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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der Traum von einer veränderbaren Wel

Am 19. Novem­ber die­ses Jah­res jähr­te sich das 125-jäh­ri­ge Geburts­ju­bi­lä­um von Anna Seg­hers. Als Anet­te (»Net­ty«) Rei­ling wur­de sie im rhein­hes­si­schen Mainz in einer jüdi­schen Fami­lie gebo­ren. Ihr Vater, ein erfolg­rei­cher Anti­qui­tä­ten- und Kunst­händ­ler, weck­te bereits früh ihr Inter­es­se an Kunst­ge­schich­te. Ent­spre­chend stu­dier­te sie in Hei­del­berg Sino­lo­gie, Kunst­ge­schich­te und Geschich­te und pro­mo­vier­te mit einer Arbeit über »Juden und Juden­tum im Werk Rem­brandts«. In die­ser Zeit lern­te sie ihren spä­te­ren Ehe­mann, den Ungarn László Rad­vá­nyi, ken­nen, Kom­mu­nist, der als Exi­lant nach der geschei­ter­ten unga­ri­schen Räte­re­pu­blik nach Deutsch­land geflo­hen war und hier die Mar­xi­sti­sche Arbei­ter­schu­le grün­de­te. 1925 hei­ra­te­te sie ihn, ein Jahr spä­ter wur­den ihr Sohn Peter (Pierre) und 1928 die Toch­ter Ruth geboren.

Schon früh ent­wickel­te sie eine Lust an erzäh­le­ri­schen Dar­stel­lun­gen. Bereits mit zwan­zig Jah­ren erfolg­ten erste Ver­öf­fent­li­chun­gen in der Frank­fur­ter Zei­tung, noch unter dem Pseud­onym Ant­je Seg­hers. Klar for­mu­lier­te Pro­sa, Ver­hält­nis­se zwi­schen Men­schen im histo­ri­schen Kon­text und schnel­le Wen­dun­gen der Hand­lung blie­ben zeit­le­bens ihr Mar­ken­zei­chen. Sozia­le und poli­ti­sche Zusam­men­hän­ge stell­ten regel­mä­ßig den Rah­men ihrer lite­ra­ri­schen Hand­lun­gen dar. Ihren Künst­ler­na­men Anna Seg­hers ent­lieh sie einem Her­cules Seg­hers, ein Zeit­ge­nos­se Rem­brandts, der zwar hoch­be­gabt, aber aus­ge­sto­ßen und in Armut ende­te. »Die Toten auf der Insel Djal«, »Jans muss ster­ben« und »Gru­betsch« waren erste Wer­ke, mit denen sie bereits Auf­merk­sam­keit erweck­te. Ihren lite­ra­ri­schen Durch­bruch aller­dings hat­te sie mit dem sozia­len Dra­ma »Auf­stand der Fischer von St. Bar­ba­ra« von 1928, in dem sie die Gescheh­nis­se des Spa­ni­schen Bür­ger­kriegs vor­weg­nahm. Kampf gegen sozia­le Unge­rech­tig­keit, Aus­beu­tung und Unter­drückung waren ihre The­men, wenn es auch im Ergeb­nis ver­lo­re­ne Kämp­fe waren. Den­noch bleibt sie zuver­sicht­lich, dass sich der Ver­lauf der Geschich­te ver­än­dern lässt. Ihre Roma­ne und Erzäh­lun­gen zeu­gen von der Gewiss­heit, dass geschei­ter­te Ver­su­che nicht das Ende dar­stel­len. Immer gibt es eine berech­tig­te Hoff­nung für einen huma­nen Neu­an­fang, immer gibt es die Anti­the­se in der Ent­wick­lung. Für den »Auf­stand der Fischer« bekam Anna Seg­hers den Kleist-Preis ver­lie­hen. Noch im glei­chen Jahr, 1928, wur­de sie Mit­glied der Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei Deutsch­lands und im Bund pro­le­ta­risch-revo­lu­tio­nä­rer Schriftsteller.

