Am 19. November dieses Jahres jährte sich das 125-jährige Geburtsjubiläum von Anna Seghers. Als Anette (»Netty«) Reiling wurde sie im rheinhessischen Mainz in einer jüdischen Familie geboren. Ihr Vater, ein erfolgreicher Antiquitäten- und Kunsthändler, weckte bereits früh ihr Interesse an Kunstgeschichte. Entsprechend studierte sie in Heidelberg Sinologie, Kunstgeschichte und Geschichte und promovierte mit einer Arbeit über »Juden und Judentum im Werk Rembrandts«. In dieser Zeit lernte sie ihren späteren Ehemann, den Ungarn László Radványi, kennen, Kommunist, der als Exilant nach der gescheiterten ungarischen Räterepublik nach Deutschland geflohen war und hier die Marxistische Arbeiterschule gründete. 1925 heiratete sie ihn, ein Jahr später wurden ihr Sohn Peter (Pierre) und 1928 die Tochter Ruth geboren.
Schon früh entwickelte sie eine Lust an erzählerischen Darstellungen. Bereits mit zwanzig Jahren erfolgten erste Veröffentlichungen in der Frankfurter Zeitung, noch unter dem Pseudonym Antje Seghers. Klar formulierte Prosa, Verhältnisse zwischen Menschen im historischen Kontext und schnelle Wendungen der Handlung blieben zeitlebens ihr Markenzeichen. Soziale und politische Zusammenhänge stellten regelmäßig den Rahmen ihrer literarischen Handlungen dar. Ihren Künstlernamen Anna Seghers entlieh sie einem Hercules Seghers, ein Zeitgenosse Rembrandts, der zwar hochbegabt, aber ausgestoßen und in Armut endete. »Die Toten auf der Insel Djal«, »Jans muss sterben« und »Grubetsch« waren erste Werke, mit denen sie bereits Aufmerksamkeit erweckte. Ihren literarischen Durchbruch allerdings hatte sie mit dem sozialen Drama »Aufstand der Fischer von St. Barbara« von 1928, in dem sie die Geschehnisse des Spanischen Bürgerkriegs vorwegnahm. Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Unterdrückung waren ihre Themen, wenn es auch im Ergebnis verlorene Kämpfe waren. Dennoch bleibt sie zuversichtlich, dass sich der Verlauf der Geschichte verändern lässt. Ihre Romane und Erzählungen zeugen von der Gewissheit, dass gescheiterte Versuche nicht das Ende darstellen. Immer gibt es eine berechtigte Hoffnung für einen humanen Neuanfang, immer gibt es die Antithese in der Entwicklung. Für den »Aufstand der Fischer« bekam Anna Seghers den Kleist-Preis verliehen. Noch im gleichen Jahr, 1928, wurde sie Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands und im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller.
Ab 1933 ändert sich das Leben für Anna Seghers und ihre Familie radikal. Mit der Machtübernahme Hitlers floh sie, wie viele andere, über die Schweiz ins noch unbesetzte Frankreich und lebte dort in Bellevue bei Paris. Viele bekannte Kulturgrößen und Nazigegner mussten sich hier im französischen Exil durchschlagen. Einen Zusammenschluss dieser Antifaschisten organisierte 1935 ein großer internationaler Schriftstellerkongress in Paris und Madrid. Der Kongress fand ein enormes Echo. In dieser Zeit, für Seghers geprägt von großer Kreativität, entstanden Romane wie »Kopflohn« (1933), »Der Weg durch den Februar« (1935), »Die Rettung« (1937) und vor allem ihr bekanntester Roman, »Das siebte Kreuz« (1939), der allerdings erst 1942 publiziert wurde. Dieser Roman erlangte internationale Bekanntheit, nicht zuletzt durch die Verfilmung mit Spender Tracy in der Hauptrolle: Sechs von sieben KZ-Flüchtlingen aus dem KZ-Westhofen werden wieder gefangen und an Platanenstümpfe gefesselt und gequält. Einem Häftling aber gelingt mit Hilfe einfacher, mutiger Menschen die Flucht auf einem Frachtschiff nach Holland. Ein Beispiel, dass Freiheit und Menschlichkeit trotz scheinbarer Übermacht faschistischer Totalität eine Chance haben, ein Fanal für die Hoffnung, dass Menschen mutig widerstehen. Amerikanischen Soldaten wurde dieser Roman in gekürzter Form zur Ermutigung mit auf die Schlachtfelder gegeben.
Im Mai 1940 überfällt Hitler-Deutschland Frankreich. Innerhalb kürzester Zeit wird das Land in einen besetzten nördlichen und einen südlichen, unbesetzten Teil geteilt. Panikartig fliehen tausende Exilanten, unter dramatischen Umständen, inmitten der Fluchtkolonnen, auch Anna Seghers mit ihren Kindern. Wehrmacht und Gestapo immer im Nacken, werden sie einmal sogar davon überrollt, retten sich aber und schlagen sich mit Hilfe einheimischer Helfer in die unbesetzte Zone durch. Ziel ist das Internierungslager Le Vernet, in dem Seghers Mann interniert ist. Mit großem Organisationsgeschick besorgt sie Tickets, Visa, Empfehlungsschreiben, Passdokumente. Letztes verbliebenes Fluchtziel ist Marseille, von dort gehen noch Schiffe in die freie Welt. Mit viel Glück gelingt der Familie Seghers-Radványi die Flucht über New York, die französische Karibikinsel Martinique nach Mexiko. Sie waren gerettet und ein neuer Lebensabschnitt begann. Im mexikanischen Exil verarbeitete sie ihre dramatischen Erfahrungen der Flucht in ihrem Buch »Transit«, ein weiterer Romanerfolg.
