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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der Drache über dem Eis

Kön­nen Sie sich vor­stel­len, wie Huán­glóng, der gol­de­ne Dra­che des Wohl­stan­des und der Über­le­gen­heit, am Him­mel über dem Nord­po­lar­meer tanzt? Chi­ne­sen kön­nen das sicher­lich, und sie haben gute Grün­de dafür. Ihre Poli­ti­ker blick­ten schon 1920 begehr­lich auf den hohen Nor­den, als in Paris ein inter­na­tio­na­ler Ver­trag über die nun­mehr zu Nor­we­gen gehö­ren­de pola­re Insel­grup­pe Spitz­ber­gen geschlos­sen wur­de. 1925, vor genau ein­hun­dert Jah­ren, trat Chi­na die­ser Ver­ein­ba­rung bei und grün­de­te knapp 80 Jah­re spä­ter, 2004, eine For­schungs­sta­ti­on auf Spitz­ber­gen. Bis­her ist unge­wiss, ob sich das Inter­es­se der chi­ne­si­schen For­scher auf die ark­ti­schen Kli­ma­ver­hält­nis­se, auf die vor­treff­li­chen Koh­le­vor­kom­men oder auf ande­re Zie­le richtet.

Deut­sche Medi­en und Poli­ti­ker war­nen beim The­ma Chi­na vor Zunei­gung und enger Bin­dung, denn wir sind in Fra­gen der Men­schen­rech­te oder im Hin­blick auf demo­kra­ti­sche Nor­men völ­lig uneins. Das ist ehren­wert, sofern man es unter­lässt, dabei – wie es eine unbe­darf­te deut­sche Außen­mi­ni­ste­rin tat – den chi­ne­si­schen Staats­prä­si­den­ten zu beschimp­fen. Den Tanz des gol­de­nen Dra­chens hat der­glei­chen nie gestört, er scheint manch­mal so unauf­halt­sam wie der Kli­ma­wan­del. Nun, das alles ist nicht mein Fach, aber sofern es um das Nord­po­lar­meer geht, auch Ark­ti­scher Oze­an, Nörd­li­ches Eis­meer, Ark­ti­sche See oder kurz Ark­tik genannt, dann kann man beim Lesen von Schiff­fahrts­mel­dun­gen durch­aus eini­ges über das Gesche­hen dort erfah­ren. An der Süd­kü­ste die­ses Mee­res, genau­er im Abschnitt zwi­schen Bering­stra­ße und Mur­mansk, haben chi­ne­si­sche Kre­di­te sowie die Koope­ra­ti­on mit rus­si­schen Part­nern etwa seit 2014 gro­ße Ver­än­de­run­gen bewirkt: Auf der Jamal-Halb­in­sel, in einer der aus­ge­dehn­te­sten Gas­för­der­re­gio­nen Russ­lands, wer­den nach Inve­sti­tio­nen chi­ne­si­scher Ban­ken und der Teil­nah­me des fran­zö­si­schen Unter­neh­mens TOTAL ENERGIES nun jähr­lich bis zu 21 Mil­lio­nen Ton­nen ver­flüs­sig­tes Erd­gas (LNG) gewon­nen und über den Hafen Sabet­ta vor­nehm­lich in den asia­tisch-pazi­fi­schen Raum ver­schifft. Dabei ist es nicht geblie­ben, inzwi­schen kommt das Pro­jekt Arc­tic LNG-2 mit chi­ne­si­schen, fran­zö­si­schen und japa­ni­schen Kre­di­ten und Betei­li­gun­gen hin­zu und bringt den Bau wei­te­rer Hafen­an­la­gen, Ter­mi­nals, Stra­ßen und eines zwei­ten Flug­ha­fens. Über­dies wer­den der­zeit auf der Jamal-Halb­in­sel Erd­öl und sel­te­ne Erden geför­dert. Gleich­zei­tig schafft der Aus­bau von Mur­mansk und eines Tief­was­ser­ha­fens bei Arch­an­gelsk erwei­ter­te Mög­lich­kei­ten zur Ver­schif­fung von Boden­schät­zen. Immer grö­ße­re Bedeu­tung gewinnt in die­sem Zusam­men­hang frei­lich die nach Osten gerich­te­te Schiff­fahrts­rou­te durch das Nord­po­lar­meer, die inzwi­schen aus offen­kun­di­gem Grund nicht mehr allein Nor­t­hern Sea Rou­te (NSR), son­dern auch Polar Silk Road (PSR, Pola­re Sei­den­stra­ße) genannt wird. Und über all die­sen Vor­ha­ben tanzt der gel­be Dra­che und ver­langt ein Drit­tel vom Ertrag.

