Das Oderbruch: Landschaft im äußersten Osten. Eichenalleen, kleine Straßendörfer mit Feldsteinkirchen, flaches Land, auf den Feldern hin und wieder ein Kranichpaar. Misstrauen Sie dem flachen Land, denn unsere Vorfahren und ihre Geschichte sind besonders gnadenlos darüber hinweggegangen. Noch heute kann man hier keinen Graben ziehen, ohne dass eine verrostete Waffe, ein Stahlhelm, ein Skelett erscheint. Dabei hatte schon Reichsgründer Otto von Bismarck vor Händeln mit den Völkern im Osten gewarnt. Inzwischen, fast ist es schon wieder verziehen und vergessen, hat eine unbedarfte Außenministerin den nach ihm benannten Raum im Auswärtigen Amt umbenannt. Seine Standbilder werden geschmäht, geschändet, mit Farbe besprüht und gehören nunmehr zu jenen, denen sogenannte Aktivisten eines Tages ungestraft den Kopf abhacken werden.
Flaches Land, Schlachtfeld. Entsprechend zahlreich sind die Denkmäler in den Dörfern. Zum Teil haben die Menschen sie freilich nach 1989 erst wieder ans Licht bringen müssen. So wie in Friedersdorf (Vierlinden), wo Bauern den von einem Helm gekrönten Sandsteinblock mit der Aufschrift »Unseren Gefallenen« fast ein halbes Jahrhundert zuvor vergraben hatten. Eiferer wollten damals das Mahnmal sprengen, schon um den Namen der Gutsherren – von der Marwitz, auch ihre Söhne waren unter den Gefallenen – und anderer aus dem Gedächtnis der Menschen zu tilgen. Heute, da man sich meist mit der Umbenennung von Straßen und Apotheken zufriedengibt und die Begegnung mit Einwohnern scheut, steht der Stein unbehelligt auf kirchlichem Grund: Gleich neben einem anderen, der den Toten der Roten Armee ewigen Ruhm und Ehre verspricht. Der Sandstein hat den unterirdischen Aufenthalt nicht ohne Schaden überstanden, doch ein Steinmetz fügte unkenntlich gewordene Namen wieder hinzu. Übrigens findet sich in der Kirche dahinter der Grabstein eines Generals von der Marwitz, dem Friedrich II. einst den Befehl erteilte, ein sächsisches Schloss zu plündern. Von der Marwitz weigerte sich – dergleichen sei eines preußischen Offiziers unwürdig – und ließ sich entlassen. »Wählte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte«, steht deshalb auf seinem Grabstein. Die Worte gelten als heimliche Losung jener meist adligen Offiziere, die Hitler durch ein Attentat beseitigen wollten. Mit dem Bild, das zahlreiche historische Betrachtungen vom »preußischen Junker« zeichnen, ist dergleichen jedenfalls nicht vereinbar.
Flaches Land? Weil es trockengelegtes Auenland ist. In Letschin, nicht weit von Friedersdorf, haben sie nach der Wende einen mehr als lebensgroßen Friedrich II. aus Bronze wieder aufgestellt, der seit den fünfziger Jahren hinter Gurkenfässern und Stroh versteckt war, weil Unversöhnliche ihn verschrotten wollten. Gewöhnlich waren das eilfertige Wegbereiter eines Wandels, der ihnen Vorteile bringen sollte. Die sowjetischen Befehlshaber hingegen respektierten Denkmäler zumeist, sofern sie nicht mit dem Nationalsozialismus verbunden waren. »Alter Mann mit Stock kann bleiben«, soll ein Kommandant im Hinblick auf ein Standbild Friedrichs des Großen gesagt haben. Dessen Ebenbild im nahen Neutrebbin ist 1952 dennoch eingeschmolzen worden und wurde erst 1994 durch den Bildhauer Roland Rother wiederhergestellt.
»Das dankbare Oderbruch«, steht auf einer bronzenen Kranzschleife am Letschiner Denkmal. Darunter liegen Blumen und ein Dutzend Kartoffeln. Ein schöner Brauch, der zum Unmut der Gärtner täglich auf der Grabplatte des Königs im Park von Sanssouci wiederholt wird. Nun, die Menschen wissen, dass es nicht der König war, der in Brandenburg die ersten Kartoffeln legte, der Entwässerungsgräben durch die Sümpfe im Oderbruch zog und Kanäle und Schöpfwerke baute. Sie wissen, dass die Ernten dort von Siedlern aus Hessen, Mecklenburg, Württemberg, Sachsen, aus Niederösterreich, der Schweiz, der Pfalz, dem französischsprachigen Neuenburg und aus der Neumark eingebracht wurden: Willkommenskultur mit Arbeitspflicht. Aber wie immer, sofern man ihn verehrt, fällt der Ruhm dem jeweiligen Herrscher zu, und ihm wird am Ende in den Mund gelegt, er habe eine Provinz gewonnen, ohne einen einzigen Soldaten zu verlieren. Die Berliner haben ihn übrigens gehasst.
