Solange ich denken kann, »leide« ich an chaotischen Träumen, die mich phasenweise, mal oft, mal weniger häufig, im Schlaf verfolgen. Mag sein, dass in letzter Zeit die grausigen Kriegsbilder, die uns mit den Nachrichten ins Haus geliefert werden, ein Auslöser für einen Traum in letzter Nacht war, der diesmal nicht so chaotisch wie meine Träume sonst »verlief«. Er erinnerte mich lebhaft und genau an ein schreckliches Ereignis aus meinem Leben, das ich ohnehin nie vergessen werde. Es waren drei Tage und Nächte im Mai 1978, in denen ich das Schlimmste in meinem langen Berufsleben durchzustehen hatte. Das dabei Erlebte hat mich nachhaltig geprägt und ist mir jahrelang nicht aus dem Kopf gegangen. Der Ort des Geschehens war Luanda, die Hauptstadt von Angola. Das städtische Krankenhaus »Maria Pia« war meine Hauptarbeitsstätte in den Jahren von 1977 bis 1979.
In Südafrika und Namibia herrschte noch das Apartheid-Regime. Portugal hatte 1975 alle seine »überseeischen Provinzen«, sprich: Kolonien, nach jahrzehntelangen Guerillakriegen in die Unabhängigkeit entlassen. Im anschließenden Kampf um die Macht brach sofort ein Bürgerkrieg aus, der das an Bodenschätzen reiche Angola in bitterste Armut stürzte; er sollte 27 lange Jahre dauern. Die USA an der Seite von Südafrika und die Sowjetunion auf Seiten der angolanischen Regierung führten einen Stellvertreterkrieg, den das kubanische Militär im sowjetischen Auftrag auf der einen Seite und verschiedene Guerillagruppen, ausgerüstet und finanziert von Südafrika und den USA auf der anderen auf das grausamste ausfochten. Zu dieser Zeit kämpfte im Nachbarland Namibia die SWAPO gegen das auch dort herrschende Apartheidregime aus Südafrika um die Unabhängigkeit.
In Angola, das die SWAPO mit seinen begrenzten Möglichkeiten unterstützte, gab es mehrere Flüchtlingslager, in denen die SWAPO-Kämpfer vor Verfolgung relativ sicher waren. Wie »relativ«, das war, erfuhren wir in Luanda am Abend des 4. Mai 1978. Die südafrikanische Armee hatte am frühen Morgen das Lager bei Cassinga aus der Luft und mit Fallschirmjägern angegriffen und ein Massaker unvorstellbaren Ausmaßes angerichtet. Das kubanische Militär, das als Schutzmacht gegen die militärische Übermacht aus Südafrika in Angola sehr präsent war, berichtete von über 600 Toten und einer Unzahl von Verletzten, die dort ganz im Süden des Landes keine medizinische Hilfe erwarten konnten. Die zwei Krankenhäuser, die für die Versorgung dieser Menge an Terroropfern in Frage kamen, gab es nur in der Hauptstadt, ca. 1000 Km entfernt. Kubanische Militärmaschinen brachten die Verletzten, die den Transport voraussichtlich überleben konnten, also nach Luanda.
Ein solcher Massenanfall von zum Teil schwer Verletzten wäre auch für ein normal funktionierendes Krankenhauswesen eine kaum zu lösende Aufgabe gewesen. Doch das Gesundheitswesen in Angola war zu diesem Zeitpunkt, wie das gesamte Land, mit weitgehend zerstörter Infrastruktur nicht normal funktionierend, sondern nach Jahrzehnten Guerillakrieg und mutwilliger Zerstörung der abziehenden Kolonialmacht in desolatem Zustand. Die wenigen im Land verbliebenen angolanischen Ärzte wurden vor allem durch junge Kubaner sowie einer Hand voll Osteuropäern, vor allem aus der Sowjetunion, und von mir, als der einzige Anästhesist im ganzen Krankenhaus, unterstützt. Ich erinnere mich deutlich an die angespannte Situation, bevor der erste Transport eintraf. Avisiert war schon Stunden vorher »eine sehr große Zahl« von Verletzten. Die Vorbereitungen verliefen turbulent und begleitet von der Sorge, ob wir der Sache gewachsen waren. Denn schon unter Normalbedingungen musste oft genug improvisiert werden.
