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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Brorhilker, der Rechtsstaat und wir

Es ist ein Bild von bizar­rer Ele­ganz und lei­ser Ver­zweif­lung zugleich: Eine Frau mitt­le­ren Alters, einst die mäch­tig­ste Ermitt­le­rin gegen Finanz­kri­mi­na­li­tät in Deutsch­land, streicht dem Staat den Gehor­sam – nicht mit einer Pro­test­no­te, son­dern mit der Kün­di­gung. Anne Bror­hil­ker, die Chef­er­mitt­le­rin im Köl­ner Cum-Ex-Kom­plex, quit­tiert 2024 ihren Dienst, ver­zich­tet auf Pen­si­ons­an­sprü­che, Rang und Ein­fluss – und beginnt neu. Als Akti­vi­stin. Als Mah­ne­rin. Als Zeu­gin gegen einen Staat, der gegen sei­ne Fein­de nach unten Här­te zeigt und nach oben Schwäche.

Es ist eine bio­gra­fi­sche Geste von Gewicht, die weit über indi­vi­du­el­le Moti­ve hin­aus­weist: Bror­hil­kers Rück­zug wird zum Mene­te­kel für einen Rechts­staat, der mit syste­ma­ti­schem Steu­er­raub kon­fron­tiert ist – und kapi­tu­liert. Nicht an der Front, son­dern in der Etap­pe. Nicht durch äuße­re Gewalt, son­dern durch inne­res Zögern, struk­tu­rel­les Weg­se­hen, poli­ti­sches Verschleppen.

Was hier zuta­ge tritt, ist kei­ne Affä­re im klas­si­schen Sin­ne. Es ist ein System­feh­ler. Die Cum-Ex- und Cum-Cum-Geschäf­te waren kei­ne kri­mi­nel­len Aus­rei­ßer – sie sind das Resul­tat einer Ord­nung, die den Finanz­markt als sakro­sank­ten Raum behan­delt, in dem Geld zir­ku­liert, als wäre es jen­seits von Moral, Recht und demo­kra­ti­scher Kon­trol­le. Vor­sich­ti­ge Schät­zun­gen gehen bei »Cum-Ex« von mehr als zehn Mil­li­ar­den Euro Ver­lust für den Staat aus, durch »Cum-Cum« kom­men noch ein­mal bis zu 28,5 Mil­li­ar­den hin­zu. Eine Zahl, bei der Haus­halts­aus­schüs­se blass wer­den – und Staats­an­wäl­te offen­bar nervös.

Dass es über­haupt zu Ver­ur­tei­lun­gen kam, ist nicht dem ent­schlos­se­nen Han­deln der Behör­den zu ver­dan­ken, son­dern dem hart­näcki­gen Drän­gen ein­zel­ner – wie Bror­hil­ker. Doch genau das offen­bart das Dilem­ma: Die Justiz hat zwar for­mell Unab­hän­gig­keit, doch mate­ri­ell oft nichts außer Über­la­stung, poli­ti­scher Gän­ge­lung und der Gewiss­heit, dass bei Geld die Spiel­räu­me enger wer­den. Die Ermitt­lun­gen in Köln führ­ten zu 1700 Beschul­dig­ten. Was dar­aus wur­de? Ver­fah­ren, Deals, Rück­zü­ge. In einem Fall wur­de der Täter zum Gut­ach­ter für die näch­sten Fäl­le. Eine Far­ce im Maßanzug.

