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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Deutschlands Fettfleck

Lage, Lage, Lage sagen die Mak­ler. Drei Din­ge, die wesent­lich sind für den Wert einer Immo­bi­lie. In Lin­dau am Boden­see – kor­rekt eigent­lich auf dem Boden­see, denn der Ursprung der Stadt liegt auf einer Insel – lau­te­ten die Kri­te­ri­en anders, näm­lich Markt, Mün­ze und Mau­er. Die­se drei Kri­te­ri­en mach­ten den weit über tau­send Jah­re alten Ort reich und bedeu­tend. Man­ches hat sich im Lau­fe der Zeit ver­än­dert. Zum Bei­spiel: Lin­dau geht auf die Lin­de zurück. 882 soll näm­lich ein Mönch aus St. Gal­len geschrie­ben haben »Insel, auf der Lin­den­bäu­me wach­sen«, die erste urkund­li­che Erwäh­nung. Gewiss, noch immer gibt es hier Lin­den. Aber das Stadt­bild wird von wuch­ti­gen Pla­ta­nen beherrscht.

Alte Han­dels­we­ge führ­ten über Land und übers Was­ser, sie ende­ten oder nah­men ihren Aus­gang hier. Das mach­te die Ein­woh­ner auf dem Eiland, das kei­nen Qua­drat­ki­lo­me­ter misst, wohl­ha­bend und auch schutz­be­dürf­tig: daher die sie umschlie­ßen­de Mau­er. Und als Reichs­stadt besaß sie auch das Recht, Mün­zen zu prä­gen. So füg­te sich eins zum ande­ren. Und Lage, Lage, Lage. Im letz­ten gro­ßen Krieg schütz­te man sich vor Flie­ger­an­grif­fen, indem man Schwei­zer Fah­nen auf den Dächern aus­brei­te­te, um den Bom­ber­pi­lo­ten, gleich wel­cher Her­kunft, zu sug­ge­rie­ren, die Insel sei Teil der neu­tra­len Schweiz, die am Ufer gegen­über lag. So blieb denn die Stadt vom Krieg verschont.

Nur wenig Kilo­me­ter wei­ter lag auch schon damals Öster­reich, Bre­genz gleich hin­ter der Gren­ze. Und das gehör­te zu Vor­arl­berg, und dahin­ter kam Tirol. Bei­de nach­ma­li­gen öster­rei­chi­schen Bun­des­län­der wur­den nach dem Krieg Fran­zö­si­sche Besat­zungs­zo­ne. Und um ihre Zone über Land zu errei­chen, rekla­mier­te die Besat­zungs­macht, deren deut­sche Zone sich im – heu­ti­gen – Baden-Würt­tem­berg befand, einen Kor­ri­dor. Den tra­ten die Ame­ri­ka­ner an die Fran­zo­sen ab. Was wie­der­um dazu führ­te, dass die vier­te Besat­zungs­macht in die­sem Land­strei­fen »Fran­zö­sisch Bay­ern« (Kfz-Kenn­zei­chen »FBy«) aus­rief und einen Prä­si­den­ten ein­setz­te. Der starb bereits am zwei­ten Tag sei­ner Amts­zeit, wes­halb die Fran­zo­sen nun­mehr einen mit­tel­stän­di­schen Unter­neh­mer, den Land­ma­schi­nen­fa­bri­kan­ten Anton Zwis­ler, inthro­ni­sier­ten. Die Lan­des­kin­der im Kor­ri­dor nann­ten ihren Kreis­prä­si­den­ten König Anton I. oder »Anton der Sanft­mü­ti­ge«, Herr­scher von Lin­da­vi­en. Bis zum Ende »Lin­da­vi­ens« gab es kein Par­la­ment, doch Zwis­ler war den Mini­ster­prä­si­den­ten in den ande­ren Zonen gleich­ge­stellt. Weil Lin­dau Lohn- und Ein­kom­mens­steu­er sowie die Tabak­steu­er behal­ten durf­te und als Rechts­nach­fol­ger des Deut­schen Rei­ches auch Eigen­tü­mer ein­sti­ger Wehr­machts­ob­jek­te war, konn­te das »König­reich« all sei­ne Kom­mu­nen ent­schul­den und in Stra­ßen, Schu­len und ande­re Ein­rich­tun­gen inve­stie­ren. Kraft eige­nen Rechts geneh­mig­te Zwis­ler zudem die Spiel­bank auf der Insel, die der Stadt gute Ein­nah­men brach­te (und es gewiss noch immer tut). Da Lin­dau auch bei der Ver­sor­gung mit Lebens­mit­teln auto­nom war, kamen die Men­schen gut durch die elen­den Nach­kriegs­jah­re. Wegen der Obst­bau­ern am See und der Milch­bau­ern im Hin­ter­land hieß die Gegend damals, kei­nes­wegs frei von Neid, »Fett­fleck Deutsch­lands«. Das »König­reich« ende­te, als Frank­reich ging und Bay­ern kam. Die Lin­dau­er Zei­tung titel­te am 1. Sep­tem­ber 1955: »Ab heu­te wie­der ganz bei Mut­ter Bavaria.«

