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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der Hegemon und seine »Friedenspolitik«

Die Nukle­ar­waf­fen-Staa­ten übten schon immer den Ernst­fall. Es begann damit, dass die Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Ame­ri­ka am 6. und 9. August 1945 über Hiro­shi­ma und Naga­sa­ki die ersten Atom­bom­ben abge­wor­fen haben. Sie woll­ten gegen­über der Sowjet­uni­on, die mit 27 Mil­lio­nen Toten die Haupt­last des Zwei­ten Welt­kriegs tru­gen, ihre Vor­macht­stel­lung unter­mau­ern. Der bri­ti­sche Pre­mier­mi­ni­ster Win­s­ton Chur­chill sprach vor dem Pots­da­mer Abkom­men (17.7. bis 2.8.1945) von der »Ope­ra­ti­on Unthinkable«, mit dem Ziel, die Sowjet­uni­on anzu­grei­fen, an der sich auch deut­sche (!) Trup­pen betei­li­gen soll­ten. Ist die heu­ti­ge Zeit wirk­lich so weit von die­ser Histo­rie entfernt?

Schon damals gelang es der ersten Atom­macht, die ver­hee­ren­den Fol­gen ihres Atom­bom­ben­ein­sat­zes lan­ge zu unter­drücken, die schlimm­sten Bil­der von her­un­ter­hän­gen­den Haut­fet­zen, ver­brann­ter Haut und Ver­hee­run­gen nicht zu zei­gen. Denn Bil­der erschrecken, erzeu­gen Angst vor dem Hor­ror. Gera­de das brau­chen die »Mili­tär­ex­per­ten« nicht, die uns glau­ben machen wol­len, sie wüss­ten, wie »Sicher­heit« geht. Sie sind dar­an inter­es­siert, Gefah­ren und Risi­ken zu bagatellisieren.

Kriegs­füh­rungs­ideo­lo­gie und »Abschreckung« sind Gewalt­fan­ta­sien und Ele­men­te von Ideo­lo­gien der Mäch­ti­gen zum Macht­er­halt, sie rich­ten sich gegen Demo­kra­ti­sie­rung, Par­ti­zi­pa­ti­on und der Kon­trol­le von unten. Sie pro­du­zie­ren pro­pa­gan­di­stisch den Klei­ster, der die Bevöl­ke­run­gen in die Irre führt, indem Sün­den­böcke gesucht und gefun­den wer­den, Ursa­chen­ana­ly­sen von Kon­flik­ten und Krie­gen als schäd­lich und daher als Gefahr für die eige­ne Pro­pa­gan­da gel­ten. Wes­halb Poli­ti­ker, Medi­en und »ein­schlä­gi­ge« Sicher­heits­exper­ten alter­na­ti­ve, kri­ti­sche Ansät­ze aus­schal­ten. Folgt man dem renom­mier­ten Ame­ri­ka­ni­sten Bernd Grei­ner, ist das, was die Ver­ei­nig­ten Staa­ten nach 1945 taten, ernüch­ternd: Sie »haben die mei­sten Krie­ge geführt, sie sind Spit­zen­rei­ter beim Sturz miss­lie­bi­ger, auch demo­kra­tisch gewähl­ter Regie­run­gen, unzäh­li­ge Men­schen muss­ten ihr Leben las­sen, Gesell­schaf­ten wur­den trau­ma­ti­siert und Staa­ten rui­niert«. Wenn man Gewalt­ein­satz als Macht­stra­te­gie ver­folgt und zum Grund­prin­zip glo­ba­ler Expan­si­on erklärt, ist es fol­ge­rich­tig, alle Ange­bo­te alter­na­ti­ver, weni­ger gewalt­be­rei­ter oder sogar koope­ra­ti­ver und auf eine Ver­stän­di­gung zie­len­de Poli­tik abzu­leh­nen, oder nur zum Schein auf sie ein­zu­ge­hen. Letz­te­res geschah am 1. August 1975 mit der Unter­zeich­nung der Schluss­ak­te der Kon­fe­renz über Sicher­heit und Zusam­men­ar­beit in Euro­pa (KSZE) in Hel­sin­ki. »Die­je­ni­gen, die an Frie­den und Zusam­men­ar­beit in Euro­pa glaub­ten, betrach­te­ten die Schluss­ak­te von Hel­sin­ki als einen Schritt zur Über­win­dung der Tei­lung Euro­pas in zwei Blöcke«, erklär­te kürz­lich der frü­he­re Außen­mi­ni­ster und Sozi­al­de­mo­krat der Repu­blik Mal­ta, Eva­rist Bar­to­lo, in der Times of Mal­te­sia. Nicht so die USA. Frei­ge­ge­be­ne Doku­men­te im »Natio­nal Secu­ri­ty Archi­ve Washing­ton DC« bele­gen die Erklä­rung von Hen­ry Kis­sin­ger am 8. August 1975 gegen­über dem Kabi­nett: »Die KSZE war nie ein Ele­ment der US-Außen­po­li­tik. Wir haben sie nie vor­an­ge­trie­ben.« Kis­sin­ger woll­te sicher­stel­len, dass der Hel­sin­ki-Pro­zess die domi­nan­te Stel­lung der USA nicht schwäch­te. Ein Jahr zuvor, wäh­rend die Kon­fe­renz noch im Gan­ge war, äußer­te Kis­sin­ger gegen­über Prä­si­dent Gerald Ford: »Wir woll­ten sie nie, aber wir haben mit den Euro­pä­ern mit­ge­macht. Sie ist bedeu­tungs­los – sie ist nur eine Effekt­ha­sche­rei der Lin­ken«, berich­tet Bartolo.

