Im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg sitzen sie in Cafés mit fermentiertem Kombucha, sprechen über Achtsamkeit, toxische Männlichkeit und nachhaltige Kinderbekleidung. In Leipzig-Connewitz diskutiert man über die Dekolonisierung des Stadtparks und in Hamburg-Ottensen über den CO2-Fußabdruck von Secondhand-Importen. Es sind gebildete, akademisch sozialisierte, politisch »progressive« Milieus, die sich als links begreifen – und doch mit einer Geschwindigkeit die materielle Realität der arbeitenden Bevölkerung aus dem Blick verlieren, dass einem schwindlig wird. Die neue Klassenverachtung trägt kein Monokel mehr – sie kommt mit Gendersternchen und Leinenrucksack daher.
Was als emanzipatorisches Projekt einst die ökonomische Unterdrückung der Vielen bekämpfen wollte, ist heute oft ein kulturell abgehobenes Selbstgespräch der Wenigen. Die unsichtbare Hand des Marktes wurde ersetzt durch den sichtbaren Zeigefinger der Moral. Und der richtet sich – nicht selten – nach unten.
»Du bist doch nicht gegen Diversität, oder?« – »Sprache schafft Realität!« – »Diese toxischen Männlichkeitsstrukturen müssen wir endlich überwinden!« Wer diesen Sätzen kritisch begegnet, wird schnell verdächtig. Nicht etwa, weil die Anliegen falsch wären – sie sind dringend, notwendig und überfällig. Aber weil sie häufig in einer Sprache und Tonlage vorgetragen werden, die nicht integrieren, sondern exkludieren.
Die neue Mittelklasse – urban, akademisiert, kulturflexibel – hat ein Repräsentationsmonopol im öffentlichen Diskurs errichtet. Ihre Sprecher/innen dominieren Redaktionen, Stiftungen, NGOs, universitäre Institutionen und Parteiapparate. Wer nicht mithalten kann, wird zum »bildungsfernen Milieu«, zum »Wutbürger«, zum »Abgehängten« – oder schlimmer noch: zum potenziellen AfD-Wähler, der »unsere Werte« gefährdet.
Diese moralische Engführung ersetzt Klassenanalyse durch Sprachkontrolle. Wer nicht korrekt spricht, kann auch nicht korrekt denken – und ist damit politisch irrelevant.
Die politische Linke – einst Sprachrohr der lohnabhängigen Klasse – hat sich in weiten Teilen von ihren materiellen Wurzeln gelöst. Die SPD ist zu einer Partei der organisierten Selbstverwaltung der Mittelklasse verkommen, deren größte Sorge der CO2-Ausstoß von Rechenzentren ist. Die Grünen sind ein Elitenprojekt, das ökologische Fragen neoliberal beantwortet – und dabei die Auswirkungen ihrer Politik auf Mieten, Mobilität und Energiepreise als Kollateralschaden betrachtet.
Selbst Teile der radikalen Linken agieren zunehmend in identitätspolitischen Echokammern, in denen prekäre Lebensrealitäten höchstens dann eine Rolle spielen, wenn sie sich an der richtigen Intersektionalitätsstelle befinden. Der alleinerziehende Lagerarbeiter bei Amazon ohne Migrationsgeschichte, der nach der Schicht zur Tafel geht, aber gegen Gendern ist – er findet in diesem Milieu keinen Platz mehr. Er ist ideologisch nicht kompatibel.
Die neue Klassenverachtung wirkt nicht offen; wen sie trifft, der oder die kommt einfach nicht vor: in Talkshows, in Schulbüchern, in NGO-Kampagnen, in den Algorithmen des Journalismus. Die Arbeitswelten von Reinigungskräften, Paketboten, Pflegepersonal, Fabrikarbeiter/innen, Busfahrer/innen und Kassierer/innen sind nirgends Thema – es sei denn als Exotikum. Diese Berufsgruppen sind nicht sexy. Sie sprechen nicht die richtige Sprache. Sie wählen nicht »uns«. Und sie schämen sich zunehmend dafür.
Denn sie sehen, was ihnen fehlt: die Sicherheit, die Stimme, die Sichtbarkeit. Die kulturelle Dominanz der akademisch Gebildeten übersetzt sich in einen unterschwelligen Druck zur Selbstoptimierung. Wer nicht mithält – in Sprache, Verhalten, Habitus – fühlt sich falsch. Der Kapitalismus hat gelernt, nicht nur Produktivität, sondern auch Moral zu vermarkten. Armut ist nicht nur Mangel – sie wird zur Schuld.
In dieses Vakuum dringen Rechte mit Wucht und Geschick. Die AfD gibt sich betont anti-elitär, volkstümlich, bodenständig. Sie spricht in einer Sprache, die Menschen verstehen – nicht, weil sie intellektuell unterlegen wäre, sondern weil sie auf Authentizität setzt. Sie nutzt das kulturelle Überlegenheitsgefühl der liberalen Mitte, um sich als deren Gegenpol zu inszenieren. Und sie macht das erfolgreich – nicht trotz, sondern wegen der akademisch-moralischen Dominanz des linksliberalen Diskurses.
