Der Münchener Historiker Michael Brenner schreibt in der Süddeutschen Zeitung (»Die Zerstörung des Zionismus«, 1.9.2025), die Regierung Benjamin Netanjahu zerstöre den Zionismus – wie ihn die Vordenker Theodor Herzl, Vladimir Zeev Jabotinsky sowie der Staatsgründer David Ben-Gurion im Sinn hatten. Doch ist Israels gegenwärtige Palästina-Politik tatsächlich anti-zionistisch?
Der Zionismus hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts als die ultimative Antwort auf die »jüdische Frage« etabliert, wie sie vor allem in Europa gestellt wurde. Doch je deutlicher wird, wie sehr die messianische Rechte das demokratisch-offene Israel immer mehr erdrückt, desto mehr stellt sich die Frage, welches Kräfteverhältnis zwischen den beiden zionistischen Lagern zur gegenwärtigen Katastrophe Israels geführt hat. Ist der Linkszionismus des liberalen Israels ein Gegenmodell zum Zionismus der Rechten bzw. der Siedlerbewegung, oder hat er dessen Erstarken sogar beschleunigt?
Anders gefragt: Ist die messianische Rechte etwa antizionistisch, wie viele liberale Israelis glauben? Oder ist der Rechts- oder Neozionismus mit Premierminister Netanjahu, Polizeiminister Itamar Ben-Gvir und Finanzminister Bezalel Smotrich nur eine Umsetzung des Zionismus in seiner radikalen Form, die sich nicht grundsätzlich vom Zionismus der Arbeitspartei in den ersten Jahrzehnten des israelischen Staates unterscheidet?
Von Beginn an dominierte die zionistische Politik der Eroberung, Besetzung und Besiedlung des Landes. Erst Anfang der 1990er Jahre sah sich die israelische Führung angesichts der Ersten Intifada (»Krieg der Steine«) und des internationalen Drucks gezwungen, Verhandlungen mit den Palästinensern aufzunehmen. Die erzielten Oslo-Abkommen führten zwar zur Anerkennung der PLO als alleiniger Vertretung des palästinensischen Volkes und zum Dialog mit ihrer politischen Führung, doch die für die Umsetzung der Abkommen verantwortlichen politischen Kräfte in Israel erwiesen sich im Moment der Wahrheit als viel zu schwach und vor allem als sehr unentschlossen.
Die zionistische Linke betrachtet die Ermordung des Premierministers Jitzhak Rabin im November 1995 durch einen jüdischen Extremisten als Wendepunkt, vergisst aber die Kriegspolitik seines Nachfolgers, Shimon Peres. Nur kurz nach Rabins Tod ließ der am 5.1.1996 den palästinensischen Hamas-Drahtzieher Yahya Ayash in Gaza töten. Diese extralegale Hinrichtung führte zu einer tödlichen Welle von Selbstmordattentaten der Hamas in den israelischen Städten. Diese wiederum diente dem neuen Likud-Oppositionsführer Netanjahu dazu, sich als »Mann, der den Terror bekämpfen wird«, zu präsentieren. Während diese Krise mitten im Friedensprozess seine Wahlchancen zunichtemachte, führte Peres die israelischen Streitkräfte im April 1996 auch noch in eine weitere Militäroperation im Libanon. »Früchte des Zorns«, so der Name dieser Operation, sollte Peres› militaristisches Image bei den bevorstehenden Wahlen stärken.
Peres scheiterte, weil die palästinensisch-israelischen Wähler die Arbeitspartei für den Krieg im Libanon abstraften und nicht zur Wahl gingen. Netanjahus Wahl für die erste Amtszeit (1996-1999), die mit einem Vorsprung von lediglich mehreren tausend Stimmen erfolgte, hätte daher sehr wahrscheinlich vermieden werden können, wenn Peres zu diesem Zeitpunkt auf das militärische Vorgehen verzichtet hätte.
Doch Peres, der sich selbst als Mann des Friedens vermarktete, konnte in diesem kritischen Moment Ende 1995 einfach nicht das tun, was er hätte tun müssen. Es waren Abkommen mit der PLO unterzeichnet, es gab einen vereinbarten und akzeptierten palästinensischen Partner, die Europäer und Amerikaner hatten ihre Unterstützung für den Friedensprozess zugesichert, die israelische Rechte und die jüdischen Siedler waren durch das Attentat auf Rabin, also die Ermordung eines Juden durch einen Juden, äußerst geschwächt. Netanjahu dachte sogar an einen Rückzug aus der Politik. Und das Wichtigste: Der Zeitgeist verlangte eine politische Lösung für die Palästina-Frage. Peres musste den begonnenen Prozess nur zu Ende bringen, wenn er wirklich an die Teilung des Landes zwischen den beiden Völkern geglaubt und sie wirklich gewollt hätte. Doch aus Angst vor einem palästinensischen Staat neben Israel – der so nicht in den Oslo-Verträgen festgelegt war, der aber am Ende des Prozesses hätte stehen müssen – machte Peres sämtliche Fehler. Er tappte in die Falle der von ihm selbst geprägten politischen Ordnung, die immer wieder Kriege anzettelt, um politische Krisen zu bewältigen.
