Er wollte immer auf der Erde sein, Erwin Strittmatter, der »Wundertäter«, wie er im Osten genannt wird. Und lange bleiben. Denn die Natur war ihm Paradies und Fluchtpunkt. Aber so geht es uns ja allen, wenn wir die Farben des Herbstlaubs sehen oder das Meer. Naja, wenige Ausnahmen gibt es. Elon Musk zum Beispiel. Der will auf den Mars. Ich werde ihn nicht vermissen. Begegnungen lösen Gedanken, die sich oft für Jahre im Hirn abgelagert haben. So ging es mir im Frühling 1989. In einer landesweit »maßgebenden« Zeitung, die sich Zentralorgan nannte, entließ ich mein Urteil zu dem neuen Gedichtbuch »Atem«. Autorin dieser Poesie war die Gefährtin des Wundertäters. Und deren Buch gefiel mir. Und so kam es, dass der Wundertäter auch ein Gran Gefallen an der Rezension fand. Wir vereinbarten ein Interview. Er sei am 27. Mai in der Gegend, weil er in seiner Geburtsstadt Spremberg lesen und die Ehrenbürger-Urkunde erhalten solle. In der Aula der Karl-Marx-Oberschule las er dann seine »Letzten Meldungen«. Es war der Arbeitstitel des Manuskripts vom dritten Teil der Trilogie »Der Laden«, der 1992, zwei Jahre vor seinem Tod erschien.
Wir trafen uns vor der Lesung in Cottbus. Er logierte im damaligen »Hotel Lausitz«. Es war ein kurzes Gespräch, denn ich spürte seine Anspannung vor der Lesung. Aber unsere Begegnung hatte Folgen. Er fragte mich, womit ich mich beschäftige. Mit Henry David Thoreau, sagte ich. Drei Jahre zuvor, bereits in der Gorbatschow-Ära, waren im DDR-Verlag Kiepenheuer dessen Essays »Leben ohne Grundsätze« erschienen. Und ich beschaffte mir auch die Trauerrede von Ralph Waldo Emerson, die dieser am 9. Mai 1862 in Concord/Massachusetts auf Thoreau hielt. Davon erzählte ich Strittmatter. Es war ein Credo, ein Programm fürs Überleben, eine Idee, die 1989, 122 Jahre später also, noch Orientierung verhieß. Und das war für Strittmatter in dieser bewegten Zeit wie ein Feuerwerk. Er lud mich zu sich ein. Nach Schulzenhof. Dass es erst Jahre später klappte – da war er schon tot –, war den unruhigen Jahren nach dem Zusammenbruch der DDR geschuldet.
Im Vorfrühling 1996 fuhren wir – meine Frau und ich – nach Schulzenhof. Fernab von den Metropolen des Irrsinns, in einem Dreizehn-Seelen-Dorf nahe Gransee lebte Eva Strittmatter, die Dichterin und Witwe des Wundertäters. Sie hatte uns eingeladen. Es war ein kalter Vorfrühlingstag. Die Dichterin fragte mich, ob wir Erwins Arbeitsstube sehen wollten. Kein Fremder hatte diesen Ort zu seinen Lebzeiten betreten dürfen. Und auch danach war es wie die geheime Schatzhöhle von Ali Baba. Nun waren wir drin. Die hölzerne Stube über das ganze Dachgeschoss gedehnt, der Atem der Wälder, nach allen Himmelsrichtungen die Fenster, der Ohrensessel mit dem Fell, die Bücherregale, Isaak Babels Reiterarmee, Konstantin Paustowskis Buch der Wanderungen, Bertolt Brecht, Hermann Hesse, Thoreau, Laotse, Goethe selbstverständlich, unübersehbar die kostbare Fülle zwischen den Buchdeckeln.
