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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Arbeiter, schämt euch!

Im Ber­li­ner Stadt­teil Prenz­lau­er Berg sit­zen sie in Cafés mit fer­men­tier­tem Kom­bu­cha, spre­chen über Acht­sam­keit, toxi­sche Männ­lich­keit und nach­hal­ti­ge Kin­der­be­klei­dung. In Leip­zig-Con­ne­witz dis­ku­tiert man über die Deko­lo­ni­sie­rung des Stadt­parks und in Ham­burg-Otten­sen über den CO2-Fuß­ab­druck von Second­hand-Impor­ten. Es sind gebil­de­te, aka­de­misch sozia­li­sier­te, poli­tisch »pro­gres­si­ve« Milieus, die sich als links begrei­fen – und doch mit einer Geschwin­dig­keit die mate­ri­el­le Rea­li­tät der arbei­ten­den Bevöl­ke­rung aus dem Blick ver­lie­ren, dass einem schwind­lig wird. Die neue Klas­sen­ver­ach­tung trägt kein Mon­okel mehr – sie kommt mit Gen­der­stern­chen und Lei­nen­ruck­sack daher.

Was als eman­zi­pa­to­ri­sches Pro­jekt einst die öko­no­mi­sche Unter­drückung der Vie­len bekämp­fen woll­te, ist heu­te oft ein kul­tu­rell abge­ho­be­nes Selbst­ge­spräch der Weni­gen. Die unsicht­ba­re Hand des Mark­tes wur­de ersetzt durch den sicht­ba­ren Zei­ge­fin­ger der Moral. Und der rich­tet sich – nicht sel­ten – nach unten.

»Du bist doch nicht gegen Diver­si­tät, oder?« – »Spra­che schafft Rea­li­tät!« – »Die­se toxi­schen Männ­lich­keits­struk­tu­ren müs­sen wir end­lich über­win­den!« Wer die­sen Sät­zen kri­tisch begeg­net, wird schnell ver­däch­tig. Nicht etwa, weil die Anlie­gen falsch wären – sie sind drin­gend, not­wen­dig und über­fäl­lig. Aber weil sie häu­fig in einer Spra­che und Ton­la­ge vor­ge­tra­gen wer­den, die nicht inte­grie­ren, son­dern exkludieren.

Die neue Mit­tel­klas­se – urban, aka­de­mi­siert, kul­tur­fle­xi­bel – hat ein Reprä­sen­ta­ti­ons­mo­no­pol im öffent­li­chen Dis­kurs errich­tet. Ihre Sprecher/​innen domi­nie­ren Redak­tio­nen, Stif­tun­gen, NGOs, uni­ver­si­tä­re Insti­tu­tio­nen und Par­tei­ap­pa­ra­te. Wer nicht mit­hal­ten kann, wird zum »bil­dungs­fer­nen Milieu«, zum »Wut­bür­ger«, zum »Abge­häng­ten« – oder schlim­mer noch: zum poten­zi­el­len AfD-Wäh­ler, der »unse­re Wer­te« gefährdet.

Die­se mora­li­sche Eng­füh­rung ersetzt Klas­sen­ana­ly­se durch Sprach­kon­trol­le. Wer nicht kor­rekt spricht, kann auch nicht kor­rekt den­ken – und ist damit poli­tisch irrelevant.

Die poli­ti­sche Lin­ke – einst Sprach­rohr der lohn­ab­hän­gi­gen Klas­se – hat sich in wei­ten Tei­len von ihren mate­ri­el­len Wur­zeln gelöst. Die SPD ist zu einer Par­tei der orga­ni­sier­ten Selbst­ver­wal­tung der Mit­tel­klas­se ver­kom­men, deren größ­te Sor­ge der CO2-Aus­stoß von Rechen­zen­tren ist. Die Grü­nen sind ein Eli­ten­pro­jekt, das öko­lo­gi­sche Fra­gen neo­li­be­ral beant­wor­tet – und dabei die Aus­wir­kun­gen ihrer Poli­tik auf Mie­ten, Mobi­li­tät und Ener­gie­prei­se als Kol­la­te­ral­scha­den betrachtet.

Selbst Tei­le der radi­ka­len Lin­ken agie­ren zuneh­mend in iden­ti­täts­po­li­ti­schen Echo­kam­mern, in denen pre­kä­re Lebens­rea­li­tä­ten höch­stens dann eine Rol­le spie­len, wenn sie sich an der rich­ti­gen Inter­sek­tio­na­li­täts­stel­le befin­den. Der allein­er­zie­hen­de Lager­ar­bei­ter bei Ama­zon ohne Migra­ti­ons­ge­schich­te, der nach der Schicht zur Tafel geht, aber gegen Gen­dern ist – er fin­det in die­sem Milieu kei­nen Platz mehr. Er ist ideo­lo­gisch nicht kompatibel.