Kis­sin­gers Außen­mi­ni­ste­ri­um habe Prä­si­dent Ford ver­si­chert, die KSZE wer­de die USA nicht schwä­chen, »weil die Schluss­ak­te von Hel­sin­ki kein Ver­trag, son­dern ledig­lich ein Abkom­men sei. Sie sei daher weder recht­lich bin­dend noch Gegen­stand einer Rati­fi­zie­rungs­de­bat­te im Senat. Das Abkom­men bedeu­tet so gut wie nichts«, zitiert Bar­to­lo die Akten. In sei­ner Auto­bio­gra­fie »Mein Leben in der Poli­tik« schreibt Wil­ly Brandt, Vor­sit­zen­der der Sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei und ehe­ma­li­ger Bun­des­kanz­ler Deutsch­lands: »Hen­ry Kis­sin­ger moch­te den Gedan­ken nicht, dass die Euro­pä­er mit einer Stim­me spre­chen. Er zog es vor, mit Paris, Lon­don und Bonn zu jon­glie­ren und sie im alten Stil gegen­ein­an­der aus­zu­spie­len.« Kis­sin­ger pfleg­te zu sagen: »Er hät­te lie­ber 14 Zwer­ge als einen Riesen.«

In der Times of Mal­te­sia erklärt der frü­he­re mal­te­si­sche Außen­mi­ni­ster: »Wie Brandt glaub­te auch der sowje­ti­sche Staats­chef Michail Gor­bat­schow an die Über­win­dung der Spal­tung Euro­pas.« Er sprach von der Not­wen­dig­keit, Euro­pa als ein »gemein­sa­mes Zuhau­se« zu gestal­ten, das von den Men­schen, die dort leb­ten und auf­ge­wach­sen waren, auf­ge­baut und ver­wal­tet wer­de. Durch die KSZE erkann­te die Sowjet­uni­on »die nord­ame­ri­ka­ni­sche Prä­senz in Euro­pa als einen wich­ti­gen Fak­tor für ein fried­li­ches Zusam­men­le­ben«“ an. Doch die US-Regie­rung zog es nie in Erwä­gung, der KSZE eine höhe­re Bedeu­tung als der Nato ein­zu­räu­men, nicht ein­mal, nach­dem die Sowjet­uni­on den War­schau­er Pakt auf­ge­löst hat­te. Obwohl die Exi­stenz­be­rech­ti­gung der Nato als Mit­tel zur Abwehr der sowje­ti­schen Bedro­hung nicht län­ger gerecht­fer­tigt wer­den konn­te, woll­ten die USA die Nato wei­ter­hin behalten.

Ver­trau­li­che Doku­men­te vom 24. Febru­ar 1990, die vor sie­ben Jah­ren die »Geor­ge H.W. Bush Pre­si­den­ti­al Libra­ry« ver­öf­fent­lich­te, »zei­gen, dass die größ­te Sor­ge der Bush-Regie­rung hin­sicht­lich der deut­schen Wie­der­ver­ei­ni­gung dar­in bestand, dass die West­deut­schen bila­te­ra­le Abkom­men mit den Sowjets schlie­ßen und bereit sein könn­ten, die Nato-Mit­glied­schaft auf­zu­ge­ben. Prä­si­dent Bush arran­gier­te ein Tref­fen in Camp David mit Bun­des­kanz­ler Hel­mut Kohl ohne Außen­mi­ni­ster Hans-Diet­rich Gen­scher, um »Deutsch­land im Nato-Reser­vat zu hal­ten.« Gen­scher ver­folg­te eige­ne Inter­es­sen und sprach sich für eine grö­ße­re Unab­hän­gig­keit Euro­pas aus.

