Nun haben wir ihn wieder als Schachfigur der Geopolitik – den »America first«-Mann. Nach den ersten Monaten seiner Amtszeit kann man zumindest eines feststellen: Die Sprünge der US-Administration sind mit einem Schachspiel nicht zu vergleichen – Wahlversprechen zur Ukraine (»… in 24 Stunden …«) war ein Falschspiel, Landeshoheit von Panama bis zum Nordpol wäre wünschenswert, Zölle rauf, Zölle runter … Mir scheint es wie die Wiederholung eines bekannten politischen Films von Charlie Chaplin.
Aber ohne die Einhaltung bestimmter Regeln kann die internationale Politik überhaupt nicht funktionieren, am wenigsten die Geopolitik! Denn alle Staaten sind miteinander verbunden, beginnend bei der UNO-Charta bis hin zu bilateralen Handels- oder Militärverträgen. Missachtet man diese Zusammenhänge, kommt es unweigerlich zu Konflikten. Konkret bedeutet das: Das Jonglieren z. B. mit Zöllen wird auch immer eine Gegenreaktion hervorrufen! Konnte das niemand in der US-Administration vorhersehen; bei deren sicher nicht geringen Gehältern sollte solch ein Denkprozess eigentlich vorausgesetzt werden …
Oder überwiegen in diesen Kreisen ganz andere Gedankenkombinationen? Seit Jahresbeginn werden Nachbarstaaten unter Druck gesetzt, sich doch endlich in die USA »eingemeinden« zu lassen; die Militärpräsenz im Panamakanal wird eingefordert; die Sanktionen gegen Kuba werden aggressiv ausgeweitet. Bereits diese Beispiele zeigen, dass eine Ausgewogenheit nicht zu beobachten ist. Unweigerlich drängt sich die Frage auf: Woher kommt solch ein Verhalten (oder sollte man sagen Aggressivität?) gegenüber anderen Staaten, ihren souveränen Rechten und ihrer Sicherheit? Welche Denkweise liegt dem zugrunde, wenn eine Großmacht – jedem Völkerrecht Hohn sprechend – die Souveränität eines anderen Landes mit Bomben auszulöschen droht und lautstark einen »Regime Change« fordert? Ist dies die Eigenart des jetzigen Präsidenten oder ein Merkmal der aktuell herrschenden Kreise? Doch dann kommt mir die Erinnerung an einen früheren Apologeten der US-Außenpolitik, und zwar Zbigniew Brzezinski. Seine Theorien und Darstellungen beinhalteten – im Laufe der Jahre – zwar auch Unstimmigkeiten, jedoch war er als Theoretiker konsequent für den Unilateralismus (vereinfacht gesagt: Handeln eines Staates ohne Rücksicht auf die Interessen anderer). Dies deckt sich im Wesentlichen mit dem Begriff »America first«. Blickt man noch weiter in der Historie der USA zurück, gibt es auch weitere Ereignisse, die mit dieser außenpolitischen Linie übereinstimmen: Eine gewisse Aggressivität schien auch in den vergangenen Jahrhunderten latent vorhanden gewesen zu sein. Auf die sicher unzähligen Veröffentlichungen, Statistiken und Analysen zur US-Außenpolitik kann hier nicht eingegangen werden; einige interessante Eckdaten sollen jedoch als Beispiele genannt werden.
Wäre als erstes Beispiel die Verdrängung und teilweise Ausrottung der Indianer zu nennen? Denn als dies begann (etwa um 1760), waren deren Gebiete noch nicht von den »weißen« Siedlern vereinnahmt gewesen. Damit lagen sie faktisch außerhalb der von den (meist europäischen) Einwanderern beanspruchten Territorien, also nicht im Amerika nach dem Verständnis der Siedler. Bereits damals, in der US-Frühzeit, zeigte sich eine Tendenz, Interessen mit Waffengewalt durchzusetzen. Dies war final beendet mit der Niederlage der Indianerstämme bei Wounded Knee 1890. Aber bereits vor diesem Zeitpunkt gab es weitere enorme Aktionen, um die Vereinigten Staaten »größer zu machen«.
Im Jahr 1794 wurde ein Programm für eine Kriegsflotte aufgelegt, die die Piraterie bekämpfen sollte – aber nicht nur vor der US-Küste, sondern bis hinein ins Mittelmeer! Die gebauten Fregatten wurden in Seemannskreisen als »Ironsides« bezeichnet wegen ihrer starken Armierung aus Eichenholz.