Die­se und ähn­li­che Geschich­ten erfährt man im Haus zum Cavazzen, dem ver­meint­lich schön­sten Bür­ger­haus am Boden­see. Der Barock­bau am Markt war nach dem gro­ßen Stadt­brand 1728 errich­tet wor­den. In nur zwei Jah­ren. Ein mehr­stöcki­ges Wohn- und Han­dels­haus, die Fas­sa­de mit Wand­bil­dern ver­ziert. Aber nicht nur wegen der Schau­fassa­de kom­men bis heu­te Archi­tek­ten und Bau­leu­te hier­her. Allein das Innen­le­ben des elf Meter hohen Man­sar­den­da­ches ist ein bau­tech­ni­sches Mei­ster­stück, das noch heu­te für Erstau­nen sorgt: Es ist gänz­lich frei von Stützen.

Mit­te Mai ende­te die sie­ben Jah­re wäh­ren­de Restau­rie­rung. Das dort logie­ren­de Hei­mat­mu­se­um öff­ne­te zwei Tage sei­ne Pfor­ten unent­gelt­lich, und auf dem Platz davor gab es »La Festa«, wes­halb die Ein­la­dung zum Eröff­nungs­wo­chen­en­de mit Muse­um, Kunst und Genuss über­schrie­ben war. Der Andrang war rie­sig, wes­halb nur schub­wei­se die Neu­gie­ri­gen auf den Dach­bo­den gelas­sen wer­den konn­ten. Von den Aus­stel­lun­gen in den Eta­gen dar­un­ter wäre jede ein­zel­ne wert zu erwäh­nen, nur zwei will ich nen­nen. Zum einen die foto­gra­fi­sche und fil­mi­sche Doku­men­ta­ti­on der auf­wen­di­gen Sanie­rung mit gro­ßen Por­träts von Bau­ar­bei­tern und Restau­ra­teu­ren. Sol­che Auf­merk­sam­keit erfah­ren Werk­tä­ti­ge hier­zu­lan­de und heut­zu­ta­ge eher selten.

Zum ande­ren die kurz­wei­lig auf­be­rei­te­te Stadt­ge­schich­te, für die Kin­der ver­ständ­lich und für die Erwach­se­nen infor­ma­tiv. Die Video­pro­jek­ti­on lief über die gan­ze Wand, es don­ner­ten die Kano­nen­ku­geln in die Stadt, kni­sternd fraß sich Feu­er von Haus um Haus. Selbst vor der Nazi­zeit drück­te man sich nicht, der didak­ti­sche Kunst­griff geni­al: Irgend­wann, so um 1900, mach­ten die Macher einen Sprung in die Zukunft und – »oh, da haben wir die Uhr zu früh ange­hal­ten« – lan­de­ten bei 1933. Ein paar Bil­der, ein paar Sät­ze. Dann eil­te man wei­ter, denn neben­an war »Lin­dau unterm Haken­kreuz. Ein NS-Muster­städt­chen?« zu besich­ti­gen. Auf­fäl­li­ges Objekt weni­ger das rela­ti­vie­ren­de Fra­ge­zei­chen, son­dern der Tor­so einer Bron­ze­fi­gur, unschwer durch Uni­form und Trom­mel als »Pimpf« zu erken­nen. Sie krön­te den »Hit­ler-Jugend-Brun­nen« bis 1997 – erst sech­zig Jah­re nach ihrer Ent­hül­lung also wur­de das Nazi­sym­bol vom Sockel geholt. Lin­dau, das erfährt man eben­falls, bekam den ersten Naziober­bür­ger­mei­ster in Bay­ern. Der seit 1924 amtie­ren­de Sie­bert trat 1931 zur NSDAP über, zwei Jah­re spä­ter wur­de er Bay­erns MP, was er bis 1942, bis zu sei­nem Tod, auch blieb. Eine haken­kreuz­ver­zier­te »Ehren-Tafel der alten Pg. der NSDAP Orts­grup­pe Lin­dau« zeigt die Pass­bil­der der über zwei­hun­dert Män­ner und Frau­en, die die­ser 1922 gegrün­de­ten Orts­grup­pe ange­hör­ten. Kom­men­tar­text: »Nach dem Krieg wer­den sie mehr­heit­lich als ›Mit­läu­fer‹ oder ›min­der­be­la­stet‹ freigesprochen.«

