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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Auf dem Domplatz in Havelberg

Der Rus­se ist da! In Sach­sen-Anhalt! Dabei ver­sprach der Histo­ri­ker Sön­ke Neit­zel, der­zeit Deutsch­lands ein­zi­ger Pro­fes­sor für Mili­tär­ge­schich­te, uns soeben noch öffent­lich, dies sei der letz­te Som­mer im Frie­den. Ande­re der zahl­lo­sen Exper­ten für Krieg­füh­rung und – weit­aus sel­te­ner – für Frie­dens­schlüs­se mei­nen hin­ge­gen, rus­si­sche Besat­zungs­trup­pen wür­den erst in vier Jah­ren vor der Tür ste­hen. Die mei­sten unse­rer Medi­en und Poli­ti­ker hät­ten dem­nach wei­ter­hin Zeit, Äng­ste zu wecken und hun­der­te Mil­li­ar­den für die Rüstung zu verschwenden.

Wie auch immer, jetzt ist er da, der Rus­se, steht vor dem Dom von Havel­berg: lebens­groß, also über zwei Meter mes­send, ohne den ver­krümm­ten Rücken groß gewach­se­ner heu­ti­ger Poli­ti­ker, und sieht aus wie jemand, mit dem »nicht gut Kir­schen essen ist«. Er erfuhr näm­lich in Havel­berg, dass der Kron­prinz Ale­xej wäh­rend einer Mis­si­on in Wien deser­tier­te: Ein Ver­rat, den der Zare­witsch nicht über­leb­te. Zum Glück ist der fin­ste­re Mann völ­lig leb­los und aus Bron­ze gegos­sen. Er steht mit dem Hut in der Lin­ken auf dem Havel­ber­ger Dom­platz – auf der Brust ein Schlitz für eine Zwei-Euro-Mün­ze. Wenn zuvor nicht gera­de ein Rubel­stück oder etwas ande­res ein­ge­wor­fen wur­de und das Tou­ris­mus­bü­ro end­lich jeman­den schickt, der die Geld­kas­set­te leert und den Mecha­nis­mus über­prüft, dann kann man dem Stand­bild eine Post­kar­te aus dem Qua­sten­gür­tel ziehen.

Die Hin­weis­ta­fel an einem Flü­gel des ver­fal­len­den Kran­ken­hau­ses nahe­bei ver­rät, wor­an der bron­ze­ne Rus­se erin­nern soll: »In die­sem Gebäu­de, der ein­sti­gen Prop­stei, unter­zeich­ne­ten Zar Peter I. und König Fried­rich Wil­helm I. am 27. Novem­ber 1716 die ›Kon­ven­ti­on von Havel­berg‹ im Rah­men der anti­schwe­di­schen Koali­ti­on. Gast­ge­schen­ke: Das Bern­stein­zim­mer und die Staats­yacht gegen 200 ›Lan­ge Kerls‹ für den Sol­da­ten­kö­nig.« Die Zusam­men­kunft der bei­den Mon­ar­chen – der erheb­lich klei­ne­re preu­ßi­sche König Fried­rich Wil­helm I. steht, eben­falls aus Bron­ze, unmit­tel­bar vor Peter dem Gro­ßen – dien­te dem Bünd­nis gegen Schwe­den, das seit dem Drei­ßig­jäh­ri­gen Krieg die Ost­see nahe­zu unein­ge­schränkt beherrsch­te. Denn bei­de, Russ­land wie Preu­ßen, such­ten Zugän­ge zum Meer, zur »Mut­ter aller Kom­mer­zi­en«, und Fried­rich Wil­helm wird gehofft haben, sie mit rus­si­scher Hil­fe zu gewin­nen. Vom Bestre­ben her gese­hen, schien der Preu­ßen­kö­nig dem Zaren also ein geeig­ne­ter Part­ner zu sein, wenn­gleich einer von min­de­rer mili­tä­ri­scher Bedeutung.