Das als Monroe-Doktrin bezeichnete außenpolitische Prinzip der USA von 1823 (kurzgefasst: Wir wollen nicht wieder vom alten Europa kolonisiert werden!) hinderte die tonangebenden Politiker nicht daran, sich ihrerseits Gebiete von anderen Staaten anzueignen. In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde zuerst Texas von Spanien annektiert, kurz danach folgten Kalifornien, Arizona, Nevada, New Mexico, ebenso Teile von Utah, Wyoming, Colorado, Florida. (Dies fiel etwa in die Zeit, als in Europa Heinrich Heine schrieb: »Sie predigten öffentlich Wasser und tranken heimlich Wein.«)
Kurz nachdem die Indianer die sogenannte »Befriedung« erfuhren, wurde eine weitere Okkupation initiiert. Anlass war die Explosion eines US-Kriegsschiffs im spanischen Hafen von Havanna. Hierbei ist – vielleicht zum ersten Mal – die negative Rolle zu erkennen, die eine Propaganda-Presse spielen kann: Der Zeitungsverleger Hearst korrespondierte mit seinem Kuba-Reporter, er solle die »richtigen« Bilder liefern, er würde daraufhin den Krieg liefern. Und tatsächlich wurde Kuba 1898 von den USA okkupiert, angeführt von »Teddy« Roosevelt, der es drei Jahre später zum US-Präsidenten brachte. Scheinbar haben martialische Gestalten einen Bonus im Denkverhalten vieler US-Bürger.
Weitere Beispiele scheinen nicht erforderlich zu sein; solche Ereignisse wie der Vietnamkrieg oder die Zerrüttung von Libyen sind sicher vielen politisch wachen Menschen noch gewärtig, ebenso wie die bisherigen Unterstützungen für reaktionäre Umstürze in anderen Ländern. Wirkt hier eine Art »politisches Gen«, das durch alle Politiker-Generation aufrechterhalten wurde bzw. wird, intensiv befeuert durch politische Medien und Denkfabriken? Letztendlich sind sie alle einzuordnen als aggressive Kriegs-Abenteuer, die weitab von den USA geführt worden sind, also keine direkte Bedrohung des US-Staatsgebiets darstellten. Nimmt man das Völkerecht und die UN-Charta als Maßstab, dürfte dies theoretisch nicht geduldet werden. Aus all dem ergeben sich Fragen, deren Beantwortung in der künftigen Geopolitik von Bedeutung sein wird:
Gibt es starke und einflussreiche Kräfte in den USA, die von ihrer staatlichen Dominanz gegenüber anderen Ländern niemals ablassen werden?
Kann man einem Friedensangebot seitens der USA glauben oder sollte man derartigen Bekundungen kritisch gegenüberstehen?
Kehren solche Kriegs-Gelüste nach gewissen Zeitspannen (z. B. wenn eine neue Politiker-Generation am Ruder ist) immer wieder zutage?
Inwieweit sind die führenden Kräfte in den USA in der Lage, die Folgen ihres Tuns taktisch und strategisch abschätzen zu können?
Dabei sollte zu bedenken sein: Waren vor 120 Jahren Kriege nur auf einem begrenzten Territorium möglich, haben sich – beginnend mit dem 1. Weltkrieg – die Kriegsgebiete bis heute über den gesamten Erdball ausgebreitet bis in den Weltraum hinaus. Dementsprechend sollte auch die Risiko-Abschätzung jeder Kriegshandlung verantwortungsvoll und im Vorhinein erfolgen. Doch nein: Die Abschätzung der politischen Folgen scheint in den USA relativ unterentwickelt zu sein. Dies ist eindeutig erkennbar bei der kürzlichen Bombardierung iranischer Nuklear-Anlagen durch die USA: Wie kann man – neben der brutalen Missachtung des Völkerrechts – die Freisetzung nuklearer Strahlung von ungeahntem Ausmaß riskieren, nur weil sie weit weg von den USA passiert? Hat die Welt – und insbesondere die heute regierenden Personen – die Auswirkungen von Hiroshima und Nagasaki vergessen? Oder wollen die USA den Staat Iran gezielt atomar verseuchen, um danach als »Retter aus der Not« dort einzumarschieren? Bzw. ihre israelischen »Kriegsfreunde«?
Für mich passt dies alles in ein Denkschema, das mal eben Nachbarstaaten vereinnahmen will und aus dem Nichts die Wirtschaftsbeziehungen durch unverhältnismäßige Zölle geopolitisch durcheinanderbringt, sie dann kurzfristig wieder ändert und dieses Verhalten dann mit einer Vulgärsprache (»… kissing my …«) als tolle Tat hinstellt. Sollte so das Verhalten eines der bedeutendsten heutigen Staatenlenker sein? Oder passt das eher zum Denkschema eines Autokraten? Was kann man dann für die geopolitische Zukunft noch befürchten?
Um den Bezug der Geopolitik zum Schach nochmal zu bemühen: Ein König (oder wer sich als solcher fühlt) sollte sich vorsehen – er darf immer nur ein Feld weiterrücken! Wenn er zu weit vorgeht, hat er verloren!