Können Sie sich vorstellen, wie Huánglóng, der goldene Drache des Wohlstandes und der Überlegenheit, am Himmel über dem Nordpolarmeer tanzt? Chinesen können das sicherlich, und sie haben gute Gründe dafür. Ihre Politiker blickten schon 1920 begehrlich auf den hohen Norden, als in Paris ein internationaler Vertrag über die nunmehr zu Norwegen gehörende polare Inselgruppe Spitzbergen geschlossen wurde. 1925, vor genau einhundert Jahren, trat China dieser Vereinbarung bei und gründete knapp 80 Jahre später, 2004, eine Forschungsstation auf Spitzbergen. Bisher ist ungewiss, ob sich das Interesse der chinesischen Forscher auf die arktischen Klimaverhältnisse, auf die vortrefflichen Kohlevorkommen oder auf andere Ziele richtet.
Deutsche Medien und Politiker warnen beim Thema China vor Zuneigung und enger Bindung, denn wir sind in Fragen der Menschenrechte oder im Hinblick auf demokratische Normen völlig uneins. Das ist ehrenwert, sofern man es unterlässt, dabei – wie es eine unbedarfte deutsche Außenministerin tat – den chinesischen Staatspräsidenten zu beschimpfen. Den Tanz des goldenen Drachens hat dergleichen nie gestört, er scheint manchmal so unaufhaltsam wie der Klimawandel. Nun, das alles ist nicht mein Fach, aber sofern es um das Nordpolarmeer geht, auch Arktischer Ozean, Nördliches Eismeer, Arktische See oder kurz Arktik genannt, dann kann man beim Lesen von Schifffahrtsmeldungen durchaus einiges über das Geschehen dort erfahren. An der Südküste dieses Meeres, genauer im Abschnitt zwischen Beringstraße und Murmansk, haben chinesische Kredite sowie die Kooperation mit russischen Partnern etwa seit 2014 große Veränderungen bewirkt: Auf der Jamal-Halbinsel, in einer der ausgedehntesten Gasförderregionen Russlands, werden nach Investitionen chinesischer Banken und der Teilnahme des französischen Unternehmens TOTAL ENERGIES nun jährlich bis zu 21 Millionen Tonnen verflüssigtes Erdgas (LNG) gewonnen und über den Hafen Sabetta vornehmlich in den asiatisch-pazifischen Raum verschifft. Dabei ist es nicht geblieben, inzwischen kommt das Projekt Arctic LNG-2 mit chinesischen, französischen und japanischen Krediten und Beteiligungen hinzu und bringt den Bau weiterer Hafenanlagen, Terminals, Straßen und eines zweiten Flughafens. Überdies werden derzeit auf der Jamal-Halbinsel Erdöl und seltene Erden gefördert. Gleichzeitig schafft der Ausbau von Murmansk und eines Tiefwasserhafens bei Archangelsk erweiterte Möglichkeiten zur Verschiffung von Bodenschätzen. Immer größere Bedeutung gewinnt in diesem Zusammenhang freilich die nach Osten gerichtete Schifffahrtsroute durch das Nordpolarmeer, die inzwischen aus offenkundigem Grund nicht mehr allein Northern Sea Route (NSR), sondern auch Polar Silk Road (PSR, Polare Seidenstraße) genannt wird. Und über all diesen Vorhaben tanzt der gelbe Drache und verlangt ein Drittel vom Ertrag.
So etwas ist gewiss mit großen Schäden für die Umwelt verbunden. Es ist auch fraglich, ob die Nenzen, die ursprünglichen Bewohner Jamals und des ihnen zugesprochenen Autonomen Gebietes, angemessen entschädigt werden. Hoffentlich gibt es russische Bundesgesetze, die Unternehmen, die in traditionell genutzten Landschaften tätig sind, zur Abstimmung mit indigenen Bevölkerungsgruppen und zum Schadenersatz verpflichten. Doch hier kann allenfalls von der Seefahrt die Rede sein.