Ab 1933 ändert sich das Leben für Anna Seg­hers und ihre Fami­lie radi­kal. Mit der Macht­über­nah­me Hit­lers floh sie, wie vie­le ande­re, über die Schweiz ins noch unbe­setz­te Frank­reich und leb­te dort in Bel­le­vue bei Paris. Vie­le bekann­te Kul­tur­grö­ßen und Nazi­geg­ner muss­ten sich hier im fran­zö­si­schen Exil durch­schla­gen. Einen Zusam­men­schluss die­ser Anti­fa­schi­sten orga­ni­sier­te 1935 ein gro­ßer inter­na­tio­na­ler Schrift­stel­ler­kon­gress in Paris und Madrid. Der Kon­gress fand ein enor­mes Echo. In die­ser Zeit, für Seg­hers geprägt von gro­ßer Krea­ti­vi­tät, ent­stan­den Roma­ne wie »Kopf­lohn« (1933), »Der Weg durch den Febru­ar« (1935), »Die Ret­tung« (1937) und vor allem ihr bekann­te­ster Roman, »Das sieb­te Kreuz« (1939), der aller­dings erst 1942 publi­ziert wur­de. Die­ser Roman erlang­te inter­na­tio­na­le Bekannt­heit, nicht zuletzt durch die Ver­fil­mung mit Spen­der Tra­cy in der Haupt­rol­le: Sechs von sie­ben KZ-Flücht­lin­gen aus dem KZ-West­ho­fen wer­den wie­der gefan­gen und an Pla­ta­nen­stümp­fe gefes­selt und gequält. Einem Häft­ling aber gelingt mit Hil­fe ein­fa­cher, muti­ger Men­schen die Flucht auf einem Fracht­schiff nach Hol­land. Ein Bei­spiel, dass Frei­heit und Mensch­lich­keit trotz schein­ba­rer Über­macht faschi­sti­scher Tota­li­tät eine Chan­ce haben, ein Fanal für die Hoff­nung, dass Men­schen mutig wider­ste­hen. Ame­ri­ka­ni­schen Sol­da­ten wur­de die­ser Roman in gekürz­ter Form zur Ermu­ti­gung mit auf die Schlacht­fel­der gegeben.

Im Mai 1940 über­fällt Hit­ler-Deutsch­land Frank­reich. Inner­halb kür­ze­ster Zeit wird das Land in einen besetz­ten nörd­li­chen und einen süd­li­chen, unbe­setz­ten Teil geteilt. Panik­ar­tig flie­hen tau­sen­de Exi­lan­ten, unter dra­ma­ti­schen Umstän­den, inmit­ten der Flucht­ko­lon­nen, auch Anna Seg­hers mit ihren Kin­dern. Wehr­macht und Gesta­po immer im Nacken, wer­den sie ein­mal sogar davon über­rollt, ret­ten sich aber und schla­gen sich mit Hil­fe ein­hei­mi­scher Hel­fer in die unbe­setz­te Zone durch. Ziel ist das Inter­nie­rungs­la­ger Le Ver­net, in dem Seg­hers Mann inter­niert ist. Mit gro­ßem Orga­ni­sa­ti­ons­ge­schick besorgt sie Tickets, Visa, Emp­feh­lungs­schrei­ben, Pass­do­ku­men­te. Letz­tes ver­blie­be­nes Flucht­ziel ist Mar­seil­le, von dort gehen noch Schif­fe in die freie Welt. Mit viel Glück gelingt der Fami­lie Seg­hers-Rad­vá­nyi die Flucht über New York, die fran­zö­si­sche Kari­bik­in­sel Mar­ti­ni­que nach Mexi­ko. Sie waren geret­tet und ein neu­er Lebens­ab­schnitt begann. Im mexi­ka­ni­schen Exil ver­ar­bei­te­te sie ihre dra­ma­ti­schen Erfah­run­gen der Flucht in ihrem Buch »Tran­sit«, ein wei­te­rer Romanerfolg.

In der mexi­ka­ni­schen Exil­zeit 1941-1947 erfuhr Seg­hers auch vom Tod ihrer Mut­ter, die depor­tiert wur­de. Ein schwe­rer Ver­kehrs­un­fall brach­te sie an den Rand des Todes, aber mit viel Glück fand sie zum Leben zurück. In Mexi­co City, ihrem neu­en Lebens­mit­tel­punkt, lern­te sie unter ande­rem den Maler Die­go Rive­ra, ein groß­ar­ti­ger Fres­ken­ma­ler, und sei­ne Frau, die bekann­te Male­rin Fri­da Kahlo kennen.

Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges stell­te sich die Fra­ge: wie wei­ter? Wäh­rend ihre Kin­der sich dafür ent­schie­den, in Paris zu stu­die­ren, zog es Seg­hers zurück ins zer­bomb­te Deutsch­land. Zunächst im Westen Ber­lins, dann aber im Osten der Stadt war es ihr Ziel, beim Auf­bau einer neu­en, bes­se­ren Gesell­schaft mit­zu­hel­fen. Neben der Rea­li­tät der zer­stör­ten Stadt, litt sie unter einer »Eis­zeit, in die sie gera­ten« sei, die ihr »kalt und ver­stei­nert« vor­kam. Die Unfä­hig­keit der Deut­schen die eige­ne Ver­ant­wor­tung für die Ent­wick­lung bis hin zum Zusam­men­bruch zu über­neh­men, die Ver­hee­rung in den Köp­fen der Men­schen, setz­ten ihr mäch­tig zu.

