Lage, Lage, Lage sagen die Makler. Drei Dinge, die wesentlich sind für den Wert einer Immobilie. In Lindau am Bodensee – korrekt eigentlich auf dem Bodensee, denn der Ursprung der Stadt liegt auf einer Insel – lauteten die Kriterien anders, nämlich Markt, Münze und Mauer. Diese drei Kriterien machten den weit über tausend Jahre alten Ort reich und bedeutend. Manches hat sich im Laufe der Zeit verändert. Zum Beispiel: Lindau geht auf die Linde zurück. 882 soll nämlich ein Mönch aus St. Gallen geschrieben haben »Insel, auf der Lindenbäume wachsen«, die erste urkundliche Erwähnung. Gewiss, noch immer gibt es hier Linden. Aber das Stadtbild wird von wuchtigen Platanen beherrscht.
Alte Handelswege führten über Land und übers Wasser, sie endeten oder nahmen ihren Ausgang hier. Das machte die Einwohner auf dem Eiland, das keinen Quadratkilometer misst, wohlhabend und auch schutzbedürftig: daher die sie umschließende Mauer. Und als Reichsstadt besaß sie auch das Recht, Münzen zu prägen. So fügte sich eins zum anderen. Und Lage, Lage, Lage. Im letzten großen Krieg schützte man sich vor Fliegerangriffen, indem man Schweizer Fahnen auf den Dächern ausbreitete, um den Bomberpiloten, gleich welcher Herkunft, zu suggerieren, die Insel sei Teil der neutralen Schweiz, die am Ufer gegenüber lag. So blieb denn die Stadt vom Krieg verschont.
Nur wenig Kilometer weiter lag auch schon damals Österreich, Bregenz gleich hinter der Grenze. Und das gehörte zu Vorarlberg, und dahinter kam Tirol. Beide nachmaligen österreichischen Bundesländer wurden nach dem Krieg Französische Besatzungszone. Und um ihre Zone über Land zu erreichen, reklamierte die Besatzungsmacht, deren deutsche Zone sich im – heutigen – Baden-Württemberg befand, einen Korridor. Den traten die Amerikaner an die Franzosen ab. Was wiederum dazu führte, dass die vierte Besatzungsmacht in diesem Landstreifen »Französisch Bayern« (Kfz-Kennzeichen »FBy«) ausrief und einen Präsidenten einsetzte. Der starb bereits am zweiten Tag seiner Amtszeit, weshalb die Franzosen nunmehr einen mittelständischen Unternehmer, den Landmaschinenfabrikanten Anton Zwisler, inthronisierten. Die Landeskinder im Korridor nannten ihren Kreispräsidenten König Anton I. oder »Anton der Sanftmütige«, Herrscher von Lindavien. Bis zum Ende »Lindaviens« gab es kein Parlament, doch Zwisler war den Ministerpräsidenten in den anderen Zonen gleichgestellt. Weil Lindau Lohn- und Einkommenssteuer sowie die Tabaksteuer behalten durfte und als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches auch Eigentümer einstiger Wehrmachtsobjekte war, konnte das »Königreich« all seine Kommunen entschulden und in Straßen, Schulen und andere Einrichtungen investieren. Kraft eigenen Rechts genehmigte Zwisler zudem die Spielbank auf der Insel, die der Stadt gute Einnahmen brachte (und es gewiss noch immer tut). Da Lindau auch bei der Versorgung mit Lebensmitteln autonom war, kamen die Menschen gut durch die elenden Nachkriegsjahre. Wegen der Obstbauern am See und der Milchbauern im Hinterland hieß die Gegend damals, keineswegs frei von Neid, »Fettfleck Deutschlands«. Das »Königreich« endete, als Frankreich ging und Bayern kam. Die Lindauer Zeitung titelte am 1. September 1955: »Ab heute wieder ganz bei Mutter Bavaria.«
Diese und ähnliche Geschichten erfährt man im Haus zum Cavazzen, dem vermeintlich schönsten Bürgerhaus am Bodensee. Der Barockbau am Markt war nach dem großen Stadtbrand 1728 errichtet worden. In nur zwei Jahren. Ein mehrstöckiges Wohn- und Handelshaus, die Fassade mit Wandbildern verziert. Aber nicht nur wegen der Schaufassade kommen bis heute Architekten und Bauleute hierher. Allein das Innenleben des elf Meter hohen Mansardendaches ist ein bautechnisches Meisterstück, das noch heute für Erstaunen sorgt: Es ist gänzlich frei von Stützen.
Mitte Mai endete die sieben Jahre währende Restaurierung. Das dort logierende Heimatmuseum öffnete zwei Tage seine Pforten unentgeltlich, und auf dem Platz davor gab es »La Festa«, weshalb die Einladung zum Eröffnungswochenende mit Museum, Kunst und Genuss überschrieben war. Der Andrang war riesig, weshalb nur schubweise die Neugierigen auf den Dachboden gelassen werden konnten. Von den Ausstellungen in den Etagen darunter wäre jede einzelne wert zu erwähnen, nur zwei will ich nennen. Zum einen die fotografische und filmische Dokumentation der aufwendigen Sanierung mit großen Porträts von Bauarbeitern und Restaurateuren. Solche Aufmerksamkeit erfahren Werktätige hierzulande und heutzutage eher selten.