In der mexikanischen Exilzeit 1941-1947 erfuhr Seghers auch vom Tod ihrer Mutter, die deportiert wurde. Ein schwerer Verkehrsunfall brachte sie an den Rand des Todes, aber mit viel Glück fand sie zum Leben zurück. In Mexico City, ihrem neuen Lebensmittelpunkt, lernte sie unter anderem den Maler Diego Rivera, ein großartiger Freskenmaler, und seine Frau, die bekannte Malerin Frida Kahlo kennen.
Ende des Zweiten Weltkrieges stellte sich die Frage: wie weiter? Während ihre Kinder sich dafür entschieden, in Paris zu studieren, zog es Seghers zurück ins zerbombte Deutschland. Zunächst im Westen Berlins, dann aber im Osten der Stadt war es ihr Ziel, beim Aufbau einer neuen, besseren Gesellschaft mitzuhelfen. Neben der Realität der zerstörten Stadt, litt sie unter einer »Eiszeit, in die sie geraten« sei, die ihr »kalt und versteinert« vorkam. Die Unfähigkeit der Deutschen die eigene Verantwortung für die Entwicklung bis hin zum Zusammenbruch zu übernehmen, die Verheerung in den Köpfen der Menschen, setzten ihr mächtig zu.
1948 wurde ihr der Georg Büchner-Preis zuerkannt. Im Fortgang der Entwicklung in der DDR wurde Anna Seghers zur Grande Dame der Literatur im Staat. Weitere Romane, Liebesgeschichten, Schicksalserzählungen und Satiren folgten. In staatlichen Schulbüchern wurde ihre Literatur zur Pflicht.
Anna Seghers schreibt über sich, über selbst Erlebtes und über eine irre gewordene Zeit. Sie machte das Wolfgesetz des Kapitalismus und das der Diktaturen sichtbar. Es geht ihr immer zuerst um menschliche Schicksale und Konflikte, und wie sich ihre Figuren darin bewähren. Spätestens seit ihrer Novelle »Aufstand der Fischer von St. Barbara« wechselte ihr Stil vom Expressionistischen hin zur Neuen Sachlichkeit. Mit sicherem Gefühl formt sie Worte, die Menschen, Verhältnisse, Sehnsüchte und Hoffnung sichtbar werden lassen. Ihr Markenzeichen war die schnörkellose Sprache, ihre dramaturgische Kraft, ihre präzise Beschreibung, die Plastizität ihrer Figuren und der Verhältnisse, die gefangen nehmen. Durch das genaue Skizzieren sozialökonomischer und politischer Verhältnisse und der Menschen, die ihnen unterworfen sind, erzielt sie Einsicht und Identifikation. Und sie beschrieb die Welt immer veränderbar, auch nach großen Entmenschlichungen, Zusammenbrüchen und Niederlagen.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sie ihre Seele letztlich an den SED-Staat verkaufte, so sehr sie literarisch für eine selbstbestimmte Gesellschaft eintrat. Zunächst Vorsitzende des DDR-Schriftstellerverbandes, später dessen Ehrenvorsitzende, schwieg sie öffentlich bei Vorkommnissen, die ihrem Anspruch nicht genügen konnten. Die Erzählung »Der gerechte Richter«, mit Handlung im realen Sozialismus der DDR, zeigt, dass ihr Methoden stalinistischer Herrschaft wie Verrat, Denunziation, erzwungene Geständnisse, Haft, gefälschte Gerichtsdokumente sehr wohl bekannt waren. Ideologische Härte und die Unerbittlichkeit der Partei, Bespitzelungen und Denunziationen, Moskaus eisiger Atem waren bis nach Mexiko spürbar. Ganz Parteisoldatin war von ihrem Engagement für Wahrheit und Gerechtigkeit später wenig zu erkennen. Den Entscheidungen der Partei widersprach sie nie. Sie schwieg sehr oft, zu oft. Das war ein wesentlicher Grund dafür, warum sich nicht nur konservative Kräfte in ihrer Heimatstadt Mainz schwertaten, ihr die Ehrenbürgerwürde zu verleihen. 1981 kam es schließlich doch noch dazu.
Gesagt werden muss aber auch, dass Anna Seghers immer wieder persönliche Initiativen ergriff, um Genossen und Nahestehende zu schützen und dabei ihr Ansehen persönlich in die Waagschale warf.
Die Skizzierung einer Gesellschaft mit menschlichem Gesicht, trotz all ihrer persönlichen Unzulänglichkeiten, ist das, was uns Anna Seghers hinterlässt. Am 1. Juni 1983 verstarb sie. Sie bekam ein Staatsbegräbnis. Ihr Grab und das ihres Mannes finden sich auf dem Dorotheenstädter Friedhof in Berlin. Ganz in ihrer Nachbarschaft liegen Bertolt Brecht und Helene Weigel, zwei enge Weggefährten, die auch über Kontinente fliehen mussten.