Öffentliche Zwiegespräche dienen der Erkundung von Charakter und Intellekt interessanter Zeitgenossen. Zumindest waren sie ursprünglich so angelegt, als die Talkshows vor Jahrzehnten in Mode kamen. Die Forschungsmethode verschliss nicht nur durch ihren inflationären Gebrauch. Sie geriet zunehmend zum medialen Basar, auf dem Bücher, Schallplatten, Filme oder andere kulturelle Dienstleistungen beworben wurden. Die immer gleichen Gestalten erzählten ihre längst bekannten Geschichten und garnierten sie mit Werbesprech. Die Langeweile wurde aber auch von den Interviewern provoziert, die sich sklavisch an die von Redakteuren fixierten Fahrpläne hielten (und halten), welche als Kartenblock auf ihren Knien ruhten. (Unlängst sah ich auf YouTube ein Zweistunden-Gespräch mit einem souveränen Ex-Bundeskanzler, bei dem vom ein wenig hibbelig wirkenden, irgendwie unsicheren Fragesteller selbst die abschließende Lobhudelei abgelesen wurde. Das erinnerte mich fatal an einen DDR-Witz über die Unfähigkeit zur freien Rede unserer Oberen, dessen Pointe im Ablesen des Tagesgrußes oder ähnlich Simplem bestand.)
Die Kunst der Unterhaltung besteht jedoch nicht im Abfragen von Lebensstationen (die findet man auch im Internet), sondern darin, den Zuhörern und -schauern das Gefühl zu geben, dass genau jene Fragen gestellt würden, die man selber gestellt hätte, sofern man denn privat der Frau oder dem Mann gegenübersäße. Ein guter Interviewer ist in erster Linie ein guter Stellvertreter, eine gute Moderatorin eine gute Verwalterin fremder Neugier. Das A und O für ein gewinnbringendes Gespräch ist das Interesse füreinander. Fehlende Entdeckerfreude kann nicht durch noch so geistreiche Aperçus oder Witzchen kompensiert werden. Miteinander reden ist wahrlich eine Kunstfertigkeit, die von immer weniger Menschen beherrscht wird. Es fehlen die Geduld, den Befragten ausreden zu lassen, und diesem damit der Raum, einen Gedanken zu entwickeln. Abwesend auch die Toleranz, eine Antwort einfach stehen zu lassen, selbst wenn man anderer Meinung ist.
Einer der wenigen, der die Meisterschaft des Dialogs beherrscht, ist Paul Werner Wagner, ein studierter Kultur- und Literaturwissenschaftler aus Berlin und begnadeter Schachspieler. (Deshalb hat er auch den Vorsitz der Emanuel Lasker Gesellschaft.) Der Mittsiebziger führt mehr als die Hälfte seines Lebens Gespräche mit Prominenten auf Bühnen, er hat Reihen kreiert und parliert regelmäßig in Kinos und Kulturhäusern vornehmlich im Osten Deutschlands. Von dort kamen (und kommen) oft auch seine Dialogpartner.
Das ist die eine Hälfte der Antwort auf die Frage, warum die Friedrich-Ebert-Stiftung in Sachsen-Anhalt und die dortige Landeszentrale für politische Bildung die Herausgabe einer Sammlung von Wagners Gesprächen protegierte. Die andere Hälfte der Antwort: Einige kluge Köpfe in diesen in Magdeburg ansässigen Institutionen hatten erkannt, dass hier einzigartige zeithistorische Quellen vorliegen, Zeugnisse von beachtlichem Wert. Sie dokumentieren nicht nur bewegte, oft dramatische Lebensläufe, sondern das zwanzigste Jahrhundert schlechthin – insbesondere deutsch-deutsche Geschichte inklusive ihres Endes 1990. Die Unwiederbringlichkeit des Gesagten ist nicht nur der Tatsache geschuldet, dass die meisten der in diesem dicken Band versammelten dreizehn Gesprächspartner inzwischen nicht mehr sind. Es sind dort Urteile etwa über Kunst und Kultur, über Politik und Politiker enthalten, die Allgemeingültigkeit besitzen und darum aktuell sind und bleiben.
Der Philosoph und Liedermacher Hans-Eckardt Wenzel erklärt in seinem Vorwort Wagners Gesprächskunst, die solches möglich machte: »An keiner Stelle dünkt er sich klüger als sein Gegenüber. Seine Neugier an den Tatsachen treibt ihn an.«
Wagners Partner sind Maler, Politiker, Musiker, Verleger, Regisseure, Schauspieler, Philosophen, Bildhauer, es ist – bzw. war – die erste Reihe in ihrem Metier: Hans Bentzien, Benno Besson, Jürgen Böttcher (d. i. Strawalde), Wieland Förster, Frank Hörnigk, Gustav Just, Manfred Karge, Wolfgang Leonhard, Peter Ruben, Kurt Sanderling, Kurt Schwaen, Hermann Weber und Gerhard Wolf. Vieles von dem, was sie zu berichten wussten, was ihnen PWW also zu entlocken vermochte, widerspricht den gängigen Narrativen. Oder wie Wenzel es hintergründig formuliert: »Diese Interviews wollen keine Überzeugungsarbeit leisten, sie wollen Spuren legen, Informationen als Kassiber für die Späteren, falls sie Wahrheiten finden wollen und den Legenden der Sieger keinen Glauben mehr schenken.« Die Interviews sollen der Geschichtsverdrehung – Wenzel nennt es »geschichtliche Arroganz« – etwas entgegensetzen. Allerdings schwingt, nicht unbegründet, auch eine gewisse Skepsis mit. »Freilich werden die, die alles schon wissen oder glauben alles zu wissen, die Texte nicht lesen.«
Das ist nicht ausgemacht. Natürlich stehen ganz allgemein Schriften heute nicht hoch im Kurs. Zum einen, weil es davon zu viele gibt und eine Übersättigung nicht zu übersehen ist. Zum anderen, weil Lesen Arbeit bedeutet. Und diese ist zweifellos gegenüber dem Konsum leichter Kost heutzutage erkennbar im Nachteil. Das aber muss nicht immer so bleiben. Geschichte ist nicht nur der stete Aufstieg, sondern auch eine Pendelbewegung. Mal schwingt die Entwicklung in die eine, mal in die andere Richtung. Dass die Leseunlust gegenwärtig tendenziell zunimmt, bedeutet nicht zwingend, dass dies immer so weitergehen wird – das Pendel kann auch mal wieder zurückschlagen. Irgendwann. Und vielleicht rückt dann auch manch Journalist oder Schriftsteller von der heute durchaus üblichen Praxis ab, die Karl Valentin mit einem kurzen Wortwechsel beschrieb: »Was lesen Sie denn?« – »Ich lese Bücher, die ich mir selber schreibe.«
Wagners gesammelte Gespräche sind allen Interviewern zu empfehlen, damit sie etwas lernen. Und allen »normalen« Leserinnen und Lesern, die sich unterhalten und etwas Neues erfahren wollen, obgleich es doch aus der Vergangenheit kommt.
Paul Werner Wagner (Hrsg.): Vom Morgenrot zum Abendlicht. Was zu bedenken bleibt – Dreizehn Gespräche zu Kunst und Kulturpolitik in der DDR, Verlag am Park in der edition ost, 370 S., 20 €.