Es ist ein Bild von bizarrer Eleganz und leiser Verzweiflung zugleich: Eine Frau mittleren Alters, einst die mächtigste Ermittlerin gegen Finanzkriminalität in Deutschland, streicht dem Staat den Gehorsam – nicht mit einer Protestnote, sondern mit der Kündigung. Anne Brorhilker, die Chefermittlerin im Kölner Cum-Ex-Komplex, quittiert 2024 ihren Dienst, verzichtet auf Pensionsansprüche, Rang und Einfluss – und beginnt neu. Als Aktivistin. Als Mahnerin. Als Zeugin gegen einen Staat, der gegen seine Feinde nach unten Härte zeigt und nach oben Schwäche.
Es ist eine biografische Geste von Gewicht, die weit über individuelle Motive hinausweist: Brorhilkers Rückzug wird zum Menetekel für einen Rechtsstaat, der mit systematischem Steuerraub konfrontiert ist – und kapituliert. Nicht an der Front, sondern in der Etappe. Nicht durch äußere Gewalt, sondern durch inneres Zögern, strukturelles Wegsehen, politisches Verschleppen.
Was hier zutage tritt, ist keine Affäre im klassischen Sinne. Es ist ein Systemfehler. Die Cum-Ex- und Cum-Cum-Geschäfte waren keine kriminellen Ausreißer – sie sind das Resultat einer Ordnung, die den Finanzmarkt als sakrosankten Raum behandelt, in dem Geld zirkuliert, als wäre es jenseits von Moral, Recht und demokratischer Kontrolle. Vorsichtige Schätzungen gehen bei »Cum-Ex« von mehr als zehn Milliarden Euro Verlust für den Staat aus, durch »Cum-Cum« kommen noch einmal bis zu 28,5 Milliarden hinzu. Eine Zahl, bei der Haushaltsausschüsse blass werden – und Staatsanwälte offenbar nervös.
Dass es überhaupt zu Verurteilungen kam, ist nicht dem entschlossenen Handeln der Behörden zu verdanken, sondern dem hartnäckigen Drängen einzelner – wie Brorhilker. Doch genau das offenbart das Dilemma: Die Justiz hat zwar formell Unabhängigkeit, doch materiell oft nichts außer Überlastung, politischer Gängelung und der Gewissheit, dass bei Geld die Spielräume enger werden. Die Ermittlungen in Köln führten zu 1700 Beschuldigten. Was daraus wurde? Verfahren, Deals, Rückzüge. In einem Fall wurde der Täter zum Gutachter für die nächsten Fälle. Eine Farce im Maßanzug.
Dabei ist das zentrale Problem nicht, dass Recht gebrochen wurde – sondern dass es gestaltet wurde, um das Brechen des Rechts zu ermöglichen. Cum-Ex, das war keine Lausbüberei. Es war eine komplexe juristische Konstruktion, abgesegnet von Gutachtern, flankiert von Anwaltskanzleien, profitabel gemacht durch politische Wegschaukunst und steuertechnischen Eigensinn. Einer der Hauptprofiteure, Hanno Berger, ließ sich von Professor Joachim Englisch ein Gutachten anfertigen, um den Inhalt in juristischen Fachzeitschriften zu publizieren und die Rechtsmeinung in seinem Sinne zu beeinflussen. In gewisser Weise war das legal – aber in moralischem Sinne war es exakt das, was Adorno einst die »Verluderung des Geistes durch die Verhältnisse« nannte.
Der Rechtsstaat, das zeigt dieser Fall, ist in seiner Substanz abhängig von einer politischen Kultur, die ihn trägt – und nicht nur zitiert. Wenn Finanzbehörden wie das Bundeszentralamt für Steuern Listen mit Tatverdächtigen erstellen, aber diese nicht an die Ermittlungsbehörden weiterleiten, ist das kein Betriebsunfall. Es ist ein Akt passiver Komplizenschaft. Wenn Justizminister versuchen, unbequeme Staatsanwältinnen zu entmachten, und erst nach öffentlichem Druck zurückrudern, ist das nicht nur ein politischer Fauxpas. Es ist ein Symptom.