Lebenslang interessierte mich der Raum, in dem aus dem Alltag Literatur gekeltert wird. Weil ich denke, dass der Arbeitsort und seine Atmosphäre den Geist und das Gefühl des Autors bergen, ja, dass sie ihn formen, beseelen, seine Sinne weiten, seine Sehnsüchte und Ängste mildern und den Gegenstand seiner Literatur befestigen. Johann Gottfried Herder schrieb einst: »Wie die Menschen denken und leben, so bauen und wohnen sie auch.« Der genius loci, der Geist des Ortes setzt so tatsächlich ein Geheimnis frei und spricht sich über den Dichter aus. Vergangenheit wird gegenwärtig und Gegenwart der Vergänglichkeit entrissen. Aus Wahrheit entsteht Dichtung, und diese ist wiederum eine neue Wahrheit. Aber was kann sie uns sagen?
Der Blick aus Strittmatters Fenster geht auf das Gartenhaus, am Horizont der Kiefernwald und das abendliche Licht, der Raureif auf den Wiesen, die Freiheit der Bäume. Da schwingt auch die Sehnsucht nach einer anderen Welt mit, einer Welt, die sich an den Elementen orientiert, an klarem Wasser, an dem Segen der Wälder, der Erde, an reiner Luft und Stille, frei vom Tempo und Verschleiß der digitalen Welt. Des Dichters Ort mit der Botschaft: Wir müssen wieder Natur werden. Sinnlich und vernunftbegabt. Auf zwei Zeichen reduziert, kann keine Zukunft wachsen. Der binäre Code und die künstliche Intelligenz als einziges Maß verkrüppeln das Menschliche, vom Göttlichen nicht zu reden. Denn der rechnenden Intelligenz fehlt die moralische und kulturelle Dimension. Sie entfacht den verblödenden Konsum, nimmt uns das Denken ab und bereitet die Brache für eine unvorhersehbare infantile Kultur.
Ein weltbekannter deutscher Philosoph und Gesellschaftskritiker, bärtiger Pilzkopf aus Trier und Unruhestifter par excellence, wurde 1856 zu einem Bankett der Londoner Wochenzeitung The People’s Paper geladen. Dort hielt er eine Rede, die 169 Jahre später als aktuelle soziale Wasserstandsmeldung gelesen werden kann: »In unseren Tagen scheint jedes Ding mit seinem Gegenteil schwanger zu gehen (…). Die neuen Quellen des Reichtums verwandeln sich durch einen Zauberbann zu Quellen der Not. Die Siege der Wissenschaft scheinen erkauft durch Verlust an Charakter. All unser Erfinden und Fortschritt läuft darauf hinaus, dass sie materielle Kräfte mit geistigem Leben ausstatten und das menschliche Leben zu einer materiellen Kraft verdummen.«
Zurück in Dichters Arbeitsstube. Zu seinen Büchern und seinem Lebensstoff. Sie sind die Antithese zur Welt da draußen: Die künstliche Intelligenz wächst proportional zur natürlichen Dummheit. Der einzige Weg, lebensfähig und unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten. So etwa hat Johann Joachim Winckelmann vor über 200 Jahren argumentiert. Die Alten sind die jungen Weisen. Im Klartext solche wie Laotse, Seneca, Montaigne, Kant, Leibnitz und die Humboldts und so fort. Heute erfahren wir die Digitalisierung mit ihren Folgen überwiegend als unbestimmtes Fatum und die einseitige Glorifizierung derselben als Fluch, jedenfalls als fragwürdige gesellschaftliche Sucht. Kontrollierbar ist das alles nicht mehr.
Am 5. September 2025 berichtet die televisionäre Tagesschau vom ersten europäischen Supercomputer der Exascale-Klasse in dem rheinischen Provinzort Jülich, eingedeutscht die englische Bezeichnung: »Jupiter«. Die Fachleute verlautbaren: »Wenn Jupiter als KI-Trainer eingesetzt wird, kann er eine KI-Rechenleistung von etwa 40 Exa-FLOP/s bei 8-Bit-KI-Präzision oder sogar 80 Exa-FLOP/s im 8-Bit-Sparsity-Modus bieten.« Kann irgendein Bürger begreifen, was da vorgeht? Und wurde das Volk gefragt, ob es das will? Und braucht? Freilich, der Supercomputer kann jetzt schneller die nächsten Kipp-Punkte für den Klimawandel berechnen. Den Taktstraßen des Profits einen Turbo liefern. Übersetzt ins Hochdeutsche: Der Mensch wird zum Überleben zu tüchtig. Ein paar Silicon-Valley-Garagen-Milliardäre, die hochprofessionell und technologisch versiert über den Globus streunen, übernehmen das politische Ruder. Ohne Demut vor Natur und Geschichte. Das ist die Gegenwelt zu Strittmatters Arbeitsstube, zum analogen Dasein, zum Kern der Dinge: Kalt, künstlich, fern von den Wurzeln, nicht überschaubar, die Natur verachtend, die Bergpredigt verlachend.