Die neue Klas­sen­ver­ach­tung wirkt nicht offen; wen sie trifft, der oder die kommt ein­fach nicht vor: in Talk­shows, in Schul­bü­chern, in NGO-Kam­pa­gnen, in den Algo­rith­men des Jour­na­lis­mus. Die Arbeits­wel­ten von Rei­ni­gungs­kräf­ten, Paket­bo­ten, Pfle­ge­per­so­nal, Fabrikarbeiter/​innen, Busfahrer/​innen und Kassierer/​innen sind nir­gends The­ma – es sei denn als Exo­ti­kum. Die­se Berufs­grup­pen sind nicht sexy. Sie spre­chen nicht die rich­ti­ge Spra­che. Sie wäh­len nicht »uns«. Und sie schä­men sich zuneh­mend dafür.

Denn sie sehen, was ihnen fehlt: die Sicher­heit, die Stim­me, die Sicht­bar­keit. Die kul­tu­rel­le Domi­nanz der aka­de­misch Gebil­de­ten über­setzt sich in einen unter­schwel­li­gen Druck zur Selbst­op­ti­mie­rung. Wer nicht mit­hält – in Spra­che, Ver­hal­ten, Habi­tus – fühlt sich falsch. Der Kapi­ta­lis­mus hat gelernt, nicht nur Pro­duk­ti­vi­tät, son­dern auch Moral zu ver­mark­ten. Armut ist nicht nur Man­gel – sie wird zur Schuld.

In die­ses Vaku­um drin­gen Rech­te mit Wucht und Geschick. Die AfD gibt sich betont anti-eli­tär, volks­tüm­lich, boden­stän­dig. Sie spricht in einer Spra­che, die Men­schen ver­ste­hen – nicht, weil sie intel­lek­tu­ell unter­le­gen wäre, son­dern weil sie auf Authen­ti­zi­tät setzt. Sie nutzt das kul­tu­rel­le Über­le­gen­heits­ge­fühl der libe­ra­len Mit­te, um sich als deren Gegen­pol zu insze­nie­ren. Und sie macht das erfolg­reich – nicht trotz, son­dern wegen der aka­de­misch-mora­li­schen Domi­nanz des links­li­be­ra­len Diskurses.

So wer­den Klas­sen­fra­gen in iden­ti­tä­re Kämp­fe ver­wan­delt. Aus wirt­schaft­li­cher Ent­wur­ze­lung wird »Über­frem­dung«, aus Abstiegs­äng­sten wird »Kul­tur­ver­lust«. Die Rech­te lie­fert die fal­schen Ant­wor­ten – aber sie stellt die rich­ti­gen Fra­gen. Und sie weiß, an wen sie sich wen­den muss: an die, die sich abge­wer­tet, ver­ges­sen, über­gan­gen fühlen.

Als im Juli 2023 die Pari­ser Ban­lieues in Flam­men stan­den, war der media­le Reflex ein­deu­tig: Gewalt! Zer­stö­rung! Kri­mi­na­li­tät! Kaum jemand frag­te, was die­se Revol­te eigent­lich aus­ge­löst hat­te – außer einem töd­li­chen Poli­zei­schuss auf einen 17-Jäh­ri­gen. In Wirk­lich­keit war es ein Auf­schrei gegen Jahr­zehn­te der Mar­gi­na­li­sie­rung, gegen die Segre­ga­ti­on in Schu­len, Woh­nun­gen und Arbeits­plät­zen. Es war – wie die Gelb­we­sten-Bewe­gung zuvor – eine Revol­te gegen die Arro­ganz einer poli­ti­schen Klas­se, die seit Jah­ren nur noch sich selbst regiert.

Auch in Deutsch­land bro­delt es. Es fehlt nicht an Wut – es fehlt an Stim­me. Nan­cy Fra­ser schreibt in ihrem Buch Der Alles­fres­ser-Kapi­ta­lis­mus, dass die Lin­ke auf­ge­hört habe, Kapi­ta­lis­mus als umfas­sen­des Gesell­schafts­sy­stem zu kri­ti­sie­ren. Statt­des­sen spal­te sie ihn in ver­schie­de­ne Dis­kur­se auf – Gen­der, Ras­se, Kli­ma –, ohne deren gemein­sa­me Wur­zel zu benen­nen: die kapi­ta­li­sti­sche Verwertungslogik.

Wenn sich lin­ke Poli­tik auf sym­bo­li­sche Aner­ken­nung kon­zen­triert, aber wirt­schaft­li­che Ungleich­heit nicht mehr bekämpft, dann wird sie zur PR-Abtei­lung des Sta­tus quo. Und wenn »links« bedeu­tet, die Klas­sen­fra­ge durch Kul­tur­po­li­tik zu erset­zen, dann bleibt von lin­ker Poli­tik nur ein mora­li­scher Über­le­gen­heits­ge­stus übrig, der mehr abschreckt als aufklärt.