So etwas ist gewiss mit gro­ßen Schä­den für die Umwelt ver­bun­den. Es ist auch frag­lich, ob die Nen­zen, die ursprüng­li­chen Bewoh­ner Jamals und des ihnen zuge­spro­che­nen Auto­no­men Gebie­tes, ange­mes­sen ent­schä­digt wer­den. Hof­fent­lich gibt es rus­si­sche Bun­des­ge­set­ze, die Unter­neh­men, die in tra­di­tio­nell genutz­ten Land­schaf­ten tätig sind, zur Abstim­mung mit indi­ge­nen Bevöl­ke­rungs­grup­pen und zum Scha­den­er­satz ver­pflich­ten. Doch hier kann allen­falls von der See­fahrt die Rede sein.

Die Her­aus­for­de­rung, die mit Gas, Öl oder ande­ren Gütern bela­de­ne Schif­fe und die See­leu­te an Bord auf ihrer Fahrt durch das Nord­po­lar­meer erwar­tet, lässt sich zeit­lich nicht genau erfas­sen, und wer etwas Gutes von die­sem Meer sagen will, der muss lan­ge nach­den­ken. Gemein­hin wird es immer käl­ter – man sagt, dort wür­den die Krä­hen gefro­ren vom Him­mel fal­len –, und die Eis­decke wächst, je wei­ter man nach Osten kommt. Im Westen, so an der Küste von Mur­mansk, ist das Meer wegen des Golf­stro­mes eis­frei. Für die Barents­see gilt das gleich­falls fast im gesam­ten Jahr, nur im äußer­sten Nor­den kann es Win­ter­eis geben. An der ost­si­bi­ri­schen Küste lie­gen die Din­ge jedoch erheb­lich anders. All­ge­mein wird beschrie­ben, dass die eis­freie Zeit frü­he­stens im Juli beginnt und im Sep­tem­ber endet. Aller­dings gibt es inzwi­schen durch den Kli­ma­wan­del beding­te Ver­än­de­run­gen. Die sibi­ri­sche Küste zeigt jetzt teil­wei­se schon im Juni ver­streu­te offe­ne Wasserflächen.

Auch ist es ja nicht so, dass Meer­eis die Schiff­fahrt wie einst auf­hal­ten oder gar unmög­lich machen wür­de. Es gibt inzwi­schen meh­re­re Wege, auf denen man den Schrecken des Eises trot­zen kann. Zum Bei­spiel besteht bei der Ver­schif­fung von LNG die Mög­lich­keit des Trans­ship­ments, der Umla­dung: Dann ver­la­den eis­fä­hi­ge Spe­zi­al­tan­ker ihr in Sibi­ri­en gewon­ne­nes LNG auf gewöhn­li­che Tank­schif­fe, etwa in der Barents­see oder in euro­päi­schen Häfen, sofern Sank­tio­nen sie nicht dar­an hin­dern. Über­dies fah­ren auf der besag­ten Rou­te vie­le Schif­fe mit soge­nann­ter Eis­ver­stär­kung, zum Bei­spiel die rus­si­schen LNG-Tan­ker mit der inter­na­tio­nal aner­kann­ten Klas­si­fi­ka­ti­on Arc7-Ice, und schließ­lich kann man das Eis bre­chen. Im Nord­po­lar­meer gibt es dafür eine Flot­te zum Teil mit Kern­kraft ange­trie­be­ner Eis­bre­cher. Es ist frei­lich bekannt, dass Chi­ne­sen nur ungern vom Bei­stand ihrer Part­ner abhän­gig sind: Weil seit­her neben rus­si­schen auch chi­ne­si­sche Schif­fe staats­na­her Pri­vat­ree­de­rei­en das Nord­po­lar­meer befah­ren, stell­te das Reich der Mit­te schon 1994 den auch als For­schungs­schiff genutz­ten Eis­bre­cher XUE LONG (Schneedra­che) in Dienst. 2019 folg­te die­sem ursprüng­lich in der Sowjet­uni­on gebau­ten Schiff der erste in Chi­na kon­stru­ier­te Eis­bre­cher XUE LONG 2, bei des­sen Ent­wurf noch ein fin­ni­sches Unter­neh­men mit­wirk­te. Das wird aller­dings zum ersten und letz­ten Mal not­wen­dig gewe­sen sein: Mein Schwie­ger­va­ter war in den fünf­zi­ger Jah­ren als Elek­tro­in­ge­nieur und Aus­bil­der in Chi­na tätig. Von ihm im Bei­sein chi­ne­si­scher Lehr­lin­ge auf­ge­bau­te elek­tri­sche Syste­me und Schal­tun­gen muss­ten von letz­te­ren abge­baut und ohne die gering­ste Hil­fe wie­der zusam­men­ge­fügt wer­den. Dabei gestat­te­te die chi­ne­si­sche Auf­sicht kei­ne Auf­zeich­nun­gen, denn es soll­te, das System ver­in­ner­licht wer­den. Für mei­nen Schwie­ger­va­ter war es anre­gend, aber auch etwas unheim­lich, sol­cher­art eines der Geheim­nis­se des gol­de­nen Dra­chens erfah­ren zu haben.