Die Herausforderung, die mit Gas, Öl oder anderen Gütern beladene Schiffe und die Seeleute an Bord auf ihrer Fahrt durch das Nordpolarmeer erwartet, lässt sich zeitlich nicht genau erfassen, und wer etwas Gutes von diesem Meer sagen will, der muss lange nachdenken. Gemeinhin wird es immer kälter – man sagt, dort würden die Krähen gefroren vom Himmel fallen –, und die Eisdecke wächst, je weiter man nach Osten kommt. Im Westen, so an der Küste von Murmansk, ist das Meer wegen des Golfstromes eisfrei. Für die Barentssee gilt das gleichfalls fast im gesamten Jahr, nur im äußersten Norden kann es Wintereis geben. An der ostsibirischen Küste liegen die Dinge jedoch erheblich anders. Allgemein wird beschrieben, dass die eisfreie Zeit frühestens im Juli beginnt und im September endet. Allerdings gibt es inzwischen durch den Klimawandel bedingte Veränderungen. Die sibirische Küste zeigt jetzt teilweise schon im Juni verstreute offene Wasserflächen.
Auch ist es ja nicht so, dass Meereis die Schifffahrt wie einst aufhalten oder gar unmöglich machen würde. Es gibt inzwischen mehrere Wege, auf denen man den Schrecken des Eises trotzen kann. Zum Beispiel besteht bei der Verschiffung von LNG die Möglichkeit des Transshipments, der Umladung: Dann verladen eisfähige Spezialtanker ihr in Sibirien gewonnenes LNG auf gewöhnliche Tankschiffe, etwa in der Barentssee oder in europäischen Häfen, sofern Sanktionen sie nicht daran hindern. Überdies fahren auf der besagten Route viele Schiffe mit sogenannter Eisverstärkung, zum Beispiel die russischen LNG-Tanker mit der international anerkannten Klassifikation Arc7-Ice, und schließlich kann man das Eis brechen. Im Nordpolarmeer gibt es dafür eine Flotte zum Teil mit Kernkraft angetriebener Eisbrecher. Es ist freilich bekannt, dass Chinesen nur ungern vom Beistand ihrer Partner abhängig sind: Weil seither neben russischen auch chinesische Schiffe staatsnaher Privatreedereien das Nordpolarmeer befahren, stellte das Reich der Mitte schon 1994 den auch als Forschungsschiff genutzten Eisbrecher XUE LONG (Schneedrache) in Dienst. 2019 folgte diesem ursprünglich in der Sowjetunion gebauten Schiff der erste in China konstruierte Eisbrecher XUE LONG 2, bei dessen Entwurf noch ein finnisches Unternehmen mitwirkte. Das wird allerdings zum ersten und letzten Mal notwendig gewesen sein: Mein Schwiegervater war in den fünfziger Jahren als Elektroingenieur und Ausbilder in China tätig. Von ihm im Beisein chinesischer Lehrlinge aufgebaute elektrische Systeme und Schaltungen mussten von letzteren abgebaut und ohne die geringste Hilfe wieder zusammengefügt werden. Dabei gestattete die chinesische Aufsicht keine Aufzeichnungen, denn es sollte, das System verinnerlicht werden. Für meinen Schwiegervater war es anregend, aber auch etwas unheimlich, solcherart eines der Geheimnisse des goldenen Drachens erfahren zu haben.
