Der Russe ist da! In Sachsen-Anhalt! Dabei versprach der Historiker Sönke Neitzel, derzeit Deutschlands einziger Professor für Militärgeschichte, uns soeben noch öffentlich, dies sei der letzte Sommer im Frieden. Andere der zahllosen Experten für Kriegführung und – weitaus seltener – für Friedensschlüsse meinen hingegen, russische Besatzungstruppen würden erst in vier Jahren vor der Tür stehen. Die meisten unserer Medien und Politiker hätten demnach weiterhin Zeit, Ängste zu wecken und hunderte Milliarden für die Rüstung zu verschwenden.
Wie auch immer, jetzt ist er da, der Russe, steht vor dem Dom von Havelberg: lebensgroß, also über zwei Meter messend, ohne den verkrümmten Rücken groß gewachsener heutiger Politiker, und sieht aus wie jemand, mit dem »nicht gut Kirschen essen ist«. Er erfuhr nämlich in Havelberg, dass der Kronprinz Alexej während einer Mission in Wien desertierte: Ein Verrat, den der Zarewitsch nicht überlebte. Zum Glück ist der finstere Mann völlig leblos und aus Bronze gegossen. Er steht mit dem Hut in der Linken auf dem Havelberger Domplatz – auf der Brust ein Schlitz für eine Zwei-Euro-Münze. Wenn zuvor nicht gerade ein Rubelstück oder etwas anderes eingeworfen wurde und das Tourismusbüro endlich jemanden schickt, der die Geldkassette leert und den Mechanismus überprüft, dann kann man dem Standbild eine Postkarte aus dem Quastengürtel ziehen.
Die Hinweistafel an einem Flügel des verfallenden Krankenhauses nahebei verrät, woran der bronzene Russe erinnern soll: »In diesem Gebäude, der einstigen Propstei, unterzeichneten Zar Peter I. und König Friedrich Wilhelm I. am 27. November 1716 die ›Konvention von Havelberg‹ im Rahmen der antischwedischen Koalition. Gastgeschenke: Das Bernsteinzimmer und die Staatsyacht gegen 200 ›Lange Kerls‹ für den Soldatenkönig.« Die Zusammenkunft der beiden Monarchen – der erheblich kleinere preußische König Friedrich Wilhelm I. steht, ebenfalls aus Bronze, unmittelbar vor Peter dem Großen – diente dem Bündnis gegen Schweden, das seit dem Dreißigjährigen Krieg die Ostsee nahezu uneingeschränkt beherrschte. Denn beide, Russland wie Preußen, suchten Zugänge zum Meer, zur »Mutter aller Kommerzien«, und Friedrich Wilhelm wird gehofft haben, sie mit russischer Hilfe zu gewinnen. Vom Bestreben her gesehen, schien der Preußenkönig dem Zaren also ein geeigneter Partner zu sein, wenngleich einer von minderer militärischer Bedeutung.
