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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Cassinga

Solan­ge ich den­ken kann, »lei­de« ich an chao­ti­schen Träu­men, die mich pha­sen­wei­se, mal oft, mal weni­ger häu­fig, im Schlaf ver­fol­gen. Mag sein, dass in letz­ter Zeit die grau­si­gen Kriegs­bil­der, die uns mit den Nach­rich­ten ins Haus gelie­fert wer­den, ein Aus­lö­ser für einen Traum in letz­ter Nacht war, der dies­mal nicht so chao­tisch wie mei­ne Träu­me sonst »ver­lief«. Er erin­ner­te mich leb­haft und genau an ein schreck­li­ches Ereig­nis aus mei­nem Leben, das ich ohne­hin nie ver­ges­sen wer­de. Es waren drei Tage und Näch­te im Mai 1978, in denen ich das Schlimm­ste in mei­nem lan­gen Berufs­le­ben durch­zu­ste­hen hat­te. Das dabei Erleb­te hat mich nach­hal­tig geprägt und ist mir jah­re­lang nicht aus dem Kopf gegan­gen. Der Ort des Gesche­hens war Luan­da, die Haupt­stadt von Ango­la. Das städ­ti­sche Kran­ken­haus »Maria Pia« war mei­ne Haupt­ar­beits­stät­te in den Jah­ren von 1977 bis 1979.

In Süd­afri­ka und Nami­bia herrsch­te noch das Apart­heid-Regime. Por­tu­gal hat­te 1975 alle sei­ne »über­see­ischen Pro­vin­zen«, sprich: Kolo­nien, nach jahr­zehn­te­lan­gen Gue­ril­la­krie­gen in die Unab­hän­gig­keit ent­las­sen. Im anschlie­ßen­den Kampf um die Macht brach sofort ein Bür­ger­krieg aus, der das an Boden­schät­zen rei­che Ango­la in bit­ter­ste Armut stürz­te; er soll­te 27 lan­ge Jah­re dau­ern. Die USA an der Sei­te von Süd­afri­ka und die Sowjet­uni­on auf Sei­ten der ango­la­ni­schen Regie­rung führ­ten einen Stell­ver­tre­ter­krieg, den das kuba­ni­sche Mili­tär im sowje­ti­schen Auf­trag auf der einen Sei­te und ver­schie­de­ne Gue­ril­la­grup­pen, aus­ge­rü­stet und finan­ziert von Süd­afri­ka und den USA auf der ande­ren auf das grau­sam­ste aus­foch­ten. Zu die­ser Zeit kämpf­te im Nach­bar­land Nami­bia die SWAPO gegen das auch dort herr­schen­de Apart­heid­re­gime aus Süd­afri­ka um die Unabhängigkeit.

In Ango­la, das die SWAPO mit sei­nen begrenz­ten Mög­lich­kei­ten unter­stütz­te, gab es meh­re­re Flücht­lings­la­ger, in denen die SWAPO-Kämp­fer vor Ver­fol­gung rela­tiv sicher waren. Wie »rela­tiv«, das war, erfuh­ren wir in Luan­da am Abend des 4. Mai 1978. Die süd­afri­ka­ni­sche Armee hat­te am frü­hen Mor­gen das Lager bei Cas­sin­ga aus der Luft und mit Fall­schirm­jä­gern ange­grif­fen und ein Mas­sa­ker unvor­stell­ba­ren Aus­ma­ßes ange­rich­tet. Das kuba­ni­sche Mili­tär, das als Schutz­macht gegen die mili­tä­ri­sche Über­macht aus Süd­afri­ka in Ango­la sehr prä­sent war, berich­te­te von über 600 Toten und einer Unzahl von Ver­letz­ten, die dort ganz im Süden des Lan­des kei­ne medi­zi­ni­sche Hil­fe erwar­ten konn­ten. Die zwei Kran­ken­häu­ser, die für die Ver­sor­gung die­ser Men­ge an Ter­ror­op­fern in Fra­ge kamen, gab es nur in der Haupt­stadt, ca. 1000 Km ent­fernt. Kuba­ni­sche Mili­tär­ma­schi­nen brach­ten die Ver­letz­ten, die den Trans­port vor­aus­sicht­lich über­le­ben konn­ten, also nach Luanda.