Steht die Sonne hoch, dann scheint der alte Zyniker zu lächeln. Dafür gibt es eigentlich wenig Grund angesichts des Verfalls und der schäbigen Fassaden ringsum. Keine Frage, welche Partei die Menschen in Letschin seit Jahren wählen. Friedrichs Denkmal steht vor dem vor einem Jahrzehnt geschlossenen »Gasthof Zum Alten Fritz« – und gegenüber vom Obelisken, der dem Gedenken an dreihunderteinunddreißig sowjetische Soldaten gewidmet ist. Seit der Errichtung sind einhundertsiebzehn Gefallene hinzugekommen: Wie gesagt, noch heute kann man hier keinen Graben ziehen, ohne dass eine verrostete Waffe, ein löcheriger Stahlhelm, ein vermoderndes Skelett erscheint.
Letschin ist schon deshalb ein wenig bekannt, weil Theodor Fontane dort seine Lehrzeit in der Apotheke des Vaters verbrachte und der »Gasthof zum Alten Fritz« ihm als Vorbild für die mörderische Herberge in »Unterm Birnbaum« diente. Wenn heute jedoch manchem der Name des zu Letschin gehörenden Dorfes Kienitz geläufiger ist, dann liegt das an den Gedenkfeiern und Kranzniederlegungen, die dort seit dem Kriegsende immer wieder einmal stattfinden. Denn Kienitz war am 31. Januar 1945 der erste Brückenkopf am Westufer der Oder, den die Rote Armee einnahm. Die etwa zweieinhalbtausend Einwohner und hunderte Flüchtlinge gerieten dabei zwischen die Fronten: im Westen Tod durch Artilleriebeschuss und Angriffe der deutschen Luftwaffe, im Osten, am jenseitigen Oderufer, Gefangenschaft und häufig auch Plünderung und Vergewaltigung. Die Erinnerung an jene Zeit soll nun ein 1971 eingeweihtes Denkmal bewahren: ein Panzer T 34, den der umtriebige Bürgermeister von Kienitz vom Verteidigungsminister der DDR erbat und tatsächlich bekam: ausgemustert, aber aufgetankt und fahrtüchtig. Ein Festtag für die Dorfjugend. Fotografien zeigen Kinder, die unbeschwert auf dem Panzer herumklettern – ganz so, wie es Jahrzehnte später Bundeskanzler Scholz auf einem für die Ukraine bestimmten LEOPARD tat. Die bisweilen zu hörende Behauptung, der T 34 sei im Januar 1945 über die zugefrorene Oder nach Kienitz gerollt, ist freilich eine Legende.
Stattdessen wurde seit den Tagen der Wende hin und wieder offen gefragt, ob der Panzer noch in das Bild des Dorfes passe. Aber selbst viele jener Kienitzer, die Augenzeugen der letzten Kriegstage waren, wollten nicht mehr auf das Denkmal verzichten. Eine Antwort könnte vielleicht ein anderes, ein ungewöhnliches Mahnmal geben, das von Roland Rother entworfen und 1999 eingeweiht wurde. Es steht gegenüber vom Panzer und ist aus Feldsteinen aufgerichtet worden, die im Dorf und in der Umgebung gesammelt wurden. Mitten zwischen zwei Feldsteinwänden blieb Raum in der Form eines Kreuzes ausgespart, beiderseits vom Kreuzumriss tragen zwei stählerne Platten die Aufschrift »DEN OPFERN 1939-1945«. Gewidmet ist das Denkmal insbesondere den »vielen tausend Opfern des Zweiten Weltkrieges (…), die, unbekannt geblieben, in den Dörfern des Oderbruchs, in der Feldmark, in den Gehölzen und Wiesen, am Deich und im Strom ihr namenloses Grab gefunden haben«.
Es gibt in Kienitz und Letschin sowie darüber hinaus noch weitaus mehr Denkmäler im Oderbruch. So wird zum Beispiel nach Neuhardenberg reisen, wer weiterhin Friedrich II. verehrt, oder besser nach Seelow, wo ein anderer T 34 steht: im Gegensatz zu jenem in Kienitz ein hässliches, verrostetes Ungetüm mit ungeglätteten Schweißnähten. Dieser Panzer ist freilich wirklich über die Oder gekommen und schoss den Weg nach Berlin frei, damit dort nie wieder ein Kanzler von Krieg und Sieg redet.