Gewöhn­lich kann man Erfah­run­gen jedoch anwen­den, ohne etwas zu zer­stö­ren, und genau das ist gesche­hen: Bereits im August 2025 war das Con­tai­ner­schiff POLAR BEAR der chi­ne­si­schen Ree­de­rei New­New Ship­ping unter pana­me­si­scher Flag­ge in den nord­rus­si­schen Hafen Arch­an­gelsk ein­ge­lau­fen. Die POLAR BEAR kam mit 497 Con­tai­nern aus Shang­hai und erreich­te Arch­an­gelsk über die Nörd­li­che Sei­den­stra­ße. Da auf die­ser Rou­te inzwi­schen stän­dig Tank­schif­fe unter­wegs sind, erschien das noch weni­ger bedeut­sam, weil es sich um kei­ne Lini­en­an­kunft mit prä­zi­se vor­her­ge­sag­tem ETA (expec­ted time of arri­val) han­del­te. Von einem im Lini­en­dienst ein­ge­setz­ten Schiff wird ver­langt, dass es – wie bei Luft­fahrt­un­ter­neh­men und frü­her bei unse­rer Eisen­bahn – zuver­läs­si­ge und genaue Abfahrts- und Ankunfts­zei­ten anbie­tet. So kam der Abend des 22. Sep­tem­ber, an dem das unter libe­ria­ni­scher Flag­ge und chi­ne­si­scher Regie fah­ren­de Con­tai­ner­schiff ISTANBUL BRIDGE den Hafen Ning­bo-Zhous­han in Chi­na ver­ließ. Ning­bo-Zhous­han ist übri­gens nun­mehr der größ­te Hafen der Welt gewor­den – das betrifft sowohl die Aus­deh­nung als auch den Umfang des Güter­um­schla­ges. Von Ning­bo ging es mit Kurs auf das Nord­po­lar­meer nord­wärts. ETA im eng­li­schen Felix­sto­we war der 11. Okto­ber, als fol­gen­de Häfen wur­den Rot­ter­dam, Ham­burg und Dan­zig ange­ge­ben. Die Fahrt ist dann jedoch durch Umstän­de auf­ge­hal­ten wor­den, die noch nicht bekannt sind, denn das Schiff lief erst am Abend des 13. Okto­ber in Felix­sto­we ein. Die 2000 gebau­te ISTANBUL BRIDGE – der Name ist gera­de­zu Pro­gramm, denn die­se Brücke ver­bin­det zwei Erd­tei­le – wur­de mit 54437 Gross Tons ver­mes­sen (Gross Tons beschrei­ben das­sel­be wie die frü­her übli­chen Brut­to­re­gi­ster­ton­nen, sind aber nicht direkt ver­gleich­bar), ist 294 Meter lang, fährt mit einer durch­schnitt­li­chen Rei­se­ge­schwin­dig­keit von 16-18 Kno­ten (kn, Seemeilen/​Stunde) bei einem maxi­ma­len Tief­gang von 13,6 Metern. Ihr Rumpf besitzt kei­ne Eis­ver­stär­kung. Mit ihrer Fahrt soll unter ande­rem bewie­sen wer­den, wie sicher die Rou­te in die­ser Jah­res­zeit schon für gewöhn­li­che Schif­fe ist.