Dabei ist das zen­tra­le Pro­blem nicht, dass Recht gebro­chen wur­de – son­dern dass es gestal­tet wur­de, um das Bre­chen des Rechts zu ermög­li­chen. Cum-Ex, das war kei­ne Laus­bü­be­rei. Es war eine kom­ple­xe juri­sti­sche Kon­struk­ti­on, abge­seg­net von Gut­ach­tern, flan­kiert von Anwalts­kanz­lei­en, pro­fi­ta­bel gemacht durch poli­ti­sche Weg­schau­kunst und steu­er­tech­ni­schen Eigen­sinn. Einer der Haupt­pro­fi­teu­re, Han­no Ber­ger, ließ sich von Pro­fes­sor Joa­chim Eng­lisch ein Gut­ach­ten anfer­ti­gen, um den Inhalt in juri­sti­schen Fach­zeit­schrif­ten zu publi­zie­ren und die Rechts­mei­nung in sei­nem Sin­ne zu beein­flus­sen. In gewis­ser Wei­se war das legal – aber in mora­li­schem Sin­ne war es exakt das, was Ador­no einst die »Ver­lu­de­rung des Gei­stes durch die Ver­hält­nis­se« nannte.

Der Rechts­staat, das zeigt die­ser Fall, ist in sei­ner Sub­stanz abhän­gig von einer poli­ti­schen Kul­tur, die ihn trägt – und nicht nur zitiert. Wenn Finanz­be­hör­den wie das Bun­des­zen­tral­amt für Steu­ern Listen mit Tat­ver­däch­ti­gen erstel­len, aber die­se nicht an die Ermitt­lungs­be­hör­den wei­ter­lei­ten, ist das kein Betriebs­un­fall. Es ist ein Akt pas­si­ver Kom­pli­zen­schaft. Wenn Justiz­mi­ni­ster ver­su­chen, unbe­que­me Staats­an­wäl­tin­nen zu ent­mach­ten, und erst nach öffent­li­chem Druck zurück­ru­dern, ist das nicht nur ein poli­ti­scher Faux­pas. Es ist ein Symptom.

Sym­ptom wofür? Für eine Demo­kra­tie, die an die Gren­zen ihrer Selbst­be­schrei­bung stößt, sobald Kapi­tal­in­ter­es­sen ins Spiel kom­men. Der Ver­fas­sung nach herrscht das Volk. Der Pra­xis nach herrscht, wer sich Sach­ver­stän­di­ge lei­sten kann. Der media­le Dis­kurs sug­ge­riert Auf­klä­rung, aber hin­ter den Kulis­sen regiert ein Schwei­gen – oder ein dif­fu­ses Lächeln der Selbst­exkul­pa­ti­on. Dass Bror­hil­ker in die­sem Umfeld zur Pro­jek­ti­ons­flä­che wur­de – gefei­ert, ange­fein­det, neu­tra­li­siert – ist Teil des Spiels: die Hel­din, solan­ge sie nicht stört. Die Nest­be­schmut­ze­rin, wenn sie Struk­tu­ren benennt.

Denn Bror­hil­ker hat das getan, was in der libe­ra­len Demo­kra­tie als Zumu­tung gilt: Sie hat nicht nur Täter ermit­telt, son­dern das System, das sie schützt, zur Spra­che gebracht. Sie hat, im Stil der gro­ßen Whist­le­b­lower, dem Recht sei­ne poli­ti­sche Blind­heit aus­ge­trie­ben – durch kon­kre­te Kri­tik. Ihr Wech­sel zur Bür­ger­be­we­gung »Finanz­wen­de« ist dabei kei­ne Resi­gna­ti­on, son­dern eine repu­bli­ka­ni­sche Geste. Es ist der Ver­such, jen­seits insti­tu­tio­nel­ler Hür­den Öffent­lich­keit her­zu­stel­len, wo Behör­den ver­sa­gen. Es ist ein Akt demo­kra­ti­scher Selbst­hil­fe in einem Ter­rain, das von Eli­ten für unzu­gäng­lich erklärt wurde.

Hier liegt die tie­fe­re Poin­te: Es ist die Zivil­ge­sell­schaft – nicht der Staat –, die zum Ver­tei­di­ger der Nor­men wird. Peti­tio­nen gegen ver­kürz­te Auf­be­wah­rungs­fri­sten, Kla­gen auf Infor­ma­ti­ons­frei­heit, media­le Kam­pa­gnen: Das alles sind Not­wehr­hand­lun­gen gegen eine Poli­tik, die längst in den Netz­wer­ken jener auf­ge­gan­gen ist, die sie kon­trol­lie­ren soll­te. Bror­hil­ker, in ihrer neu­en Rol­le, ist nicht die Anti­the­se zur Staats­an­wäl­tin, son­dern ihre logi­sche Fort­set­zung: Dort, wo Insti­tu­tio­nen schwei­gen, spricht die Öffentlichkeit.