Auch in der Folge blieb der israelische Militarismus prägend: Ausgerechnet mit Ehud Barak wollte die linkszionistische Arbeitspartei den Friedensprozess fortsetzen. Der General, der als Stabschef 1993 Schwierigkeiten hatte, den Oslo-Friedensprozess mitzutragen und als Minister der Rabin-Regierung sogar davon Abstand nahm, das zweite Oslo-Abkommen vom September 1995 zu unterstützen, führte innerhalb von nur anderthalb Jahren an der Macht (1999-2001) den Friedensprozess zum Scheitern. Barak war derjenige, der Oslo den Todesstoß versetzte und Israel in eine jahrelange blutige Zweite Intifada stürzte, die hätte verhindert werden können, wenn die zionistische Linke einen überzeugten und überzeugenden Führer gehabt hätte, der die Teilung des Landes forciert und einen palästinensischen Staat zugelassen hätte.
Wenn also Peres 1995 und Barak 2000 unter den damaligen, verhältnismäßig günstigen historischen Bedingungen so kläglich scheiterten, stellt sich die Frage: Führt der israelische Zionismus in seiner Kompromissunfähigkeit und damit in seiner inneren Logik des Siedler-Kolonialismus auch zum Völkermord?
Vor genau achtzig Jahren diskutierte Hannah Arendt in ihrem Artikel »Zionism Reconsidered« das zerstörerische Potenzial der Bestrebungen, die die zionistische Bewegung für sich selbst zu formulieren begann. Sie untersuchte das Konzept des jüdischen Nationalismus mit Begriffen des deutschen Nationalismus, der die verheerende Geschichte einer »späten Nation« manifestierte. Arendt befürchtete, dass der Jischuv – die organisierte jüdische Gemeinde in Palästina – mit seinen diversen zionistischen Strömungen zunehmend auf Gewalt setzt, um dem Konflikt mit den Palästinensern zu begegnen. Sie sah 1945 voraus, was heute befürchtet wird: Eine gewaltsame Lösung der Palästinafrage durch die Zionisten würde zwangsläufig zu weltweitem Judenhass führen.
Mit dem Scheitern der Oslo-Abkommen im Jahr 2000 wurde immer deutlicher, dass der Zionismus, in dem sich Israel geradezu verschanzt hat, Neue Rechte hervorbringen werde: eine extremistische Siedlerbewegung, die an der Ideologie festhält, das Land gewaltsam zu erobern und zu besiedeln mit dem Ziel, einen jüdischen Halacha-Staat nach religiösem Gesetz zu etablieren. Für den alten säkularen Zionismus ist das ein Alptraum.
Dieser äußerste rechte Flügel versteht sich selbst als zionistisch und wird in der Forschung als neozionistisch bezeichnet. Tatsächlich entstand der im heutigen Israel herrschende national-religiöse Neozionismus aus der Identitätskrise des zionistischen Israel. Seit Beginn der Zweiten Intifada im Jahr 2000 hat sich die israelische Gesellschaft weitgehend in sich selbst zurückgezogen, ist unpolitisch geworden und hat sich mit Hilfe ihres neozionistischen Langzeit-Premiers Netanjahu von ihrer Geschichte abgekoppelt.
Der 7. Oktober 2023 war ein verheerender Weckruf, der jedoch in eine weitere Katastrophe mündete, denn die Mehrheit der Israelis weigerte sich stur – und tut es noch immer –, den Überraschungsangriff der Hamas in den Kontext der israelisch-palästinensischen Konfliktgeschichte einzuordnen. Von hier aus war der Weg zur Dämonisierung der Palästinenser nicht mehr weit – eine notwendige Voraussetzung für die dann erfolgte massenhafte Tötung in Gaza. Das Inferno im Gazastreifen wird in Israel jedoch weitestgehend ausgeblendet.
Israels Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser ruft Hannah Arendts Warnung von 1945 wach: Ein auf brutaler Stärke basierender jüdischer Nationalismus – der mithilfe der Großmacht USA versucht, die Palästinenser aus dem Land zu verdrängen – sei nicht nur selbst zum Aussterben verurteilt. Dieser Zionismus würde auch den Hass gegen Juden weltweit beflügeln.
Die Geschichte arbeitet heimtückisch: Während der Neozionismus mit seiner Vernichtungskriegspolitik den fruchtbaren Boden für den alten Antisemitismus bereitet, kehrt die vom zionistischen Israel immer wieder verdrängte Palästinafrage als neues jüdisches Problem auf die Bühne der Geschichte zurück.
Dr. Tamar Amar-Dahl, jüdisch-israelisch-deutsche Historikerin, Berlin, ist Autorin des Buches »Der Siegeszug des Neozionismus. Israel im neuen Millennium, Wien 2023. Weitere Veröffentlichungen siehe: https://orcid.org/0009-0000-7360-4743.