem Nichts die Wirt­schafts­be­zie­hun­gen durch unver­hält­nis­mä­ßi­ge Zöl­le geo­po­li­tisch durch­ein­an­der­bringt, sie dann kurz­fri­stig wie­der ändert und die­ses Ver­hal­ten dann mit einer Vul­gär­spra­che (»… kis­sing my …«) als tol­le Tat hin­stellt. Soll­te so das Ver­hal­ten eines der bedeu­tend­sten heu­ti­gen Staa­ten­len­ker sein? Oder passt das eher zum Denk­sche­ma eines Auto­kra­ten? Was kann man dann für die geo­po­li­ti­sche Zukunft noch befürchten?

Um den Bezug der Geo­po­li­tik zum Schach noch­mal zu bemü­hen: Ein König (oder wer sich als sol­cher fühlt) soll­te sich vor­se­hen – er darf immer nur ein Feld wei­ter­rücken! Wenn er zu weit vor­geht, hat er verloren!