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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Aus der Arbeitsstube des Wundertäters

Er woll­te immer auf der Erde sein, Erwin Stritt­mat­ter, der »Wun­der­tä­ter«, wie er im Osten genannt wird. Und lan­ge blei­ben. Denn die Natur war ihm Para­dies und Flucht­punkt. Aber so geht es uns ja allen, wenn wir die Far­ben des Herbst­laubs sehen oder das Meer. Naja, weni­ge Aus­nah­men gibt es. Elon Musk zum Bei­spiel. Der will auf den Mars. Ich wer­de ihn nicht ver­mis­sen. Begeg­nun­gen lösen Gedan­ken, die sich oft für Jah­re im Hirn abge­la­gert haben. So ging es mir im Früh­ling 1989. In einer lan­des­weit »maß­ge­ben­den« Zei­tung, die sich Zen­tral­or­gan nann­te, ent­ließ ich mein Urteil zu dem neu­en Gedicht­buch »Atem«. Autorin die­ser Poe­sie war die Gefähr­tin des Wun­der­tä­ters. Und deren Buch gefiel mir. Und so kam es, dass der Wun­der­tä­ter auch ein Gran Gefal­len an der Rezen­si­on fand. Wir ver­ein­bar­ten ein Inter­view. Er sei am 27. Mai in der Gegend, weil er in sei­ner Geburts­stadt Sprem­berg lesen und die Ehren­bür­ger-Urkun­de erhal­ten sol­le. In der Aula der Karl-Marx-Ober­schu­le las er dann sei­ne »Letz­ten Mel­dun­gen«. Es war der Arbeits­ti­tel des Manu­skripts vom drit­ten Teil der Tri­lo­gie »Der Laden«, der 1992, zwei Jah­re vor sei­nem Tod erschien.

Wir tra­fen uns vor der Lesung in Cott­bus. Er logier­te im dama­li­gen »Hotel Lau­sitz«. Es war ein kur­zes Gespräch, denn ich spür­te sei­ne Anspan­nung vor der Lesung. Aber unse­re Begeg­nung hat­te Fol­gen. Er frag­te mich, womit ich mich beschäf­ti­ge. Mit Hen­ry David Tho­reau, sag­te ich. Drei Jah­re zuvor, bereits in der Gor­bat­schow-Ära, waren im DDR-Ver­lag Kie­pen­heu­er des­sen Essays »Leben ohne Grund­sät­ze« erschie­nen. Und ich beschaff­te mir auch die Trau­er­re­de von Ralph Wal­do Emer­son, die die­ser am 9. Mai 1862 in Concord/​Massachusetts auf Tho­reau hielt. Davon erzähl­te ich Stritt­mat­ter. Es war ein Cre­do, ein Pro­gramm fürs Über­le­ben, eine Idee, die 1989, 122 Jah­re spä­ter also, noch Ori­en­tie­rung ver­hieß. Und das war für Stritt­mat­ter in die­ser beweg­ten Zeit wie ein Feu­er­werk. Er lud mich zu sich ein. Nach Schul­zen­hof. Dass es erst Jah­re spä­ter klapp­te – da war er schon tot –, war den unru­hi­gen Jah­ren nach dem Zusam­men­bruch der DDR geschuldet.

Im Vor­früh­ling 1996 fuh­ren wir – mei­ne Frau und ich – nach Schul­zen­hof. Fern­ab von den Metro­po­len des Irr­sinns, in einem Drei­zehn-See­len-Dorf nahe Gran­see leb­te Eva Stritt­mat­ter, die Dich­te­rin und Wit­we des Wun­der­tä­ters. Sie hat­te uns ein­ge­la­den. Es war ein kal­ter Vor­früh­lings­tag. Die Dich­te­rin frag­te mich, ob wir Erwins Arbeits­stu­be sehen woll­ten. Kein Frem­der hat­te die­sen Ort zu sei­nen Leb­zei­ten betre­ten dür­fen. Und auch danach war es wie die gehei­me Schatz­höh­le von Ali Baba. Nun waren wir drin. Die höl­zer­ne Stu­be über das gan­ze Dach­ge­schoss gedehnt, der Atem der Wäl­der, nach allen Him­mels­rich­tun­gen die Fen­ster, der Ohren­ses­sel mit dem Fell, die Bücher­re­ga­le, Isaak Babels Rei­ter­ar­mee, Kon­stan­tin Pau­stow­skis Buch der Wan­de­run­gen, Ber­tolt Brecht, Her­mann Hes­se, Tho­reau, Lao­tse, Goe­the selbst­ver­ständ­lich, unüber­seh­bar die kost­ba­re Fül­le zwi­schen den Buchdeckeln.