Symptom wofür? Für eine Demokratie, die an die Grenzen ihrer Selbstbeschreibung stößt, sobald Kapitalinteressen ins Spiel kommen. Der Verfassung nach herrscht das Volk. Der Praxis nach herrscht, wer sich Sachverständige leisten kann. Der mediale Diskurs suggeriert Aufklärung, aber hinter den Kulissen regiert ein Schweigen – oder ein diffuses Lächeln der Selbstexkulpation. Dass Brorhilker in diesem Umfeld zur Projektionsfläche wurde – gefeiert, angefeindet, neutralisiert – ist Teil des Spiels: die Heldin, solange sie nicht stört. Die Nestbeschmutzerin, wenn sie Strukturen benennt.
Denn Brorhilker hat das getan, was in der liberalen Demokratie als Zumutung gilt: Sie hat nicht nur Täter ermittelt, sondern das System, das sie schützt, zur Sprache gebracht. Sie hat, im Stil der großen Whistleblower, dem Recht seine politische Blindheit ausgetrieben – durch konkrete Kritik. Ihr Wechsel zur Bürgerbewegung »Finanzwende« ist dabei keine Resignation, sondern eine republikanische Geste. Es ist der Versuch, jenseits institutioneller Hürden Öffentlichkeit herzustellen, wo Behörden versagen. Es ist ein Akt demokratischer Selbsthilfe in einem Terrain, das von Eliten für unzugänglich erklärt wurde.
Hier liegt die tiefere Pointe: Es ist die Zivilgesellschaft – nicht der Staat –, die zum Verteidiger der Normen wird. Petitionen gegen verkürzte Aufbewahrungsfristen, Klagen auf Informationsfreiheit, mediale Kampagnen: Das alles sind Notwehrhandlungen gegen eine Politik, die längst in den Netzwerken jener aufgegangen ist, die sie kontrollieren sollte. Brorhilker, in ihrer neuen Rolle, ist nicht die Antithese zur Staatsanwältin, sondern ihre logische Fortsetzung: Dort, wo Institutionen schweigen, spricht die Öffentlichkeit.
Man mag in der Geschichte zurückblicken und Parallelen finden: In der späten Weimarer Republik florierte die Wirtschaftskriminalität unter dem Deckmantel liberaler Ökonomie. Die großen Prozesse verliefen im Sande, während das Vertrauen in die Republik erodierte. Heute beobachten wir ähnliche Dynamiken – diesmal digitalisiert, globalisiert, fragmentiert. Die Marktlogik hat sich ins Recht eingeschrieben, in Form von »Steuergestaltung«, »Effizienzdenken«, »Verfahrensvereinfachung«. Und mit ihr das Denken, dass Reichtum ein Zeichen von Recht sein müsse.
Foucault hätte vielleicht gesagt: Wir erleben eine neue Form von Gouvernementalität – eine »steuerliche Selbstoptimierung der Eliten«, flankiert von normativem Schweigen. Chomsky würde ergänzen: Die Medien spielen mit – solange ihre Eigentümerstruktur nicht betroffen ist. Nancy Fraser schließlich spricht von einer »abgespaltenen Öffentlichkeit«, in der soziale Fragen entpolitisiert werden, sobald sie in den Raum des Finanzmarkts vordringen. Der Fall Brorhilker steht paradigmatisch für all das: Es ist ein Machtkampf, der nicht mit Waffen, sondern mit Geschäftsordnungen geführt wird.
Der eigentliche Skandal ist dabei nicht nur die Summe der entgangenen Steuern. Der Skandal ist die Normalisierung dieses Verlustes. Wie oft hört man, der Staat müsse sparen, Leistungen kürzen, Sozialausgaben senken – und wie selten wird erwähnt, dass gleichzeitig systematisch Milliarden »gestaltet« werden, um sie dem Gemeinwesen zu entziehen? Die Austerität nach unten korrespondiert mit der Amnestie nach oben.
Und so endet der Fall Brorhilker nicht mit einem Urteil, sondern mit einer Frage: Was ist der Rechtsstaat wert, wenn er nicht dort eingreift, wo er gefordert ist? Und was ist Demokratie, wenn sie ihre Loyalitäten falsch verteilt? Die Antwort darauf kann keine juristische sein – sie ist politisch. Sie liegt in der Bereitschaft, den Begriff »Gerechtigkeit« nicht nur rhetorisch zu retten, sondern strukturell. Das hieße: Macht kontrollieren, Geldflüsse sichtbar machen, Elitenpflichten statt Elitenrechte formulieren.
Vielleicht ist das zu viel verlangt. Vielleicht ist es aber auch genau das, woran sich entscheidet, ob Demokratie mehr ist als ein Etikett. Anne Brorhilker hat sich entschieden. Der Staat hat es (noch) nicht.