Die Nuklearwaffen-Staaten übten schon immer den Ernstfall. Es begann damit, dass die Vereinigten Staaten von Amerika am 6. und 9. August 1945 über Hiroshima und Nagasaki die ersten Atombomben abgeworfen haben. Sie wollten gegenüber der Sowjetunion, die mit 27 Millionen Toten die Hauptlast des Zweiten Weltkriegs trugen, ihre Vormachtstellung untermauern. Der britische Premierminister Winston Churchill sprach vor dem Potsdamer Abkommen (17.7. bis 2.8.1945) von der »Operation Unthinkable«, mit dem Ziel, die Sowjetunion anzugreifen, an der sich auch deutsche (!) Truppen beteiligen sollten. Ist die heutige Zeit wirklich so weit von dieser Historie entfernt?
Schon damals gelang es der ersten Atommacht, die verheerenden Folgen ihres Atombombeneinsatzes lange zu unterdrücken, die schlimmsten Bilder von herunterhängenden Hautfetzen, verbrannter Haut und Verheerungen nicht zu zeigen. Denn Bilder erschrecken, erzeugen Angst vor dem Horror. Gerade das brauchen die »Militärexperten« nicht, die uns glauben machen wollen, sie wüssten, wie »Sicherheit« geht. Sie sind daran interessiert, Gefahren und Risiken zu bagatellisieren.
Kriegsführungsideologie und »Abschreckung« sind Gewaltfantasien und Elemente von Ideologien der Mächtigen zum Machterhalt, sie richten sich gegen Demokratisierung, Partizipation und der Kontrolle von unten. Sie produzieren propagandistisch den Kleister, der die Bevölkerungen in die Irre führt, indem Sündenböcke gesucht und gefunden werden, Ursachenanalysen von Konflikten und Kriegen als schädlich und daher als Gefahr für die eigene Propaganda gelten. Weshalb Politiker, Medien und »einschlägige« Sicherheitsexperten alternative, kritische Ansätze ausschalten. Folgt man dem renommierten Amerikanisten Bernd Greiner, ist das, was die Vereinigten Staaten nach 1945 taten, ernüchternd: Sie »haben die meisten Kriege geführt, sie sind Spitzenreiter beim Sturz missliebiger, auch demokratisch gewählter Regierungen, unzählige Menschen mussten ihr Leben lassen, Gesellschaften wurden traumatisiert und Staaten ruiniert«. Wenn man Gewalteinsatz als Machtstrategie verfolgt und zum Grundprinzip globaler Expansion erklärt, ist es folgerichtig, alle Angebote alternativer, weniger gewaltbereiter oder sogar kooperativer und auf eine Verständigung zielende Politik abzulehnen, oder nur zum Schein auf sie einzugehen. Letzteres geschah am 1. August 1975 mit der Unterzeichnung der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki. »Diejenigen, die an Frieden und Zusammenarbeit in Europa glaubten, betrachteten die Schlussakte von Helsinki als einen Schritt zur Überwindung der Teilung Europas in zwei Blöcke«, erklärte kürzlich der frühere Außenminister und Sozialdemokrat der Republik Malta, Evarist Bartolo, in der Times of Maltesia. Nicht so die USA. Freigegebene Dokumente im »National Security Archive Washington DC« belegen die Erklärung von Henry Kissinger am 8. August 1975 gegenüber dem Kabinett: »Die KSZE war nie ein Element der US-Außenpolitik. Wir haben sie nie vorangetrieben.« Kissinger wollte sicherstellen, dass der Helsinki-Prozess die dominante Stellung der USA nicht schwächte. Ein Jahr zuvor, während die Konferenz noch im Gange war, äußerte Kissinger gegenüber Präsident Gerald Ford: »Wir wollten sie nie, aber wir haben mit den Europäern mitgemacht. Sie ist bedeutungslos – sie ist nur eine Effekthascherei der Linken«, berichtet Bartolo.
Kissingers Außenministerium habe Präsident Ford versichert, die KSZE werde die USA nicht schwächen, »weil die Schlussakte von Helsinki kein Vertrag, sondern lediglich ein Abkommen sei. Sie sei daher weder rechtlich bindend noch Gegenstand einer Ratifizierungsdebatte im Senat. Das Abkommen bedeutet so gut wie nichts«, zitiert Bartolo die Akten. In seiner Autobiografie »Mein Leben in der Politik« schreibt Willy Brandt, Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei und ehemaliger Bundeskanzler Deutschlands: »Henry Kissinger mochte den Gedanken nicht, dass die Europäer mit einer Stimme sprechen. Er zog es vor, mit Paris, London und Bonn zu jonglieren und sie im alten Stil gegeneinander auszuspielen.« Kissinger pflegte zu sagen: »Er hätte lieber 14 Zwerge als einen Riesen.«
In der Times of Maltesia erklärt der frühere maltesische Außenminister: »Wie Brandt glaubte auch der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow an die Überwindung der Spaltung Europas.« Er sprach von der Notwendigkeit, Europa als ein »gemeinsames Zuhause« zu gestalten, das von den Menschen, die dort lebten und aufgewachsen waren, aufgebaut und verwaltet werde. Durch die KSZE erkannte die Sowjetunion »die nordamerikanische Präsenz in Europa als einen wichtigen Faktor für ein friedliches Zusammenleben«“ an. Doch die US-Regierung zog es nie in Erwägung, der KSZE eine höhere Bedeutung als der Nato einzuräumen, nicht einmal, nachdem die Sowjetunion den Warschauer Pakt aufgelöst hatte. Obwohl die Existenzberechtigung der Nato als Mittel zur Abwehr der sowjetischen Bedrohung nicht länger gerechtfertigt werden konnte, wollten die USA die Nato weiterhin behalten.