Lebens­lang inter­es­sier­te mich der Raum, in dem aus dem All­tag Lite­ra­tur gekel­tert wird. Weil ich den­ke, dass der Arbeits­ort und sei­ne Atmo­sphä­re den Geist und das Gefühl des Autors ber­gen, ja, dass sie ihn for­men, besee­len, sei­ne Sin­ne wei­ten, sei­ne Sehn­süch­te und Äng­ste mil­dern und den Gegen­stand sei­ner Lite­ra­tur befe­sti­gen. Johann Gott­fried Her­der schrieb einst: »Wie die Men­schen den­ken und leben, so bau­en und woh­nen sie auch.« Der geni­us loci, der Geist des Ortes setzt so tat­säch­lich ein Geheim­nis frei und spricht sich über den Dich­ter aus. Ver­gan­gen­heit wird gegen­wär­tig und Gegen­wart der Ver­gäng­lich­keit ent­ris­sen. Aus Wahr­heit ent­steht Dich­tung, und die­se ist wie­der­um eine neue Wahr­heit. Aber was kann sie uns sagen?

Der Blick aus Stritt­mat­ters Fen­ster geht auf das Gar­ten­haus, am Hori­zont der Kie­fern­wald und das abend­li­che Licht, der Rau­reif auf den Wie­sen, die Frei­heit der Bäu­me. Da schwingt auch die Sehn­sucht nach einer ande­ren Welt mit, einer Welt, die sich an den Ele­men­ten ori­en­tiert, an kla­rem Was­ser, an dem Segen der Wäl­der, der Erde, an rei­ner Luft und Stil­le, frei vom Tem­po und Ver­schleiß der digi­ta­len Welt. Des Dich­ters Ort mit der Bot­schaft: Wir müs­sen wie­der Natur wer­den. Sinn­lich und ver­nunft­be­gabt. Auf zwei Zei­chen redu­ziert, kann kei­ne Zukunft wach­sen. Der binä­re Code und die künst­li­che Intel­li­genz als ein­zi­ges Maß ver­krüp­peln das Mensch­li­che, vom Gött­li­chen nicht zu reden. Denn der rech­nen­den Intel­li­genz fehlt die mora­li­sche und kul­tu­rel­le Dimen­si­on. Sie ent­facht den ver­blö­den­den Kon­sum, nimmt uns das Den­ken ab und berei­tet die Bra­che für eine unvor­her­seh­ba­re infan­ti­le Kultur.

Ein welt­be­kann­ter deut­scher Phi­lo­soph und Gesell­schafts­kri­ti­ker, bär­ti­ger Pilz­kopf aus Trier und Unru­he­stif­ter par excel­lence, wur­de 1856 zu einem Ban­kett der Lon­do­ner Wochen­zei­tung The People’s Paper gela­den. Dort hielt er eine Rede, die 169 Jah­re spä­ter als aktu­el­le sozia­le Was­ser­stands­mel­dung gele­sen wer­den kann: »In unse­ren Tagen scheint jedes Ding mit sei­nem Gegen­teil schwan­ger zu gehen (…). Die neu­en Quel­len des Reich­tums ver­wan­deln sich durch einen Zau­ber­bann zu Quel­len der Not. Die Sie­ge der Wis­sen­schaft schei­nen erkauft durch Ver­lust an Cha­rak­ter. All unser Erfin­den und Fort­schritt läuft dar­auf hin­aus, dass sie mate­ri­el­le Kräf­te mit gei­sti­gem Leben aus­stat­ten und das mensch­li­che Leben zu einer mate­ri­el­len Kraft verdummen.«