Wie das? Ein König von Preußen, des angeblich überaus aggressiven Staates, in dem ein Militarismus angebetet wurde, der späterhin geradewegs in die Weltkriege führte, war nicht hinreichend gerüstet, um sein Vorhaben allein durchzusetzen? In der Tat war Preußen zum Beispiel mit der Eroberung des historischen Vorpommerns mitsamt den Inseln Usedom und Wollin sowie von Stettin – das es bereits besessen und im Verlauf von Friedensverhandlungen wieder verloren hatte – noch überfordert. Und sein »Soldatenkönig« verdankte den Beinamen eher der Vorliebe für »Lange Kerls«, den sechs rheinländische oder preußische Fuß (1,88 m) überragenden Soldaten der Königsgarde, als einer überwältigenden militärischen Macht. Sieht man ab von seinen brutalen Zügen, von Jähzorn und vom Spaß, den er bisweilen an der Demütigung anderer fand, war der beleibte Friedrich Wilhelm ein eher friedfertiger Mann, der Konflikte mied und zu malen begann, als die Gicht ihn schließlich von den Exerzierplätzen fernhielt. An Kriegen hatte er sich zuletzt als Kronprinz beteiligt und als König lediglich gemeinsam mit dänischen und sächsischen Truppen an der Belagerung von Stralsund teilgenommen – nachdem er ohnmächtig hatte zusehen müssen, wenn fremde Mächte die preußische Neutralität verletzten. Ansonsten muss man den Aufbau einer schlagkräftigen Armee in unsicheren Zeiten, Friedrich Wilhelms sparsame, geradezu knickerige Hofhaltung, die Schaffung einer straffen Verwaltung, eine bürgerliche Arbeits- und Wirtschaftsauffasssung (»Parole: auf dieser Welt ist nichts als Unruhe und Arbeit«), die Einführung der allgemeinen Schulpflicht sowie die Zuflucht, die er mehrfach den vielen Menschen gewährte, die wegen ihrer religiösen Ansichten verfolgt wurden, wohl nicht unbedingt dem Militarismus zuordnen. (Derlei Ironie, die seinem widerspenstigen Sohn Friedrich bei Auseinandersetzungen mit dem Vater leicht von den Lippen ging, hat er natürlich gehasst.) Weiß jemand, in welchem christlichen Staat Europas Muslime erstmals einen Gebetsraum bekamen? Das geschah im vom »Soldatenkönig« regierten Preußen.
Es war vermutlich dem Interesse Peters des Großen für den Schiffbau zu danken, dass einer Begegnung in Havelberg am Zusammenfluss von Havel und Elbe der Vorzug gegeben wurde; Berlin kannte der Zar ja bereits. Vielleicht haben die beiden Herrscher für das Treffen zunächst den Domplatz über der Stadt gewählt, wo der himmelhohe, aus Grauwacke gefügte Westriegel des Domes mit seinen an Schießscharten erinnernden Lichtschächten dem Gotteshaus das Äußere einer Wehrkirche verleiht. Es könnte auch von den Erbauern gewünscht worden sein – zumindest während der sogenannten Wendenkriege gegen die ursprüngliche slawische Bevölkerung. Noch heute sieht man vom Domplatz vor dem Westriegel herab auf eine kleine Werft an der Havel: Hier sind damals Schiffe vom Stapel gelaufen, die weit über den Atlantik und zum Golf von Guinea segelten. In Havelberg entstanden jedenfalls ihre Rümpfe, Masten, Rahen und Rundhölzer aller Art, die mit der Hilfe von Pferden nach Hamburg getreidelt und dort aufgetakelt wurden. Diesen Weg auf der Elbe muss auch die kostbare Staatsyacht »Die Krone« genommen haben, das wertvollste Präsent für Peter I., bei dessen Bau nicht mit Blattgold gespart worden war. Tatsächlich überstieg ihr Preis mehr als dreifach jenen der Ausstattung des Bernsteinzimmers, das der eigentlich als geizig verschriene Friedrich Wilhelm als Hochzeitsgeschenk von seinem Vater Friedrich I. bekommen hatte und nun zum Zeichen großer Wertschätzung für den Zaren aus dem Berliner Schloss ausbauen ließ. (Schatzsucher forschen noch heute – zuletzt im Wrack der »Karlsruhe« – nach den damals in 18 Kisten verpackten Wandvertäfelungen, die ursprünglich 30000 Taler gekostet haben sollen. Die später im Katharinenpalast von Zarskoje Selo bei Sankt Petersburg angebrachten Paneele wurden nach dem Überfall auf die Sowjetunion von der Wehrmacht geraubt und ab 1942 im Königsberger Schloss ausgestellt. Sie sind seit dem Vorrücken der Roten Armee und der Räumung des Schlosses 1944 verschollen. In Zarskoe Selo kann seit 2003 eine seit Jahren vorbereitete Rekonstruktion bewundert werden, die nach einer Spende der Ruhrgas AG von 3,5 Millionen Dollar abgeschlossen wurde. Die »Karlsruhe« hingegen ist im April 1945 von sowjetischen Flugzeugen durch Torpedos versenkt worden. Das Schiff transportierte zuvor mehrfach Verwundete und Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten, zum letzten Mal während der Fahrt von Pillau nach Kopenhagen, die noch vor der heutigen polnischen Küste endete.)