Wie das? Ein König von Preu­ßen, des angeb­lich über­aus aggres­si­ven Staa­tes, in dem ein Mili­ta­ris­mus ange­be­tet wur­de, der spä­ter­hin gera­de­wegs in die Welt­krie­ge führ­te, war nicht hin­rei­chend gerü­stet, um sein Vor­ha­ben allein durch­zu­set­zen? In der Tat war Preu­ßen zum Bei­spiel mit der Erobe­rung des histo­ri­schen Vor­pom­merns mit­samt den Inseln Use­dom und Wol­lin sowie von Stet­tin – das es bereits beses­sen und im Ver­lauf von Frie­dens­ver­hand­lun­gen wie­der ver­lo­ren hat­te – noch über­for­dert. Und sein »Sol­da­ten­kö­nig« ver­dank­te den Bei­na­men eher der Vor­lie­be für »Lan­ge Kerls«, den sechs rhein­län­di­sche oder preu­ßi­sche Fuß (1,88 m) über­ra­gen­den Sol­da­ten der Königs­gar­de, als einer über­wäl­ti­gen­den mili­tä­ri­schen Macht. Sieht man ab von sei­nen bru­ta­len Zügen, von Jäh­zorn und vom Spaß, den er bis­wei­len an der Demü­ti­gung ande­rer fand, war der beleib­te Fried­rich Wil­helm ein eher fried­fer­ti­ger Mann, der Kon­flik­te mied und zu malen begann, als die Gicht ihn schließ­lich von den Exer­zier­plät­zen fern­hielt. An Krie­gen hat­te er sich zuletzt als Kron­prinz betei­ligt und als König ledig­lich gemein­sam mit däni­schen und säch­si­schen Trup­pen an der Bela­ge­rung von Stral­sund teil­ge­nom­men – nach­dem er ohn­mäch­tig hat­te zuse­hen müs­sen, wenn frem­de Mäch­te die preu­ßi­sche Neu­tra­li­tät ver­letz­ten. Anson­sten muss man den Auf­bau einer schlag­kräf­ti­gen Armee in unsi­che­ren Zei­ten, Fried­rich Wil­helms spar­sa­me, gera­de­zu knicke­ri­ge Hof­hal­tung, die Schaf­fung einer straf­fen Ver­wal­tung, eine bür­ger­li­che Arbeits- und Wirt­schafts­auf­fass­sung (»Paro­le: auf die­ser Welt ist nichts als Unru­he und Arbeit«), die Ein­füh­rung der all­ge­mei­nen Schul­pflicht sowie die Zuflucht, die er mehr­fach den vie­len Men­schen gewähr­te, die wegen ihrer reli­giö­sen Ansich­ten ver­folgt wur­den, wohl nicht unbe­dingt dem Mili­ta­ris­mus zuord­nen. (Der­lei Iro­nie, die sei­nem wider­spen­sti­gen Sohn Fried­rich bei Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit dem Vater leicht von den Lip­pen ging, hat er natür­lich gehasst.) Weiß jemand, in wel­chem christ­li­chen Staat Euro­pas Mus­li­me erst­mals einen Gebets­raum beka­men? Das geschah im vom »Sol­da­ten­kö­nig« regier­ten Preußen.