Ein sol­cher Mas­sen­an­fall von zum Teil schwer Ver­letz­ten wäre auch für ein nor­mal funk­tio­nie­ren­des Kran­ken­haus­we­sen eine kaum zu lösen­de Auf­ga­be gewe­sen. Doch das Gesund­heits­we­sen in Ango­la war zu die­sem Zeit­punkt, wie das gesam­te Land, mit weit­ge­hend zer­stör­ter Infra­struk­tur nicht nor­mal funk­tio­nie­rend, son­dern nach Jahr­zehn­ten Gue­ril­la­krieg und mut­wil­li­ger Zer­stö­rung der abzie­hen­den Kolo­ni­al­macht in deso­la­tem Zustand. Die weni­gen im Land ver­blie­be­nen ango­la­ni­schen Ärz­te wur­den vor allem durch jun­ge Kuba­ner sowie einer Hand voll Ost­eu­ro­pä­ern, vor allem aus der Sowjet­uni­on, und von mir, als der ein­zi­ge Anäs­the­sist im gan­zen Kran­ken­haus, unter­stützt. Ich erin­ne­re mich deut­lich an die ange­spann­te Situa­ti­on, bevor der erste Trans­port ein­traf. Avi­siert war schon Stun­den vor­her »eine sehr gro­ße Zahl« von Ver­letz­ten. Die Vor­be­rei­tun­gen ver­lie­fen tur­bu­lent und beglei­tet von der Sor­ge, ob wir der Sache gewach­sen waren. Denn schon unter Nor­mal­be­din­gun­gen muss­te oft genug impro­vi­siert werden.

Die Ver­wun­dun­gen, die zu ver­sor­gen waren, ver­lang­ten in der Mehr­zahl kei­ne medi­zi­nisch spe­zia­li­sier­ten Kennt­nis­se. Brust- oder Bauch­ver­letz­te hät­ten den Trans­port ohne­hin nicht über­le­ben kön­nen. Das Pro­blem war die unge­heu­re Zahl der Opfer und ihr bedroh­li­cher All­ge­mein­zu­stand. Die lan­ge Dau­er bis zur Behand­lung nach der erlit­te­nen Ver­let­zung, die ver­schmutz­ten und schon infi­zier­ten Wun­den unter tro­pi­schen Bedin­gun­gen, die Schmer­zen und der bela­sten­de Trans­port erschwer­ten das Schick­sal der Betroffenen.

Wir arbei­te­ten tat­säch­lich und nahe­zu pau­sen­los drei Tage und Näch­te durch, »gedopt« mit sehr star­kem, hef­tig gesüß­tem Kaf­fee, den die lei­ten­de OP-Schwe­ster, Don­na V., immer bereithielt.

Wir wur­den getrie­ben von der unend­li­chen Zahl Ver­letz­ter, die stän­dig last­wa­gen­wei­se »nach­ge­lie­fert« wur­den und in zwei lan­gen Rei­hen auf dem lan­gen Gang vom Haupt­ein­gang des Hos­pi­tals bis zum OP-Trakt lagen oder an die Wand gelehnt hock­ten. Stöh­nend, wei­nend oder still auf ihre Behand­lung wartend.