Das Aus­lau­fen aus Ning­bo-Zhous­han, immer­hin ent­fernt ver­gleich­bar mit der Eröff­nung einer Eisen­bahn­li­nie, die zwei Kon­ti­nen­te mit­ein­an­der ver­bin­det, ver­lief auf beschei­de­ne Wei­se: das Schiff gechar­tert, also nicht unter chi­ne­si­scher Flag­ge, ein Dut­zend vor einem kah­len Tisch auf­ge­stell­te regio­na­le Poli­ti­ker und Hafen­an­ge­stell­te – kei­ne Fah­nen oder Losun­gen auf Spruch­bän­dern, kei­ne Musik, kein Ban­kett, kei­ne gefüll­ten Sekt­glä­ser. Um zu ermes­sen, was da eigent­lich geschieht, hier eini­ge Zah­len: Der Weg eines Con­tai­ner­schif­fes, das bald unse­re Weih­nachts­ar­ti­kel von Ning­bo-Zhous­han nach Ham­burg brin­gen wird, ist je nach Rou­te 10800 bis 14400 See­mei­len (sm, 1 sm = 1,852 km) lang, wenn er durch den Suez­ka­nal führt. Die theo­re­ti­sche Rei­se­dau­er beträgt bei einer durch­schnitt­li­chen Geschwin­dig­keit von 16 Kno­ten und 11000 sm 29 Tage, in der Rea­li­tät jedoch, abhän­gig vom Stau vor dem und im Kanal sowie von ande­ren Wid­rig­kei­ten, eher 30 bis 35 Tage. Auf der Nor­t­hern Silk Road (NSR) muss die­ses Con­tai­ner­schiff jedoch nur 7400 bis 8000 See­mei­len zurück­le­gen. Das ergibt im Rechen­bei­spiel bei 7400 sm 19 Tage, hängt aber von den Eis­ver­hält­nis­sen ab. Zur­zeit beträgt die durch­schnitt­li­che Rei­se­dau­er 19 bis 25 Tage, sofern die NSR befah­ren wird. Der Unter­schied ist also über­aus beträcht­lich – und dabei sind die Ein­spa­run­gen von Kanal­ge­büh­ren und Treib­stoff noch unerwähnt.

Sowohl der Suez­ka­nal als auch der Pana­ma­ka­nal wer­den unver­zicht­bar blei­ben. Aber vor zehn Jah­ren glaub­ten Schiff­fahrts­exper­ten noch, vor 2040 oder gar 2050 wür­den kei­ne Han­dels­schif­fe auf der pola­ren Rou­te erschei­nen. Doch nun flacker­te schon in der Bering­stra­ße Aurea borea­lis, das Nord­licht, wie ein ver­weh­ter nächt­li­cher Regen­bo­gen über der ISTANBUL BRIDGE. Es war kein tan­zen­der Dra­che. Ein leuch­ten­des, zer­ris­se­nes Gewöl­be lag auf dem Hori­zont, dar­über zogen kni­sternd strah­len­de Bän­der vom Stern­bild der Zwil­lin­ge zum Ark­turus, roll­ten sich zu einem feu­ri­gen Kreis zusam­men und eil­ten, ver­blas­send zu mil­chi­gem Weiß, zur Kas­sio­peia hin­über. Nach der Kurs­än­de­rung auf West lag vor dem Schiff end­lich die legen­dä­re Nord­ost­pas­sa­ge, ein See­weg, den seit dem Beginn des 16. Jahr­hun­derts zahl­lo­se euro­päi­sche See­leu­te und For­scher unter unvor­stell­ba­ren Ent­beh­run­gen und oft um den Preis ihres Lebens gesucht hatten.