Es war ver­mut­lich dem Inter­es­se Peters des Gro­ßen für den Schiff­bau zu dan­ken, dass einer Begeg­nung in Havel­berg am Zusam­men­fluss von Havel und Elbe der Vor­zug gege­ben wur­de; Ber­lin kann­te der Zar ja bereits. Viel­leicht haben die bei­den Herr­scher für das Tref­fen zunächst den Dom­platz über der Stadt gewählt, wo der him­mel­ho­he, aus Grau­wacke gefüg­te West­rie­gel des Domes mit sei­nen an Schieß­schar­ten erin­nern­den Licht­schäch­ten dem Got­tes­haus das Äuße­re einer Wehr­kir­che ver­leiht. Es könn­te auch von den Erbau­ern gewünscht wor­den sein – zumin­dest wäh­rend der soge­nann­ten Wen­den­krie­ge gegen die ursprüng­li­che sla­wi­sche Bevöl­ke­rung. Noch heu­te sieht man vom Dom­platz vor dem West­rie­gel her­ab auf eine klei­ne Werft an der Havel: Hier sind damals Schif­fe vom Sta­pel gelau­fen, die weit über den Atlan­tik und zum Golf von Gui­nea segel­ten. In Havel­berg ent­stan­den jeden­falls ihre Rümp­fe, Masten, Rahen und Rund­höl­zer aller Art, die mit der Hil­fe von Pfer­den nach Ham­burg getrei­delt und dort auf­ge­ta­kelt wur­den. Die­sen Weg auf der Elbe muss auch die kost­ba­re Staats­yacht »Die Kro­ne« genom­men haben, das wert­voll­ste Prä­sent für Peter I., bei des­sen Bau nicht mit Blatt­gold gespart wor­den war. Tat­säch­lich über­stieg ihr Preis mehr als drei­fach jenen der Aus­stat­tung des Bern­stein­zim­mers, das der eigent­lich als gei­zig ver­schrie­ne Fried­rich Wil­helm als Hoch­zeits­ge­schenk von sei­nem Vater Fried­rich I. bekom­men hat­te und nun zum Zei­chen gro­ßer Wert­schät­zung für den Zaren aus dem Ber­li­ner Schloss aus­bau­en ließ. (Schatz­su­cher for­schen noch heu­te – zuletzt im Wrack der »Karls­ru­he« – nach den damals in 18 Kisten ver­pack­ten Wand­ver­tä­fe­lun­gen, die ursprüng­lich 30000 Taler geko­stet haben sol­len. Die spä­ter im Katha­ri­nen­pa­last von Zar­s­ko­je Selo bei Sankt Peters­burg ange­brach­ten Panee­le wur­den nach dem Über­fall auf die Sowjet­uni­on von der Wehr­macht geraubt und ab 1942 im Königs­ber­ger Schloss aus­ge­stellt. Sie sind seit dem Vor­rücken der Roten Armee und der Räu­mung des Schlos­ses 1944 ver­schol­len. In Zars­koe Selo kann seit 2003 eine seit Jah­ren vor­be­rei­te­te Rekon­struk­ti­on bewun­dert wer­den, die nach einer Spen­de der Ruhr­gas AG von 3,5 Mil­lio­nen Dol­lar abge­schlos­sen wur­de. Die »Karls­ru­he« hin­ge­gen ist im April 1945 von sowje­ti­schen Flug­zeu­gen durch Tor­pe­dos ver­senkt wor­den. Das Schiff trans­por­tier­te zuvor mehr­fach Ver­wun­de­te und Flücht­lin­ge aus den deut­schen Ost­ge­bie­ten, zum letz­ten Mal wäh­rend der Fahrt von Pil­lau nach Kopen­ha­gen, die noch vor der heu­ti­gen pol­ni­schen Küste endete.)