Don­na V., die ich soeben erwähn­te, ist Ursa­che dafür, dass ich mich heu­te spon­tan an den PC setz­te und mei­ne Erin­ne­run­gen ohne irgend­wel­che Vor­be­rei­tun­gen hin­schrei­be. Denn sie ist mir sehr deut­lich heu­te Nacht im Traum »erschie­nen«, umge­ben vom hek­ti­schen Gewu­sel im OP-Trakt des »Maria Pia«. Kaum glaub­haft nach so lan­ger Zeit, und doch war es so! Eben­so kann man mir glau­ben, dass man drei Tage und Näch­te ange­spannt durch­ar­bei­ten kann, getrie­ben von der schwer erträg­li­chen Situa­ti­on. Vor­aus­ge­setzt man ist jung und gesund. Das ist jetzt 47 Jah­re her …

Um einem Ver­dacht vor­zu­beu­gen: Don­na V. war kei­ne knacki­ge jun­ge Frau. Sie war eine Respekts­per­son von statt­li­cher Figur im geschätz­ten Alter von 55 Jah­ren, die nicht ohne Grund mit Don­na ange­spro­chen wur­de. Im schon vie­le Jah­re dau­ern­den Gue­ril­la­krieg hat­te sie, wie ihr gan­zes Volk, schon furcht­ba­res Leid erfah­ren und gese­hen. Doch sie war kei­nes­wegs resi­gniert, son­dern erfüll­te ihren Job mit eini­gem Stolz, selbst­ver­ständ­lich und reso­lut. Ob sie den damals noch über zwan­zig Jah­re dau­ern­den Bür­ger­krieg wohl über­lebt hat? Und all ihre Kol­le­gen vom »Maria Pia«, die ich noch in leb­haf­ter Erin­ne­rung habe?

Unse­re klei­ne medi­zi­ni­sche Equi­pe aus der DDR hat­te die Füh­rung des »Zen­trums für Phy­sio­the­ra­pie und Reha­bi­li­ta­ti­on« in Luan­da zur Haupt­auf­ga­be. Dort wur­den zahl­rei­che Kriegs­op­fer mit Ampu­ta­ti­ons­ver­let­zun­gen, vor allem durch Minen ver­ur­sacht, behan­delt und mit Pro­the­sen ver­sorgt. Es waren sehr vie­le, auch klei­ne Kin­der darunter.

Da wir nur ein­mal pro Woche ein OP-Pro­gramm im »Maria Pia« für das »Zen­trum« hat­ten, war ich an den ande­ren Tagen vor­ran­gig als Anäs­the­sist für das Kran­ken­haus zustän­dig. Dazu gehör­te auch der nächt­li­che Bereit­schafts­dienst, und der hat­te es in sich!

Die Behand­lung von Schuss-, Stich- oder Brand­ver­letz­ten gehör­ten in den zwei Jah­ren mei­ner Zeit in Ango­la zu den Rou­ti­ne­tä­tig­kei­ten neben der »nor­ma­len« Medi­zin. Doch immer wie­der bekam ich vor Augen geführt, was für ein erbärm­li­ches, drecki­ges und men­schen­ver­ach­ten­des Geschäft sich mit dem Wort »Krieg« ver­bin­det. Zu die­ser Erkennt­nis hät­te es für mich zwar nicht der Kata­stro­phe von Cas­sin­ga bedurft. Doch die­se setz­te noch ein dickes Aus­ru­fe­zei­chen dahinter.

Als uns die Nach­richt von dem völ­ker­rechts­wid­ri­gen Über­fall der Süd­afri­ka­ner auf das Flücht­lings­la­ger bei Cas­sin­ga in Luan­da erreich­te, ahn­ten wir schon Schreck­li­ches. Die Kor­re­spon­den­tin Hei­ke S. doku­men­tier­te mit ihren erschüt­tern­den Foto­gra­fien vor aller Welt die Fol­gen die­ses Ver­bre­chens in schreck­li­cher Deut­lich­keit. Buch­stäb­lich Ber­ge von Toten begrub die kuba­ni­sche Armee mit Hil­fe von Bull­do­zern. Ihr per­sön­li­cher Bericht – wir waren mit­ein­an­der bekannt – ist uns unver­ges­sen. Die Kin­der unter den Über­le­ben­den umring­ten sie bei ihrem Kurz­auf­ent­halt in dem zer­stör­ten Lager und freu­ten sich über die mit­ge­brach­ten Süßigkeiten.