1948 wur­de ihr der Georg Büch­ner-Preis zuer­kannt. Im Fort­gang der Ent­wick­lung in der DDR wur­de Anna Seg­hers zur Gran­de Dame der Lite­ra­tur im Staat. Wei­te­re Roma­ne, Lie­bes­ge­schich­ten, Schick­sals­er­zäh­lun­gen und Sati­ren folg­ten. In staat­li­chen Schul­bü­chern wur­de ihre Lite­ra­tur zur Pflicht.

Anna Seg­hers schreibt über sich, über selbst Erleb­tes und über eine irre gewor­de­ne Zeit. Sie mach­te das Wolf­ge­setz des Kapi­ta­lis­mus und das der Dik­ta­tu­ren sicht­bar. Es geht ihr immer zuerst um mensch­li­che Schick­sa­le und Kon­flik­te, und wie sich ihre Figu­ren dar­in bewäh­ren. Spä­te­stens seit ihrer Novel­le »Auf­stand der Fischer von St. Bar­ba­ra« wech­sel­te ihr Stil vom Expres­sio­ni­sti­schen hin zur Neu­en Sach­lich­keit. Mit siche­rem Gefühl formt sie Wor­te, die Men­schen, Ver­hält­nis­se, Sehn­süch­te und Hoff­nung sicht­bar wer­den las­sen. Ihr Mar­ken­zei­chen war die schnör­kel­lo­se Spra­che, ihre dra­ma­tur­gi­sche Kraft, ihre prä­zi­se Beschrei­bung, die Pla­sti­zi­tät ihrer Figu­ren und der Ver­hält­nis­se, die gefan­gen neh­men. Durch das genaue Skiz­zie­ren sozi­al­öko­no­mi­scher und poli­ti­scher Ver­hält­nis­se und der Men­schen, die ihnen unter­wor­fen sind, erzielt sie Ein­sicht und Iden­ti­fi­ka­ti­on. Und sie beschrieb die Welt immer ver­än­der­bar, auch nach gro­ßen Ent­mensch­li­chun­gen, Zusam­men­brü­chen und Niederlagen.

Zur Wahr­heit gehört aber auch, dass sie ihre See­le letzt­lich an den SED-Staat ver­kauf­te, so sehr sie lite­ra­risch für eine selbst­be­stimm­te Gesell­schaft ein­trat. Zunächst Vor­sit­zen­de des DDR-Schrift­stel­ler­ver­ban­des, spä­ter des­sen Ehren­vor­sit­zen­de, schwieg sie öffent­lich bei Vor­komm­nis­sen, die ihrem Anspruch nicht genü­gen konn­ten. Die Erzäh­lung »Der gerech­te Rich­ter«, mit Hand­lung im rea­len Sozia­lis­mus der DDR, zeigt, dass ihr Metho­den sta­li­ni­sti­scher Herr­schaft wie Ver­rat, Denun­zia­ti­on, erzwun­ge­ne Geständ­nis­se, Haft, gefälsch­te Gerichts­do­ku­men­te sehr wohl bekannt waren. Ideo­lo­gi­sche Här­te und die Uner­bitt­lich­keit der Par­tei, Bespit­ze­lun­gen und Denun­zia­tio­nen, Mos­kaus eisi­ger Atem waren bis nach Mexi­ko spür­bar. Ganz Par­tei­sol­da­tin war von ihrem Enga­ge­ment für Wahr­heit und Gerech­tig­keit spä­ter wenig zu erken­nen. Den Ent­schei­dun­gen der Par­tei wider­sprach sie nie. Sie schwieg sehr oft, zu oft. Das war ein wesent­li­cher Grund dafür, war­um sich nicht nur kon­ser­va­ti­ve Kräf­te in ihrer Hei­mat­stadt Mainz schwert­a­ten, ihr die Ehren­bür­ger­wür­de zu ver­lei­hen. 1981 kam es schließ­lich doch noch dazu.

Gesagt wer­den muss aber auch, dass Anna Seg­hers immer wie­der per­sön­li­che Initia­ti­ven ergriff, um Genos­sen und Nahe­ste­hen­de zu schüt­zen und dabei ihr Anse­hen per­sön­lich in die Waag­scha­le warf.

Die Skiz­zie­rung einer Gesell­schaft mit mensch­li­chem Gesicht, trotz all ihrer per­sön­li­chen Unzu­läng­lich­kei­ten, ist das, was uns Anna Seg­hers hin­ter­lässt. Am 1. Juni 1983 ver­starb sie. Sie bekam ein Staats­be­gräb­nis. Ihr Grab und das ihres Man­nes fin­den sich auf dem Doro­theen­städ­ter Fried­hof in Ber­lin. Ganz in ihrer Nach­bar­schaft lie­gen Ber­tolt Brecht und Hele­ne Weigel, zwei enge Weg­ge­fähr­ten, die auch über Kon­ti­nen­te flie­hen mussten.