Im Pri­g­nitz-Muse­um am Havel­ber­ger Dom kann man Model­le der in Havel­berg gebau­ten Schif­fe bese­hen, dar­un­ter die Bri­gan­ti­ne »Castell Fried­richs­burg« von 1688 mit der Bau­num­mer Eins: Ein Mär­chen unter sie­ben Segeln, das den Namen der 1683 unter dem Gro­ßen Kur­für­sten errich­te­ten, bran­den­bur­gi­schen Festung an der Gold­kü­ste – heu­te Gha­na – trug. Das Fort war, wie es in den Grün­dungs­pri­vi­le­gi­en der Bran­den­bur­gisch-Afri­ka­ni­schen Com­pa­gnie hieß, als Nie­der­las­sung für den Han­del mit »Gold, Elfen­bein und Neger­skla­ven« gegrün­det wor­den. Ver­lief die­ser Han­del ent­täu­schend, dann wand­ten die meist von Nie­der­län­dern geführ­ten und bemann­ten Send­bo­ten Bran­den­burgs sich der Bucht von Ben­in zu. Am Strand von Ben­in tausch­ten damals afri­ka­ni­sche Skla­ven­händ­ler die wäh­rend der Stam­mes­krie­ge im Inne­ren des Kon­ti­nents zusam­men­ge­trie­be­nen Gefan­ge­nen gegen Waf­fen, Metal­le, Alko­hol und ande­re Waren aus Euro­pas Füll­horn ein. Der Weg der künf­ti­gen Arbeits­skla­ven führ­te sodann – sofern die Unglück­li­chen die See­rei­se in dunk­len, sticki­gen Lade­räu­men über­leb­ten – zu Plan­ta­gen in Nord­ame­ri­ka, Bra­si­li­en und auf den Inseln der Kari­bik. Her­nach kehr­ten die Schif­fe mit Roh­stof­fen und Kolo­ni­al­wa­ren wie Baum­wol­le, Zucker, Tabak und Kaf­fee nach Euro­pa zurück.

Was Preu­ßen betrifft, so been­de­te Fried­rich Wil­helm I. 1717 das bran­den­bur­gisch-preu­ßi­sche Aben­teu­er in Afri­ka, indem er Groß Fried­richs­burg ver­kauf­te. Vier Jah­re spä­ter ver­lor Preu­ßen dann mit der Insel Argu­in auch sei­ne letz­te Festung in Afri­ka. Es darf ver­mu­tet wer­den, dass König Fried­rich Wil­helms Ent­schei­dung nicht allein von wirt­schaft­li­chen Belan­gen bestimmt wur­de, obwohl ein mora­li­scher Hin­ter­grund erst in einem Schrei­ben sei­nes Soh­nes vom April 1782 auf­scheint: »Der Han­del mit Negern ist Mir seit jeher als schänd­lich für die Mensch­heit erschie­nen, und Ich wer­de ihn nie­mals zulas­sen oder durch Mei­ne Hand­lun­gen begünstigen.«

Unter die­sem Sohn, es war Fried­rich II., genannt der Gro­ße, ende­te übri­gens die in Havel­berg beschlos­se­ne erste preu­ßisch-rus­si­sche Waf­fen­brü­der­schaft end­gül­tig – eine zwei­te brach­te der Befrei­ungs­krieg gegen Napo­le­on –, als 1756 der nicht zuletzt von Fried­rich her­aus­ge­for­der­te Sie­ben­jäh­ri­ge Krieg begann. Das ver­lief zunächst trotz eini­ger Erfol­ge in ein­zel­nen Schlach­ten nicht wie erhofft. Im Juli 1759 schlu­gen Rus­sen das preu­ßi­sche Heer in der Schlacht bei Kay in der Neu­mark, im August such­te Fried­rich dann bei Kun­ers­dorf (Kuno­wice) den ersehn­ten Sieg über die mit ihnen ver­bün­de­ten Öster­rei­cher und schrieb danach ver­zwei­felt: »Am Ende wäre ich bei­na­he selbst in Gefan­gen­schaft gera­ten und muss­te das Schlacht­feld räu­men. Mein Rock ist von Schüs­sen durch­lö­chert, zwei Pfer­de sind mir unter dem Leib gefal­len. Mein Unglück ist, dass ich noch lebe.« Im Jahr dar­auf, im Okto­ber 1760, muss­ten ver­schreck­te Bür­ger Ber­lins nun den Anblick plün­dern­der Kosa­ken ertragen.

Rich­tig, mit dem Dom­platz von Havel­berg hat das wenig zu tun. Aber es scha­det sicher nie­man­dem, ein­mal über den Tel­ler­rand zu blicken.