Gewöhnlich kann man Erfahrungen jedoch anwenden, ohne etwas zu zerstören, und genau das ist geschehen: Bereits im August 2025 war das Containerschiff POLAR BEAR der chinesischen Reederei NewNew Shipping unter panamesischer Flagge in den nordrussischen Hafen Archangelsk eingelaufen. Die POLAR BEAR kam mit 497 Containern aus Shanghai und erreichte Archangelsk über die Nördliche Seidenstraße. Da auf dieser Route inzwischen ständig Tankschiffe unterwegs sind, erschien das noch weniger bedeutsam, weil es sich um keine Linienankunft mit präzise vorhergesagtem ETA (expected time of arrival) handelte. Von einem im Liniendienst eingesetzten Schiff wird verlangt, dass es – wie bei Luftfahrtunternehmen und früher bei unserer Eisenbahn – zuverlässige und genaue Abfahrts- und Ankunftszeiten anbietet. So kam der Abend des 22. September, an dem das unter liberianischer Flagge und chinesischer Regie fahrende Containerschiff ISTANBUL BRIDGE den Hafen Ningbo-Zhoushan in China verließ. Ningbo-Zhoushan ist übrigens nunmehr der größte Hafen der Welt geworden – das betrifft sowohl die Ausdehnung als auch den Umfang des Güterumschlages. Von Ningbo ging es mit Kurs auf das Nordpolarmeer nordwärts. ETA im englischen Felixstowe war der 11. Oktober, als folgende Häfen wurden Rotterdam, Hamburg und Danzig angegeben. Die Fahrt ist dann jedoch durch Umstände aufgehalten worden, die noch nicht bekannt sind, denn das Schiff lief erst am Abend des 13. Oktober in Felixstowe ein. Die 2000 gebaute ISTANBUL BRIDGE – der Name ist geradezu Programm, denn diese Brücke verbindet zwei Erdteile – wurde mit 54437 Gross Tons vermessen (Gross Tons beschreiben dasselbe wie die früher üblichen Bruttoregistertonnen, sind aber nicht direkt vergleichbar), ist 294 Meter lang, fährt mit einer durchschnittlichen Reisegeschwindigkeit von 16-18 Knoten (kn, Seemeilen/Stunde) bei einem maximalen Tiefgang von 13,6 Metern. Ihr Rumpf besitzt keine Eisverstärkung. Mit ihrer Fahrt soll unter anderem bewiesen werden, wie sicher die Route in dieser Jahreszeit schon für gewöhnliche Schiffe ist.
Das Auslaufen aus Ningbo-Zhoushan, immerhin entfernt vergleichbar mit der Eröffnung einer Eisenbahnlinie, die zwei Kontinente miteinander verbindet, verlief auf bescheidene Weise: das Schiff gechartert, also nicht unter chinesischer Flagge, ein Dutzend vor einem kahlen Tisch aufgestellte regionale Politiker und Hafenangestellte – keine Fahnen oder Losungen auf Spruchbändern, keine Musik, kein Bankett, keine gefüllten Sektgläser. Um zu ermessen, was da eigentlich geschieht, hier einige Zahlen: Der Weg eines Containerschiffes, das bald unsere Weihnachtsartikel von Ningbo-Zhoushan nach Hamburg bringen wird, ist je nach Route 10800 bis 14400 Seemeilen (sm, 1 sm = 1,852 km) lang, wenn er durch den Suezkanal führt. Die theoretische Reisedauer beträgt bei einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 16 Knoten und 11000 sm 29 Tage, in der Realität jedoch, abhängig vom Stau vor dem und im Kanal sowie von anderen Widrigkeiten, eher 30 bis 35 Tage. Auf der Northern Silk Road (NSR) muss dieses Containerschiff jedoch nur 7400 bis 8000 Seemeilen zurücklegen. Das ergibt im Rechenbeispiel bei 7400 sm 19 Tage, hängt aber von den Eisverhältnissen ab. Zurzeit beträgt die durchschnittliche Reisedauer 19 bis 25 Tage, sofern die NSR befahren wird. Der Unterschied ist also überaus beträchtlich – und dabei sind die Einsparungen von Kanalgebühren und Treibstoff noch unerwähnt.
Sowohl der Suezkanal als auch der Panamakanal werden unverzichtbar bleiben. Aber vor zehn Jahren glaubten Schifffahrtsexperten noch, vor 2040 oder gar 2050 würden keine Handelsschiffe auf der polaren Route erscheinen. Doch nun flackerte schon in der Beringstraße Aurea borealis, das Nordlicht, wie ein verwehter nächtlicher Regenbogen über der ISTANBUL BRIDGE. Es war kein tanzender Drache. Ein leuchtendes, zerrissenes Gewölbe lag auf dem Horizont, darüber zogen knisternd strahlende Bänder vom Sternbild der Zwillinge zum Arkturus, rollten sich zu einem feurigen Kreis zusammen und eilten, verblassend zu milchigem Weiß, zur Kassiopeia hinüber. Nach der Kursänderung auf West lag vor dem Schiff endlich die legendäre Nordostpassage, ein Seeweg, den seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts zahllose europäische Seeleute und Forscher unter unvorstellbaren Entbehrungen und oft um den Preis ihres Lebens gesucht hatten.