Reg­te sich viel­leicht auch Wider­stand? Gab es Anti­fa­schi­sten, die sich poli­tisch wider­setz­ten, oder Men­schen, die aus ras­si­sti­schen Grün­den ins Lager gesperrt wur­den? Dar­über liest man nur andeu­tungs­wei­se etwas. Doch immer­hin: Man bekennt sich wenig­stens offen zu die­ser unse­li­gen Ver­gan­gen­heit, ver­drängt sie nicht, und räumt sogar ein, dass Lin­dau damals auch von der Nazi­dik­ta­tur pro­fi­tier­te. »Kraft durch Freu­de« habe seit Mit­te der drei­ßi­ger Jah­re »zahl­lo­se Gäste« in die Stadt gebracht. »Das NS-Regime insze­niert die Feri­en­in­sel und ihre idyl­li­sche Umge­bung als Ide­al­bild des guten Lebens im ›Drit­ten Reich‹. Zugleich aber ist Lin­dau Schau­platz von Aus­gren­zung und Gewalt gegen Men­schen, die nicht zur ›Volks­ge­mein­schaft‹ gehö­ren.« Naja, etwas prä­zi­ser hät­te man es gern schon erfah­ren. Im Publi­kum, das sich durch die Gän­ge und Räu­me schob, waren vie­le Men­schen, deren aus­wär­ti­ge Geburt allein schon durch die Haut­far­be aus­ge­wie­sen war. Jeder Vier­te in der Stadt, die inzwi­schen etwa fünf­und­zwan­zig­tau­send Köp­fe zählt, hat einen Migra­ti­ons­hin­ter­grund; der Aus­län­der­an­teil liegt mit fünf­zehn Pro­zent über dem Bun­des­durch­schnitt. Ähn­lich bunt auch der drei­ßig­köp­fi­ge Stadt­rat, in wel­chem Ver­tre­ter von elf Listen­ver­ei­ni­gun­gen und Par­tei­en sit­zen. Die klein­ste Ver­tre­tung ist die der AfD mit nur einem Sitz …

Zwei Tage herrsch­te Tru­bel auf dem Markt und auf der Insel. Wem es zu bunt oder zu laut wur­de, nahm den Damp­fer und fuhr in zwan­zig Minu­ten hin­über nach Bre­genz, pas­sier­te die Hafen­ein­fahrt mit dem ein­zi­gen Leucht­turm Bay­erns, dem natür­lich süd­lich­sten von ganz Deutsch­land. Auf dem ande­ren Sockel thront seit 1856 ein Löwe aus Sand­stein. Weil es angeb­lich irgend­wel­che Hono­rar­strei­tig­kei­ten mit Bay­ern gab, zeigt sei­ne Hin­ter­front demon­stra­tiv nach Mün­chen, erzählt die Fama. Aber irgend­wo­hin muss sie ja zei­gen. Ohne Aller­wer­te­sten kein Löwe, und ohne Löwe und Leucht­turm nicht die schön­ste Hafen­ein­fahrt am Boden­see, das Wahr­zei­chen Lin­den­aus. Der Pegel des Sees war merk­lich gefal­len, unschwer erkenn­bar an der frü­he­ren Was­ser­li­nie am Gemäu­er. Doch gemach, gemach: 1858 lag der Pegel schon ein­mal 83 Zen­ti­me­ter unter dem heu­te nied­ri­gen. Auch wenn schon wie­der die Kas­san­dras in den Medi­en kla­gen – der Boden­see bleibt uns ver­mut­lich erhalten.

Die Insel ver­lie­ßen wir zu Fuß über eine Brücke, deren Zugang von gepfleg­ten Grün­an­la­gen gesäumt wur­de. Links neben der Stra­ße stand eine kunst­ge­schmie­de­te Git­ter­wand unter Bäu­men und hin­ter Blu­men­ra­bat­ten. Auf einer Tafel erfuhr man, dass es sich um ein Kunst­werk han­delt, wel­ches den deut­schen Pavil­lon auf der Welt­aus­stel­lung 1958 in Brüs­sel schmück­te und zwei Jah­re spä­ter von der Stadt Lin­dau erwor­ben wur­de. »Das impo­san­te Git­ter ist das Werk von Prof. Fritz Kühn (1910-1967), einem inter­na­tio­nal renom­mier­ten Metall­künst­ler und expe­ri­men­tel­len Uni­ver­sa­li­sten aus Ost-Berlin.«

Aha, unse­rem Fritz Kühn, von dem unter ande­rem das A-Por­tal der Ber­li­ner Stadt­bi­blio­thek und der Schwe­ben­de Ring auf dem Straus­ber­ger Platz stam­men, nicht zu ver­ges­sen das Tor an der Gedenk­stät­te der Sozia­li­sten in Ber­lin-Fried­richs­fel­de. Die Welt ist eben ein Dorf. Selbst Ber­li­ner haben also ihren Teil am Fett­fleck Deutschlands.