So werden Klassenfragen in identitäre Kämpfe verwandelt. Aus wirtschaftlicher Entwurzelung wird »Überfremdung«, aus Abstiegsängsten wird »Kulturverlust«. Die Rechte liefert die falschen Antworten – aber sie stellt die richtigen Fragen. Und sie weiß, an wen sie sich wenden muss: an die, die sich abgewertet, vergessen, übergangen fühlen.
Als im Juli 2023 die Pariser Banlieues in Flammen standen, war der mediale Reflex eindeutig: Gewalt! Zerstörung! Kriminalität! Kaum jemand fragte, was diese Revolte eigentlich ausgelöst hatte – außer einem tödlichen Polizeischuss auf einen 17-Jährigen. In Wirklichkeit war es ein Aufschrei gegen Jahrzehnte der Marginalisierung, gegen die Segregation in Schulen, Wohnungen und Arbeitsplätzen. Es war – wie die Gelbwesten-Bewegung zuvor – eine Revolte gegen die Arroganz einer politischen Klasse, die seit Jahren nur noch sich selbst regiert.
Auch in Deutschland brodelt es. Es fehlt nicht an Wut – es fehlt an Stimme. Nancy Fraser schreibt in ihrem Buch Der Allesfresser-Kapitalismus, dass die Linke aufgehört habe, Kapitalismus als umfassendes Gesellschaftssystem zu kritisieren. Stattdessen spalte sie ihn in verschiedene Diskurse auf – Gender, Rasse, Klima –, ohne deren gemeinsame Wurzel zu benennen: die kapitalistische Verwertungslogik.
Wenn sich linke Politik auf symbolische Anerkennung konzentriert, aber wirtschaftliche Ungleichheit nicht mehr bekämpft, dann wird sie zur PR-Abteilung des Status quo. Und wenn »links« bedeutet, die Klassenfrage durch Kulturpolitik zu ersetzen, dann bleibt von linker Politik nur ein moralischer Überlegenheitsgestus übrig, der mehr abschreckt als aufklärt.
Die neue Klassenverachtung ist nicht nur ein gesellschaftliches Phänomen – sie hat auch ein Gesicht: das der Medien. Während jede sprachliche Entgleisung in progressiven Zirkeln minutiös seziert wird, verschwinden Tarifkonflikte, Betriebsschließungen und Hartz-IV-Nachwirkungen in den Fußnoten. Die Perspektive derer, die den Laden am Laufen halten, fehlt.
Der »Prekariatspop« früherer Jahre (Rio Reiser, Ton Steine Scherben, die frühen Tocotronics) ist ersetzt worden durch eine kulturindustrielle Selbstbespiegelung von Netflix-Serien und SPIEGEL-Kolumnen, in denen der Busfahrer bestenfalls als Sidekick des Anwaltssohns auftaucht – oder als Bedrohung der liberalen Ordnung.
Auch die kritische Intelligenz hat versagt. Sie produziert Analysen im Dutzend, Studien, Podcasts, Essays – aber selten wird ihre Sprache durchlässig für andere Milieus. Zu oft wird aus Analyse Abgrenzung, aus Kritik eine akademische Geste. Der Klassenbegriff ist entweder verpönt oder musealisiert – ein Relikt aus der Mottenkiste des Marxismus, das sich schlecht mit postmodernen Subjektivitäten verträgt.
Was also tun? Wer die Klassenfrage stellt, darf sie nicht moralisieren. Er muss sie politisieren. Eine neue Klassenpolitik darf sich nicht in der Verteidigung des Bestehenden erschöpfen, sondern muss beides leisten: kulturelle Inklusion und ökonomische Transformation.
Das bedeutet:
- Verhältniswahlrecht bei Gewerkschaften stärken, damit prekarisierte Gruppen besser vertreten werden.
- Repräsentationslücken in den Medien schließen, z. B. durch öffentliche Förderung basisnaher Redaktionen.
- Stadtteilarbeit ausbauen, nicht als Sozialpädagogik von oben, sondern als Organisierung von unten.
- Die Sprache zurückgewinnen, indem linke Rhetorik wieder für viele spricht, nicht für wenige.
Und es bedeutet auch: sich der Scham zu stellen. Der Scham, versagt zu haben – als politische Linke, als Intellektuelle, als journalistisches Milieu.
Der italienische Philosoph Antonio Gramsci schrieb einst: »Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens«. Heute muss man hinzufügen: Klarheit der Sprache, Offenheit der Ohren, Solidarität des Handelns.
Wer die Würde der Arbeit verteidigen will, darf nicht auf moralische Reinheit setzen, sondern auf gemeinsame Erfahrung. Nicht auf akademische Übereinkunft, sondern auf praktische Verbundenheit. Nicht auf Diskurshegemonie, sondern auf Repräsentation.
Der Arbeiter, der nicht gendern will, ist kein Feind. Die Verkäuferin, die Bild-Zeitung liest, keine Verräterin. Der Busfahrer, der nicht »richtig« spricht, kein Hindernis der Emanzipation – sondern ihr Ausgangspunkt.
Wenn die Linke das vergisst, wird sie nicht nur Wahlen verlieren. Sondern ihre Daseinsberechtigung.