Im Prignitz-Museum am Havelberger Dom kann man Modelle der in Havelberg gebauten Schiffe besehen, darunter die Brigantine »Castell Friedrichsburg« von 1688 mit der Baunummer Eins: Ein Märchen unter sieben Segeln, das den Namen der 1683 unter dem Großen Kurfürsten errichteten, brandenburgischen Festung an der Goldküste – heute Ghana – trug. Das Fort war, wie es in den Gründungsprivilegien der Brandenburgisch-Afrikanischen Compagnie hieß, als Niederlassung für den Handel mit »Gold, Elfenbein und Negersklaven« gegründet worden. Verlief dieser Handel enttäuschend, dann wandten die meist von Niederländern geführten und bemannten Sendboten Brandenburgs sich der Bucht von Benin zu. Am Strand von Benin tauschten damals afrikanische Sklavenhändler die während der Stammeskriege im Inneren des Kontinents zusammengetriebenen Gefangenen gegen Waffen, Metalle, Alkohol und andere Waren aus Europas Füllhorn ein. Der Weg der künftigen Arbeitssklaven führte sodann – sofern die Unglücklichen die Seereise in dunklen, stickigen Laderäumen überlebten – zu Plantagen in Nordamerika, Brasilien und auf den Inseln der Karibik. Hernach kehrten die Schiffe mit Rohstoffen und Kolonialwaren wie Baumwolle, Zucker, Tabak und Kaffee nach Europa zurück.
Was Preußen betrifft, so beendete Friedrich Wilhelm I. 1717 das brandenburgisch-preußische Abenteuer in Afrika, indem er Groß Friedrichsburg verkaufte. Vier Jahre später verlor Preußen dann mit der Insel Arguin auch seine letzte Festung in Afrika. Es darf vermutet werden, dass König Friedrich Wilhelms Entscheidung nicht allein von wirtschaftlichen Belangen bestimmt wurde, obwohl ein moralischer Hintergrund erst in einem Schreiben seines Sohnes vom April 1782 aufscheint: »Der Handel mit Negern ist Mir seit jeher als schändlich für die Menschheit erschienen, und Ich werde ihn niemals zulassen oder durch Meine Handlungen begünstigen.«
Unter diesem Sohn, es war Friedrich II., genannt der Große, endete übrigens die in Havelberg beschlossene erste preußisch-russische Waffenbrüderschaft endgültig – eine zweite brachte der Befreiungskrieg gegen Napoleon –, als 1756 der nicht zuletzt von Friedrich herausgeforderte Siebenjährige Krieg begann. Das verlief zunächst trotz einiger Erfolge in einzelnen Schlachten nicht wie erhofft. Im Juli 1759 schlugen Russen das preußische Heer in der Schlacht bei Kay in der Neumark, im August suchte Friedrich dann bei Kunersdorf (Kunowice) den ersehnten Sieg über die mit ihnen verbündeten Österreicher und schrieb danach verzweifelt: »Am Ende wäre ich beinahe selbst in Gefangenschaft geraten und musste das Schlachtfeld räumen. Mein Rock ist von Schüssen durchlöchert, zwei Pferde sind mir unter dem Leib gefallen. Mein Unglück ist, dass ich noch lebe.« Im Jahr darauf, im Oktober 1760, mussten verschreckte Bürger Berlins nun den Anblick plündernder Kosaken ertragen.
Richtig, mit dem Domplatz von Havelberg hat das wenig zu tun. Aber es schadet sicher niemandem, einmal über den Tellerrand zu blicken.