Zurück in Dich­ters Arbeits­stu­be. Zu sei­nen Büchern und sei­nem Lebens­stoff. Sie sind die Anti­the­se zur Welt da drau­ßen: Die künst­li­che Intel­li­genz wächst pro­por­tio­nal zur natür­li­chen Dumm­heit. Der ein­zi­ge Weg, lebens­fä­hig und unnach­ahm­lich zu wer­den, ist die Nach­ah­mung der Alten. So etwa hat Johann Joa­chim Win­ckel­mann vor über 200 Jah­ren argu­men­tiert. Die Alten sind die jun­gen Wei­sen. Im Klar­text sol­che wie Lao­tse, Sene­ca, Mon­tai­gne, Kant, Leib­nitz und die Hum­boldts und so fort. Heu­te erfah­ren wir die Digi­ta­li­sie­rung mit ihren Fol­gen über­wie­gend als unbe­stimm­tes Fatum und die ein­sei­ti­ge Glo­ri­fi­zie­rung der­sel­ben als Fluch, jeden­falls als frag­wür­di­ge gesell­schaft­li­che Sucht. Kon­trol­lier­bar ist das alles nicht mehr.

Am 5. Sep­tem­ber 2025 berich­tet die tele­vi­sio­nä­re Tages­schau vom ersten euro­päi­schen Super­com­pu­ter der Exas­ca­le-Klas­se in dem rhei­ni­schen Pro­vinz­ort Jülich, ein­ge­deutscht die eng­li­sche Bezeich­nung: »Jupi­ter«. Die Fach­leu­te ver­laut­ba­ren: »Wenn Jupi­ter als KI-Trai­ner ein­ge­setzt wird, kann er eine KI-Rechen­lei­stung von etwa 40 Exa-FLOP/s bei 8-Bit-KI-Prä­zi­si­on oder sogar 80 Exa-FLOP/s im 8-Bit-Spar­si­ty-Modus bie­ten.« Kann irgend­ein Bür­ger begrei­fen, was da vor­geht? Und wur­de das Volk gefragt, ob es das will? Und braucht? Frei­lich, der Super­com­pu­ter kann jetzt schnel­ler die näch­sten Kipp-Punk­te für den Kli­ma­wan­del berech­nen. Den Takt­stra­ßen des Pro­fits einen Tur­bo lie­fern. Über­setzt ins Hoch­deut­sche: Der Mensch wird zum Über­le­ben zu tüch­tig. Ein paar Sili­con-Val­ley-Gara­gen-Mil­li­ar­dä­re, die hoch­pro­fes­sio­nell und tech­no­lo­gisch ver­siert über den Glo­bus streu­nen, über­neh­men das poli­ti­sche Ruder. Ohne Demut vor Natur und Geschich­te. Das ist die Gegen­welt zu Stritt­mat­ters Arbeits­stu­be, zum ana­lo­gen Dasein, zum Kern der Din­ge: Kalt, künst­lich, fern von den Wur­zeln, nicht über­schau­bar, die Natur ver­ach­tend, die Berg­pre­digt verlachend.

Wel­che Lek­ti­on erreicht uns von den Alt­vor­de­ren: Johann Seba­sti­an Bach hat­te kein Mobil­te­le­fon, aber er schrieb Toc­ca­ta und die Fuge d-Moll. Pie­ter Brue­gel dem Älte­ren man­gel­te es am elek­tri­schen Licht, aber er schuf die Klei­ne Win­ter­land­schaft. Michel de Mon­tai­gne fehl­ten Schreib­ma­schi­ne und Tablet­ten gegen Zahn­schmerz, aber er schrieb die Essais. Otto Hahn stand am kar­gen Holz­tisch und hat­te weder Pla­stik­li­ne­al noch Taschen­rech­ner, aber er spal­te­te das Atom.