Die Verwundungen, die zu versorgen waren, verlangten in der Mehrzahl keine medizinisch spezialisierten Kenntnisse. Brust- oder Bauchverletzte hätten den Transport ohnehin nicht überleben können. Das Problem war die ungeheure Zahl der Opfer und ihr bedrohlicher Allgemeinzustand. Die lange Dauer bis zur Behandlung nach der erlittenen Verletzung, die verschmutzten und schon infizierten Wunden unter tropischen Bedingungen, die Schmerzen und der belastende Transport erschwerten das Schicksal der Betroffenen.
Wir arbeiteten tatsächlich und nahezu pausenlos drei Tage und Nächte durch, »gedopt« mit sehr starkem, heftig gesüßtem Kaffee, den die leitende OP-Schwester, Donna V., immer bereithielt.
Wir wurden getrieben von der unendlichen Zahl Verletzter, die ständig lastwagenweise »nachgeliefert« wurden und in zwei langen Reihen auf dem langen Gang vom Haupteingang des Hospitals bis zum OP-Trakt lagen oder an die Wand gelehnt hockten. Stöhnend, weinend oder still auf ihre Behandlung wartend.
Donna V., die ich soeben erwähnte, ist Ursache dafür, dass ich mich heute spontan an den PC setzte und meine Erinnerungen ohne irgendwelche Vorbereitungen hinschreibe. Denn sie ist mir sehr deutlich heute Nacht im Traum »erschienen«, umgeben vom hektischen Gewusel im OP-Trakt des »Maria Pia«. Kaum glaubhaft nach so langer Zeit, und doch war es so! Ebenso kann man mir glauben, dass man drei Tage und Nächte angespannt durcharbeiten kann, getrieben von der schwer erträglichen Situation. Vorausgesetzt man ist jung und gesund. Das ist jetzt 47 Jahre her …
Um einem Verdacht vorzubeugen: Donna V. war keine knackige junge Frau. Sie war eine Respektsperson von stattlicher Figur im geschätzten Alter von 55 Jahren, die nicht ohne Grund mit Donna angesprochen wurde. Im schon viele Jahre dauernden Guerillakrieg hatte sie, wie ihr ganzes Volk, schon furchtbares Leid erfahren und gesehen. Doch sie war keineswegs resigniert, sondern erfüllte ihren Job mit einigem Stolz, selbstverständlich und resolut. Ob sie den damals noch über zwanzig Jahre dauernden Bürgerkrieg wohl überlebt hat? Und all ihre Kollegen vom »Maria Pia«, die ich noch in lebhafter Erinnerung habe?
Unsere kleine medizinische Equipe aus der DDR hatte die Führung des »Zentrums für Physiotherapie und Rehabilitation« in Luanda zur Hauptaufgabe. Dort wurden zahlreiche Kriegsopfer mit Amputationsverletzungen, vor allem durch Minen verursacht, behandelt und mit Prothesen versorgt. Es waren sehr viele, auch kleine Kinder darunter.
Da wir nur einmal pro Woche ein OP-Programm im »Maria Pia« für das »Zentrum« hatten, war ich an den anderen Tagen vorrangig als Anästhesist für das Krankenhaus zuständig. Dazu gehörte auch der nächtliche Bereitschaftsdienst, und der hatte es in sich!