Ein etwa vier­jäh­ri­ger Jun­ge unter die­sen Kin­dern wur­de, obwohl er kei­ne Ver­let­zun­gen auf­wies, wohl aus Ver­se­hen mit auf den Trans­port nach Luan­da gebracht und lag unter den war­ten­den Pati­en­ten. Als wir ihn ent­deck­ten, leg­ten wir ihn kur­zer­hand mit in die Säle, wo unse­re schon Ope­rier­ten rei­hen­wei­se auf dem Boden lagen. Am Tag dar­auf kam Hei­ke S. ins »Maria Pia« um, mit unse­rer Erlaub­nis und Hil­fe, Inter­views mit den Ver­letz­ten zu füh­ren. Hef­tig über­rascht wur­de sie dabei, als die­ser Jun­ge ihr plötz­lich ent­ge­gen­lief und sie stür­misch umarm­te. Sei­ne her­vor­spru­deln­den Wor­te über­setz­te einer der nami­bi­schen Pati­en­ten: Er hat­te sie erkannt als die Bon­bon-ver­tei­len­de, lie­be Frau aus Cas­sin­ga! Es ver­steht sich, dass die­se Begeg­nung Fol­gen hat­te! Hei­ke S. zog rasch Erkun­di­gun­gen über ihn ein, die sie von Pati­en­ten bekam, die die Spra­che der Quan­ja­ma ver­stan­den und auch etwas von sei­nem Schick­sal wuss­ten. Er hat­te das Mas­sa­ker unter dem Kör­per sei­ner getö­te­ten Mut­ter und sei­ner eben­falls ermor­de­ten Geschwi­ster über­lebt. Sein Vater war als SWAPO-Kämp­fer schon frü­her umge­kom­men. Hei­ke S. und ihr Mann, eben­falls Kor­re­spon­dent, setz­ten nun alles in Bewe­gung, um den Jun­gen auf­neh­men zu dür­fen und sich um sein Wohl­erge­hen zu küm­mern. Nach lan­gen Ver­hand­lun­gen sowohl mit der SWAPO-Ver­tre­tung in Luan­da als auch mit der Bot­schaft der DDR gelang das schließ­lich. Sam Nujo­ma, der SWAPO-Chef per­sön­lich, war mit einer Art Paten­schaft durch die Fami­lie S. einverstanden.

Bei sei­ner Inte­gra­ti­on ins deut­sche Umfeld in Luan­da fiel auch unse­rer Fami­lie eine Rol­le zu. Mei­ne Frau als Kin­der­ärz­tin küm­mer­te sich nicht nur medi­zi­nisch um Eparf­ras M., so sein Name, son­dern auch unse­re bei­den Kin­der im Vor­schul­al­ter, die mit ihm in den Kin­der­gar­ten unse­rer Bot­schaft gin­gen. In erstaun­li­chem Tem­po war für ihn der All­tag im Kin­der­gar­ten und in sei­ner neu­en Fami­lie selbst­ver­ständ­lich. Nach kur­zer Zeit sprach Epi, wie wir ihn noch heu­te nen­nen, nicht schlech­ter Deutsch als sei­ne Altersgenossen.

Da Fami­lie S., als Kor­re­spon­den­ten, mehr­fach Dienst­rei­sen in ande­re Län­der im süd­li­chen Afri­ka unter­nahm, hat­ten wir wie­der­holt und für meh­re­re Wochen dann drei Kin­der. Dass sich dar­aus eine enge und treue Freund­schaft ergab, ist wohl zu ver­ste­hen. Sie hält bis heu­te an.

Seit der Unab­hän­gig­keit 1990 wird der 4. Mai in Nami­bia als Cas­sin­ga-Gedenk­tag begangen.