Zum anderen die kurzweilig aufbereitete Stadtgeschichte, für die Kinder verständlich und für die Erwachsenen informativ. Die Videoprojektion lief über die ganze Wand, es donnerten die Kanonenkugeln in die Stadt, knisternd fraß sich Feuer von Haus um Haus. Selbst vor der Nazizeit drückte man sich nicht, der didaktische Kunstgriff genial: Irgendwann, so um 1900, machten die Macher einen Sprung in die Zukunft und – »oh, da haben wir die Uhr zu früh angehalten« – landeten bei 1933. Ein paar Bilder, ein paar Sätze. Dann eilte man weiter, denn nebenan war »Lindau unterm Hakenkreuz. Ein NS-Musterstädtchen?« zu besichtigen. Auffälliges Objekt weniger das relativierende Fragezeichen, sondern der Torso einer Bronzefigur, unschwer durch Uniform und Trommel als »Pimpf« zu erkennen. Sie krönte den »Hitler-Jugend-Brunnen« bis 1997 – erst sechzig Jahre nach ihrer Enthüllung also wurde das Nazisymbol vom Sockel geholt. Lindau, das erfährt man ebenfalls, bekam den ersten Nazioberbürgermeister in Bayern. Der seit 1924 amtierende Siebert trat 1931 zur NSDAP über, zwei Jahre später wurde er Bayerns MP, was er bis 1942, bis zu seinem Tod, auch blieb. Eine hakenkreuzverzierte »Ehren-Tafel der alten Pg. der NSDAP Ortsgruppe Lindau« zeigt die Passbilder der über zweihundert Männer und Frauen, die dieser 1922 gegründeten Ortsgruppe angehörten. Kommentartext: »Nach dem Krieg werden sie mehrheitlich als ›Mitläufer‹ oder ›minderbelastet‹ freigesprochen.«
Regte sich vielleicht auch Widerstand? Gab es Antifaschisten, die sich politisch widersetzten, oder Menschen, die aus rassistischen Gründen ins Lager gesperrt wurden? Darüber liest man nur andeutungsweise etwas. Doch immerhin: Man bekennt sich wenigstens offen zu dieser unseligen Vergangenheit, verdrängt sie nicht, und räumt sogar ein, dass Lindau damals auch von der Nazidiktatur profitierte. »Kraft durch Freude« habe seit Mitte der dreißiger Jahre »zahllose Gäste« in die Stadt gebracht. »Das NS-Regime inszeniert die Ferieninsel und ihre idyllische Umgebung als Idealbild des guten Lebens im ›Dritten Reich‹. Zugleich aber ist Lindau Schauplatz von Ausgrenzung und Gewalt gegen Menschen, die nicht zur ›Volksgemeinschaft‹ gehören.« Naja, etwas präziser hätte man es gern schon erfahren. Im Publikum, das sich durch die Gänge und Räume schob, waren viele Menschen, deren auswärtige Geburt allein schon durch die Hautfarbe ausgewiesen war. Jeder Vierte in der Stadt, die inzwischen etwa fünfundzwanzigtausend Köpfe zählt, hat einen Migrationshintergrund; der Ausländeranteil liegt mit fünfzehn Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Ähnlich bunt auch der dreißigköpfige Stadtrat, in welchem Vertreter von elf Listenvereinigungen und Parteien sitzen. Die kleinste Vertretung ist die der AfD mit nur einem Sitz …
Zwei Tage herrschte Trubel auf dem Markt und auf der Insel. Wem es zu bunt oder zu laut wurde, nahm den Dampfer und fuhr in zwanzig Minuten hinüber nach Bregenz, passierte die Hafeneinfahrt mit dem einzigen Leuchtturm Bayerns, dem natürlich südlichsten von ganz Deutschland. Auf dem anderen Sockel thront seit 1856 ein Löwe aus Sandstein. Weil es angeblich irgendwelche Honorarstreitigkeiten mit Bayern gab, zeigt seine Hinterfront demonstrativ nach München, erzählt die Fama. Aber irgendwohin muss sie ja zeigen. Ohne Allerwertesten kein Löwe, und ohne Löwe und Leuchtturm nicht die schönste Hafeneinfahrt am Bodensee, das Wahrzeichen Lindenaus. Der Pegel des Sees war merklich gefallen, unschwer erkennbar an der früheren Wasserlinie am Gemäuer. Doch gemach, gemach: 1858 lag der Pegel schon einmal 83 Zentimeter unter dem heute niedrigen. Auch wenn schon wieder die Kassandras in den Medien klagen – der Bodensee bleibt uns vermutlich erhalten.
Die Insel verließen wir zu Fuß über eine Brücke, deren Zugang von gepflegten Grünanlagen gesäumt wurde. Links neben der Straße stand eine kunstgeschmiedete Gitterwand unter Bäumen und hinter Blumenrabatten. Auf einer Tafel erfuhr man, dass es sich um ein Kunstwerk handelt, welches den deutschen Pavillon auf der Weltausstellung 1958 in Brüssel schmückte und zwei Jahre später von der Stadt Lindau erworben wurde. »Das imposante Gitter ist das Werk von Prof. Fritz Kühn (1910-1967), einem international renommierten Metallkünstler und experimentellen Universalisten aus Ost-Berlin.«
Aha, unserem Fritz Kühn, von dem unter anderem das A-Portal der Berliner Stadtbibliothek und der Schwebende Ring auf dem Strausberger Platz stammen, nicht zu vergessen das Tor an der Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde. Die Welt ist eben ein Dorf. Selbst Berliner haben also ihren Teil am Fettfleck Deutschlands.