Vertrauliche Dokumente vom 24. Februar 1990, die vor sieben Jahren die »George H.W. Bush Presidential Library« veröffentlichte, »zeigen, dass die größte Sorge der Bush-Regierung hinsichtlich der deutschen Wiedervereinigung darin bestand, dass die Westdeutschen bilaterale Abkommen mit den Sowjets schließen und bereit sein könnten, die Nato-Mitgliedschaft aufzugeben. Präsident Bush arrangierte ein Treffen in Camp David mit Bundeskanzler Helmut Kohl ohne Außenminister Hans-Dietrich Genscher, um »Deutschland im Nato-Reservat zu halten.« Genscher verfolgte eigene Interessen und sprach sich für eine größere Unabhängigkeit Europas aus.
Bushs Priorität bestand darin, die US-Präsenz in Europa aufrechtzuerhalten, insbesondere den Atomschirm. Er sagte Kohl: »Wenn die US-Atomstreitkräfte aus Deutschland abgezogen werden, sehe ich nicht, wie wir einen anderen Verbündeten auf dem Kontinent davon überzeugen können, diese Waffen zu behalten.« In seinem Gespräch mit Kohl betrachtete Bush seinen sowjetischen Amtskollegen Gorbatschow nicht als Partner, sondern als besiegten Feind. In Bezug auf die in einigen sowjetischen Kreisen vorgebrachten Vorwürfe gegen einen Verbleib Deutschlands in der Nato sagt er: »Zum Teufel damit. Wir haben uns durchgesetzt, sie nicht. Wir können nicht zulassen, dass die Sowjets den Sieg aus den Klauen der Niederlage reißen.«
Am 18. April 1990 wurde Gorbatschow von Valentin Falin, einem hochrangigen Deutschlandexperten, gewarnt: »Der Westen überlistet uns, indem er verspricht, die Interessen der UdSSR zu respektieren, uns in der Praxis jedoch Schritt für Schritt vom ›traditionellen Europa‹ trennt.« Dieses Szenario wird vom sowjetischen Botschafter Julij Kwizinski in seinen »Erinnerungen« an die Verhandlungen des 2+4-Vertrages über die Behandlung Deutschlands als Ganzes beschrieben, die er vielsagend »Vor dem Sturm« betitelte.
Die USA waren fest entschlossen, nicht nur ein vereintes Deutschland in die Nato aufzunehmen, sondern auch die Nato, um die ehemaligen Mitglieder der Warschauer Vertragsorganisation zu erweitern. Falin bemerkt, dass vernünftige Stimmen nicht mehr gehört werden: »Genscher spricht immer noch von Zeit zu Zeit über eine Beschleunigung der Entwicklung hin zu einer europäischen kollektiven Sicherheit durch die ›Auflösung der Nato und der WTO in ihr‹ (…). Aber nur sehr wenige Menschen (…) hören Genscher zu.«
Falin warnt Gorbatschow: »Wenn man die letzten sechs Monate zusammenfasst, muss man zu dem Schluss kommen, dass das ›gemeinsame europäische Haus‹, das einst eine konkrete Aufgabe war, mit deren Umsetzung die Länder des Kontinents begannen, sich nun in eine Fata Morgana verwandelt.«
Bei einem Treffen am 18. Mai 1990 erwähnt Gorbatschow die Notwendigkeit, neue Sicherheitsstrukturen aufzubauen, um die Blöcke zu ersetzen. US-Außenminister James Baker äußert sich dazu in einer persönlichen Stellungnahme, die viel über die tatsächliche Position der USA zu diesem Thema verrät: »Es ist schön, über paneuropäische Sicherheitsstrukturen und die Rolle der KSZE zu sprechen. Es ist ein wunderbarer Traum, aber eben nur ein Traum. In der Zwischenzeit existiert die Nato.« Während diese in der Folge aus- und umgebaut wurde, löste sich das östliche Pendant, der »Warschauer Pakt«, am 1. Juli 1991 formell auf.
Die Aushöhlung der neuen Friedensordnung in den 1990er Jahren, die im Übrigen Anfang August 1990 von Kriegsvorbereitungen der USA gegen den Irak wegen dessen Angriff auf Kuwait unterlegt wurden, war gut vorbereitet. Dies kann in einer Dissertation von Mansur Khan (2005) nachverfolgt werden. Militärinterventionen der USA und der Nato waren und sind Normalität des Westens, auch in Europas »Friedensordnung« von 1990, und zwar von Anfang an. Alle Erörterungen der medienbekannten Militär- und Sicherheitsexperten sind wissenschaftlich nicht haltbar – und somit pure Ideologie einer ausgeklügelten, selbsterzeugten Machtapparatur.