Man mag in der Geschich­te zurück­blicken und Par­al­le­len fin­den: In der spä­ten Wei­ma­rer Repu­blik flo­rier­te die Wirt­schafts­kri­mi­na­li­tät unter dem Deck­man­tel libe­ra­ler Öko­no­mie. Die gro­ßen Pro­zes­se ver­lie­fen im San­de, wäh­rend das Ver­trau­en in die Repu­blik ero­dier­te. Heu­te beob­ach­ten wir ähn­li­che Dyna­mi­ken – dies­mal digi­ta­li­siert, glo­ba­li­siert, frag­men­tiert. Die Markt­lo­gik hat sich ins Recht ein­ge­schrie­ben, in Form von »Steu­er­ge­stal­tung«, »Effi­zi­enz­den­ken«, »Ver­fah­rens­ver­ein­fa­chung«. Und mit ihr das Den­ken, dass Reich­tum ein Zei­chen von Recht sein müsse.

Fou­cault hät­te viel­leicht gesagt: Wir erle­ben eine neue Form von Gou­ver­ne­men­ta­li­tät – eine »steu­er­li­che Selbst­op­ti­mie­rung der Eli­ten«, flan­kiert von nor­ma­ti­vem Schwei­gen. Chom­sky wür­de ergän­zen: Die Medi­en spie­len mit – solan­ge ihre Eigen­tü­mer­struk­tur nicht betrof­fen ist. Nan­cy Fra­ser schließ­lich spricht von einer »abge­spal­te­nen Öffent­lich­keit«, in der sozia­le Fra­gen ent­po­li­ti­siert wer­den, sobald sie in den Raum des Finanz­markts vor­drin­gen. Der Fall Bror­hil­ker steht para­dig­ma­tisch für all das: Es ist ein Macht­kampf, der nicht mit Waf­fen, son­dern mit Geschäfts­ord­nun­gen geführt wird.

Der eigent­li­che Skan­dal ist dabei nicht nur die Sum­me der ent­gan­ge­nen Steu­ern. Der Skan­dal ist die Nor­ma­li­sie­rung die­ses Ver­lu­stes. Wie oft hört man, der Staat müs­se spa­ren, Lei­stun­gen kür­zen, Sozi­al­aus­ga­ben sen­ken – und wie sel­ten wird erwähnt, dass gleich­zei­tig syste­ma­tisch Mil­li­ar­den »gestal­tet« wer­den, um sie dem Gemein­we­sen zu ent­zie­hen? Die Austeri­tät nach unten kor­re­spon­diert mit der Amne­stie nach oben.

Und so endet der Fall Bror­hil­ker nicht mit einem Urteil, son­dern mit einer Fra­ge: Was ist der Rechts­staat wert, wenn er nicht dort ein­greift, wo er gefor­dert ist? Und was ist Demo­kra­tie, wenn sie ihre Loya­li­tä­ten falsch ver­teilt? Die Ant­wort dar­auf kann kei­ne juri­sti­sche sein – sie ist poli­tisch. Sie liegt in der Bereit­schaft, den Begriff »Gerech­tig­keit« nicht nur rhe­to­risch zu ret­ten, son­dern struk­tu­rell. Das hie­ße: Macht kon­trol­lie­ren, Geld­flüs­se sicht­bar machen, Eli­ten­pflich­ten statt Eli­ten­rech­te formulieren.

Viel­leicht ist das zu viel ver­langt. Viel­leicht ist es aber auch genau das, wor­an sich ent­schei­det, ob Demo­kra­tie mehr ist als ein Eti­kett. Anne Bror­hil­ker hat sich ent­schie­den. Der Staat hat es (noch) nicht.