Die Behandlung von Schuss-, Stich- oder Brandverletzten gehörten in den zwei Jahren meiner Zeit in Angola zu den Routinetätigkeiten neben der »normalen« Medizin. Doch immer wieder bekam ich vor Augen geführt, was für ein erbärmliches, dreckiges und menschenverachtendes Geschäft sich mit dem Wort »Krieg« verbindet. Zu dieser Erkenntnis hätte es für mich zwar nicht der Katastrophe von Cassinga bedurft. Doch diese setzte noch ein dickes Ausrufezeichen dahinter.
Als uns die Nachricht von dem völkerrechtswidrigen Überfall der Südafrikaner auf das Flüchtlingslager bei Cassinga in Luanda erreichte, ahnten wir schon Schreckliches. Die Korrespondentin Heike S. dokumentierte mit ihren erschütternden Fotografien vor aller Welt die Folgen dieses Verbrechens in schrecklicher Deutlichkeit. Buchstäblich Berge von Toten begrub die kubanische Armee mit Hilfe von Bulldozern. Ihr persönlicher Bericht – wir waren miteinander bekannt – ist uns unvergessen. Die Kinder unter den Überlebenden umringten sie bei ihrem Kurzaufenthalt in dem zerstörten Lager und freuten sich über die mitgebrachten Süßigkeiten.
Ein etwa vierjähriger Junge unter diesen Kindern wurde, obwohl er keine Verletzungen aufwies, wohl aus Versehen mit auf den Transport nach Luanda gebracht und lag unter den wartenden Patienten. Als wir ihn entdeckten, legten wir ihn kurzerhand mit in die Säle, wo unsere schon Operierten reihenweise auf dem Boden lagen. Am Tag darauf kam Heike S. ins »Maria Pia« um, mit unserer Erlaubnis und Hilfe, Interviews mit den Verletzten zu führen. Heftig überrascht wurde sie dabei, als dieser Junge ihr plötzlich entgegenlief und sie stürmisch umarmte. Seine hervorsprudelnden Worte übersetzte einer der namibischen Patienten: Er hatte sie erkannt als die Bonbon-verteilende, liebe Frau aus Cassinga! Es versteht sich, dass diese Begegnung Folgen hatte! Heike S. zog rasch Erkundigungen über ihn ein, die sie von Patienten bekam, die die Sprache der Quanjama verstanden und auch etwas von seinem Schicksal wussten. Er hatte das Massaker unter dem Körper seiner getöteten Mutter und seiner ebenfalls ermordeten Geschwister überlebt. Sein Vater war als SWAPO-Kämpfer schon früher umgekommen. Heike S. und ihr Mann, ebenfalls Korrespondent, setzten nun alles in Bewegung, um den Jungen aufnehmen zu dürfen und sich um sein Wohlergehen zu kümmern. Nach langen Verhandlungen sowohl mit der SWAPO-Vertretung in Luanda als auch mit der Botschaft der DDR gelang das schließlich. Sam Nujoma, der SWAPO-Chef persönlich, war mit einer Art Patenschaft durch die Familie S. einverstanden.
Bei seiner Integration ins deutsche Umfeld in Luanda fiel auch unserer Familie eine Rolle zu. Meine Frau als Kinderärztin kümmerte sich nicht nur medizinisch um Eparfras M., so sein Name, sondern auch unsere beiden Kinder im Vorschulalter, die mit ihm in den Kindergarten unserer Botschaft gingen. In erstaunlichem Tempo war für ihn der Alltag im Kindergarten und in seiner neuen Familie selbstverständlich. Nach kurzer Zeit sprach Epi, wie wir ihn noch heute nennen, nicht schlechter Deutsch als seine Altersgenossen.
Da Familie S., als Korrespondenten, mehrfach Dienstreisen in andere Länder im südlichen Afrika unternahm, hatten wir wiederholt und für mehrere Wochen dann drei Kinder. Dass sich daraus eine enge und treue Freundschaft ergab, ist wohl zu verstehen. Sie hält bis heute an.
Seit der Unabhängigkeit 1990 wird der 4. Mai in Namibia als Cassinga-Gedenktag begangen.