Vie­le Schwer­ge­wich­te im lite­ra­ri­schen Metier flo­hen die Megama­schi­ne in frü­her Zeit. Hes­se zog sich in sei­ne Casa Camuz­zi in Mon­tagno­la zurück, Heming­way in die Fin­ca La Vigía auf dem Hügel in San Fran­cis­co de Pau­la (Kuba), Lew Tol­stoi leb­te und schrieb auf dem Land­gut in Jas­na­ja Pol­ja­na, Mar­tin Heid­eg­ger fand Ruhe für sein Werk »Sein und Zeit« in einer ein­fa­chen Holz­hüt­te in Todt­nau­berg im Schwarz­wald, Peter Hacks ging in sei­ne »Fen­ne« in Groß Mach­now … und Stritt­mat­ter eben nach Stech­lin ins Oberhavelland.

Wei­ter durch des­sen Arbeits­stu­be. Über dem Sofa das die Zeit auf­he­ben­de Dorf­idyll in Öl auf Lein­wand. Eines der Mei­ster­wer­ke des Ber­li­ner Malers Paul Schultz-Lie­bisch. Die Men­schen mit den Bäu­men im Gespräch. Am blau­en Strom, auf dem Gras, ohne Uhr, ohne den Anflug von Eile. Es durch­strömt den Raum mit einem Serum: die Kunst des Ein­fa­chen. Irdisch sein und blei­ben. Dane­ben Fotos von Lew Tol­stoi. Irgend­wo im Regal sei­ne 20-Sei­ten-Para­bel »Wie­viel Erde braucht der Mensch«. Nach­den­ken aus der Tie­fe des Rau­mes über den Bau­ern Pachom, der sei­nen Hals nicht voll bekam und dar­an starb. Dann die Bil­der der Gefähr­tin Eva in Sicht­wei­te des Schreib­ses­sels. Ein Foto Her­mann Hes­ses aus Step­pen­wolf-Zei­ten. Am Haken das Kum­met sei­ner Pfer­de, Las­so, Reit­peit­sche, Wind­blu­se und Müt­ze. Der all­täg­li­che Zau­ber in den Din­gen des Lebens. Über­all die Ästhe­tik des Nütz­li­chen in einer über­schau­ba­ren Welt. Aus ihr spei­sten sich sei­ne Texte.

Über Stritt­mat­ters Bett das Bild von Goe­thes Arbeits­zim­mer, wie es sich Anfang des 20. Jahr­hun­derts im Foto von Lou­is Held prä­sen­tiert. Die Sze­ne­rie sehr spar­ta­nisch. Nichts soll­te dem Gehei­men Rat den Gedan­ken­fluss bei der Arbeit ver­wir­ren, kein Bild an der Wand, kei­ne Skulp­tur auf den Schrän­ken, kein Mar­mor oder Deko­p­lun­der. So woll­te der Wun­der­tä­ter sich per Bild ste­tig am Wei­ma­rer Groß­poe­ten üben. Die Lite­ra­tur gibt nicht das allen Sicht­ba­re wie­der, son­dern macht sicht­bar, was hin­ter der Rea­li­tät vor­geht. Die Meta­phy­sik der Poe­sie. Es ist eine Melan­ge aus Dich­tung und Wahr­heit, aus Fakt und Arte­fakt, aus Tat­sa­che und Fantasie.

Hat der Zau­ber der Ver­gan­gen­heit, des Ein­fa­chen, der Stim­me von Huma­ni­tas, der Lite­ra­tur eine Chan­ce, in die Zukunft zu ragen? Die Fra­gen sind stets die­sel­ben über alle Jahr­hun­der­te. Heu­te ste­hen sie in nie dage­we­se­ner Bri­sanz. Dar­an dach­te ich beim Auf­ent­halt in der Strittmatter’schen Arbeits­stu­be. Und beim Ein­tau­chen in die Land­schaft, in die es zurück­zu­keh­ren gilt.