Die neue Klas­sen­ver­ach­tung ist nicht nur ein gesell­schaft­li­ches Phä­no­men – sie hat auch ein Gesicht: das der Medi­en. Wäh­rend jede sprach­li­che Ent­glei­sung in pro­gres­si­ven Zir­keln minu­ti­ös seziert wird, ver­schwin­den Tarif­kon­flik­te, Betriebs­schlie­ßun­gen und Hartz-IV-Nach­wir­kun­gen in den Fuß­no­ten. Die Per­spek­ti­ve derer, die den Laden am Lau­fen hal­ten, fehlt.

Der »Pre­ka­ri­ats­pop« frü­he­rer Jah­re (Rio Rei­ser, Ton Stei­ne Scher­ben, die frü­hen Toco­tro­nics) ist ersetzt wor­den durch eine kul­tur­in­du­stri­el­le Selbst­be­spie­ge­lung von Net­flix-Seri­en und SPIEGEL-Kolum­nen, in denen der Bus­fah­rer besten­falls als Side­kick des Anwalts­sohns auf­taucht – oder als Bedro­hung der libe­ra­len Ordnung.

Auch die kri­ti­sche Intel­li­genz hat ver­sagt. Sie pro­du­ziert Ana­ly­sen im Dut­zend, Stu­di­en, Pod­casts, Essays – aber sel­ten wird ihre Spra­che durch­läs­sig für ande­re Milieus. Zu oft wird aus Ana­ly­se Abgren­zung, aus Kri­tik eine aka­de­mi­sche Geste. Der Klas­sen­be­griff ist ent­we­der ver­pönt oder musea­li­siert – ein Relikt aus der Mot­ten­ki­ste des Mar­xis­mus, das sich schlecht mit post­mo­der­nen Sub­jek­ti­vi­tä­ten verträgt.

Was also tun? Wer die Klas­sen­fra­ge stellt, darf sie nicht mora­li­sie­ren. Er muss sie poli­ti­sie­ren. Eine neue Klas­sen­po­li­tik darf sich nicht in der Ver­tei­di­gung des Bestehen­den erschöp­fen, son­dern muss bei­des lei­sten: kul­tu­rel­le Inklu­si­on und öko­no­mi­sche Transformation.

Das bedeu­tet:

  • Ver­hält­nis­wahl­recht bei Gewerk­schaf­ten stär­ken, damit pre­ka­ri­sier­te Grup­pen bes­ser ver­tre­ten werden.
  • Reprä­sen­ta­ti­ons­lücken in den Medi­en schlie­ßen, z. B. durch öffent­li­che För­de­rung basis­na­her Redaktionen.
  • Stadt­teil­ar­beit aus­bau­en, nicht als Sozi­al­päd­ago­gik von oben, son­dern als Orga­ni­sie­rung von unten.
  • Die Spra­che zurück­ge­win­nen, indem lin­ke Rhe­to­rik wie­der für vie­le spricht, nicht für wenige.

Und es bedeu­tet auch: sich der Scham zu stel­len. Der Scham, ver­sagt zu haben – als poli­ti­sche Lin­ke, als Intel­lek­tu­el­le, als jour­na­li­sti­sches Milieu.

Der ita­lie­ni­sche Phi­lo­soph Anto­nio Gram­sci schrieb einst: »Pes­si­mis­mus des Ver­stan­des, Opti­mis­mus des Wil­lens«. Heu­te muss man hin­zu­fü­gen: Klar­heit der Spra­che, Offen­heit der Ohren, Soli­da­ri­tät des Handelns.

Wer die Wür­de der Arbeit ver­tei­di­gen will, darf nicht auf mora­li­sche Rein­heit set­zen, son­dern auf gemein­sa­me Erfah­rung. Nicht auf aka­de­mi­sche Über­ein­kunft, son­dern auf prak­ti­sche Ver­bun­den­heit. Nicht auf Dis­kurs­he­ge­mo­nie, son­dern auf Repräsentation.

Der Arbei­ter, der nicht gen­dern will, ist kein Feind. Die Ver­käu­fe­rin, die Bild-Zei­tung liest, kei­ne Ver­rä­te­rin. Der Bus­fah­rer, der nicht »rich­tig« spricht, kein Hin­der­nis der Eman­zi­pa­ti­on – son­dern ihr Ausgangspunkt.

Wenn die Lin­ke das ver­gisst, wird sie nicht nur Wah­len ver­lie­ren. Son­dern ihre Daseinsberechtigung.