Welche Lektion erreicht uns von den Altvorderen: Johann Sebastian Bach hatte kein Mobiltelefon, aber er schrieb Toccata und die Fuge d-Moll. Pieter Bruegel dem Älteren mangelte es am elektrischen Licht, aber er schuf die Kleine Winterlandschaft. Michel de Montaigne fehlten Schreibmaschine und Tabletten gegen Zahnschmerz, aber er schrieb die Essais. Otto Hahn stand am kargen Holztisch und hatte weder Plastiklineal noch Taschenrechner, aber er spaltete das Atom.
Viele Schwergewichte im literarischen Metier flohen die Megamaschine in früher Zeit. Hesse zog sich in seine Casa Camuzzi in Montagnola zurück, Hemingway in die Finca La Vigía auf dem Hügel in San Francisco de Paula (Kuba), Lew Tolstoi lebte und schrieb auf dem Landgut in Jasnaja Poljana, Martin Heidegger fand Ruhe für sein Werk »Sein und Zeit« in einer einfachen Holzhütte in Todtnauberg im Schwarzwald, Peter Hacks ging in seine »Fenne« in Groß Machnow … und Strittmatter eben nach Stechlin ins Oberhavelland.
Weiter durch dessen Arbeitsstube. Über dem Sofa das die Zeit aufhebende Dorfidyll in Öl auf Leinwand. Eines der Meisterwerke des Berliner Malers Paul Schultz-Liebisch. Die Menschen mit den Bäumen im Gespräch. Am blauen Strom, auf dem Gras, ohne Uhr, ohne den Anflug von Eile. Es durchströmt den Raum mit einem Serum: die Kunst des Einfachen. Irdisch sein und bleiben. Daneben Fotos von Lew Tolstoi. Irgendwo im Regal seine 20-Seiten-Parabel »Wieviel Erde braucht der Mensch«. Nachdenken aus der Tiefe des Raumes über den Bauern Pachom, der seinen Hals nicht voll bekam und daran starb. Dann die Bilder der Gefährtin Eva in Sichtweite des Schreibsessels. Ein Foto Hermann Hesses aus Steppenwolf-Zeiten. Am Haken das Kummet seiner Pferde, Lasso, Reitpeitsche, Windbluse und Mütze. Der alltägliche Zauber in den Dingen des Lebens. Überall die Ästhetik des Nützlichen in einer überschaubaren Welt. Aus ihr speisten sich seine Texte.
Über Strittmatters Bett das Bild von Goethes Arbeitszimmer, wie es sich Anfang des 20. Jahrhunderts im Foto von Louis Held präsentiert. Die Szenerie sehr spartanisch. Nichts sollte dem Geheimen Rat den Gedankenfluss bei der Arbeit verwirren, kein Bild an der Wand, keine Skulptur auf den Schränken, kein Marmor oder Dekoplunder. So wollte der Wundertäter sich per Bild stetig am Weimarer Großpoeten üben. Die Literatur gibt nicht das allen Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar, was hinter der Realität vorgeht. Die Metaphysik der Poesie. Es ist eine Melange aus Dichtung und Wahrheit, aus Fakt und Artefakt, aus Tatsache und Fantasie.
Hat der Zauber der Vergangenheit, des Einfachen, der Stimme von Humanitas, der Literatur eine Chance, in die Zukunft zu ragen? Die Fragen sind stets dieselben über alle Jahrhunderte. Heute stehen sie in nie dagewesener Brisanz. Daran dachte ich beim Aufenthalt in der Strittmatter’schen Arbeitsstube. Und beim Eintauchen in die Landschaft, in die es zurückzukehren gilt.