Lenin schlendert über den Leninplatz. Den jetzigen »Platz der Vereinten Nationen«. Da kichert selbst Lenin. Welche Nationen symbolisieren die Steine, die hier herumliegen? Als ob dieser Platz Menschen zueinander bringen würde. Ohne sein Denkmal wird er noch trostloser wirken, dachte er, als er den Abtransport seines Denkmals beobachtete. Ist eine Weile her. Sie, solche Denkmäler, sind nie hoch genug gebaut, um in den Himmel fliehen zu können. Die Typen da unten haben nicht kapiert, dass Denkmäler den Blick der Macht trainieren sollen: den Menschen auf Augenhöhe ausweichen.
Denkmäler bringen dennoch nichts. Die damit erreicht werden sollen, bemerken sie erst im Moment ihres Abrisses. Er versuchte sich immer zu übersehen. Es macht keinen Spaß, täglich an die eigenen Probleme erinnert zu werden. Er stimmte als Mitglied der Bezirksverordnetenversammlung gegen sein Denkmal, die Diskussion verstand er nicht. Manche begreifen rein gar nichts. Zwei Schritte vorwärts, einen zurück – sein altes Prinzip. Es können ja auch zwei zurück sein. Oder zwanzig. Verzählen ist menschlich.
Wo vorn und hinten ist, darüber kann man streiten. Man sollte das flexibel sehen. Und das ewige »man« muss er sich endlich abgewöhnen, queer ist nicht schwer. Wo er doch jeder Köchin schon früh das Regieren eines Staates wünschte. Natürlich hätte er streng darauf geachtet, wer unter diesen Umständen Köchin werden darf. Eine Kochshow, als erster Preis das Regierungsamt in einem kleinen, für diese Sendung unter Verwaltung genommenes Gebiet, zu einem extra Staat erklärt. Wer rebelliert gegen eine Promi aus den sozialen Netzwerken. Schätzwerken. Wie wäre es mit einer Transformation seiner sexuellen Identität? Hauptsache, in Bewegung bleiben. In die Zukunft blicken und gegenwartsfähig wirken. Sich zu seinen Sünden bekennen, Verbrechen nicht leugnen, sondern seine Taten als Strafe seiner Taten deuten. Sollte er religiös werden? Richtig intensiv Buße tun, jeden bestrafen, der nicht mitzieht?
Lenin betrachtet den Ort, an dem sein Denkmal stand. Einer wollte es als efeuumrankte Rutsche umwidmen. Wie heißt das Sprichwort: Mir den Buckel runterrutschen? Wer kümmert sich noch um Sprichworte, seit es Sprechgeräte gibt?
Er trägt Sonnenbrille, italienisches Design, sein Gesicht gebräunt (Kanarische Inseln). Internationalisten waren sie schon immer. In seinem neuen Job denkt er multikulturell, global. Vermögensanlageberater, sehr lukrativ, ein wenig riskant, da er sich auf Krisenregionen spezialisierte. Unglaublich chancenreich, wenn er über ein paar noch vorhandene Connections Krisen beeinflussen kann. Auslösen? Da würde er sanft kopfschüttelnd lächeln. Er sollte sich beim Namen »Lenin« nicht mehr angesprochen fühlen. Ninel, der Name rückwärts, die einfachsten Dinge entschlüsseln die Menschen nie.
Er steht immer noch an dem Ort, an dem sein Denkmal stand und setzt die Brille kurz ab. Einmal verkleidete er sich als Skinhead und versuchte, andere zum Demolieren der großen Plastik anzustacheln. Es kam kein Hass auf. Das ängstigt Ninel damals schon. Wenn die Menschen zu vernünftig und locker würden, gäbe es weder blutige Revolutionen noch ausreichend Krisengebiete, um erfolgreich tätig zu sein.
Soll er eine neue politische Karriere wagen? Ninel bedeckt sich wieder mit seiner Brille und spürt, wie sein Blutdruck steigt. Sehr ungesund. Alles läuft doch, politisch schwankt er zwischen wertkonservativ, Erneuerer bei den Linken und konsequent erfolgsorientiert. Ein Staat starb ab, wie von Marx vorausgesagt, als Garant für die Schulden werden sie noch gebraucht und als Krisenerzeuger.
Ninel lächelt, ihn und seinesgleichen hält keiner auf. Er schaut auf die Uhr, gerade weil er die Zeit ohnehin weiß. Weg vom Platz und auf zum nächsten Termin.