Bushs Prio­ri­tät bestand dar­in, die US-Prä­senz in Euro­pa auf­recht­zu­er­hal­ten, ins­be­son­de­re den Atom­schirm. Er sag­te Kohl: »Wenn die US-Atom­streit­kräf­te aus Deutsch­land abge­zo­gen wer­den, sehe ich nicht, wie wir einen ande­ren Ver­bün­de­ten auf dem Kon­ti­nent davon über­zeu­gen kön­nen, die­se Waf­fen zu behal­ten.« In sei­nem Gespräch mit Kohl betrach­te­te Bush sei­nen sowje­ti­schen Amts­kol­le­gen Gor­bat­schow nicht als Part­ner, son­dern als besieg­ten Feind. In Bezug auf die in eini­gen sowje­ti­schen Krei­sen vor­ge­brach­ten Vor­wür­fe gegen einen Ver­bleib Deutsch­lands in der Nato sagt er: »Zum Teu­fel damit. Wir haben uns durch­ge­setzt, sie nicht. Wir kön­nen nicht zulas­sen, dass die Sowjets den Sieg aus den Klau­en der Nie­der­la­ge reißen.«

Am 18. April 1990 wur­de Gor­bat­schow von Valen­tin Falin, einem hoch­ran­gi­gen Deutsch­land­ex­per­ten, gewarnt: »Der Westen über­li­stet uns, indem er ver­spricht, die Inter­es­sen der UdSSR zu respek­tie­ren, uns in der Pra­xis jedoch Schritt für Schritt vom ›tra­di­tio­nel­len Euro­pa‹ trennt.« Die­ses Sze­na­rio wird vom sowje­ti­schen Bot­schaf­ter Julij Kwizin­ski in sei­nen »Erin­ne­run­gen« an die Ver­hand­lun­gen des 2+4-Vertrages über die Behand­lung Deutsch­lands als Gan­zes beschrie­ben, die er viel­sa­gend »Vor dem Sturm« betitelte.

Die USA waren fest ent­schlos­sen, nicht nur ein ver­ein­tes Deutsch­land in die Nato auf­zu­neh­men, son­dern auch die Nato, um die ehe­ma­li­gen Mit­glie­der der War­schau­er Ver­trags­or­ga­ni­sa­ti­on zu erwei­tern. Falin bemerkt, dass ver­nünf­ti­ge Stim­men nicht mehr gehört wer­den: »Gen­scher spricht immer noch von Zeit zu Zeit über eine Beschleu­ni­gung der Ent­wick­lung hin zu einer euro­päi­schen kol­lek­ti­ven Sicher­heit durch die ›Auf­lö­sung der Nato und der WTO in ihr‹ (…). Aber nur sehr weni­ge Men­schen (…) hören Gen­scher zu.«

Falin warnt Gor­bat­schow: »Wenn man die letz­ten sechs Mona­te zusam­men­fasst, muss man zu dem Schluss kom­men, dass das ›gemein­sa­me euro­päi­sche Haus‹, das einst eine kon­kre­te Auf­ga­be war, mit deren Umset­zung die Län­der des Kon­ti­nents began­nen, sich nun in eine Fata Mor­ga­na verwandelt.«

Bei einem Tref­fen am 18. Mai 1990 erwähnt Gor­bat­schow die Not­wen­dig­keit, neue Sicher­heits­struk­tu­ren auf­zu­bau­en, um die Blöcke zu erset­zen. US-Außen­mi­ni­ster James Bak­er äußert sich dazu in einer per­sön­li­chen Stel­lung­nah­me, die viel über die tat­säch­li­che Posi­ti­on der USA zu die­sem The­ma ver­rät: »Es ist schön, über pan­eu­ro­päi­sche Sicher­heits­struk­tu­ren und die Rol­le der KSZE zu spre­chen. Es ist ein wun­der­ba­rer Traum, aber eben nur ein Traum. In der Zwi­schen­zeit exi­stiert die Nato.« Wäh­rend die­se in der Fol­ge aus- und umge­baut wur­de, löste sich das öst­li­che Pen­dant, der »War­schau­er Pakt«, am 1. Juli 1991 for­mell auf.

Die Aus­höh­lung der neu­en Frie­dens­ord­nung in den 1990er Jah­ren, die im Übri­gen Anfang August 1990 von Kriegs­vor­be­rei­tun­gen der USA gegen den Irak wegen des­sen Angriff auf Kuwait unter­legt wur­den, war gut vor­be­rei­tet. Dies kann in einer Dis­ser­ta­ti­on von Mans­ur Khan (2005) nach­ver­folgt wer­den. Mili­tär­in­ter­ven­tio­nen der USA und der Nato waren und sind Nor­ma­li­tät des Westens, auch in Euro­pas »Frie­dens­ord­nung« von 1990, und zwar von Anfang an. Alle Erör­te­run­gen der medi­en­be­kann­ten Mili­tär- und Sicher­heits­exper­ten sind wis­sen­schaft­lich nicht halt­bar – und somit pure Ideo­lo­gie einer aus­ge­klü­gel­ten, selbst­er­zeug­ten Machtapparatur.