Vor einigen Jahren erhielt ich in Paris einen Brief. Der Absender schrieb mir, sein Urgroßvater Icek Motel Elfenbejm habe zahlreiche Kinder gehabt. Eine seiner Töchter, Bluma, sei mit ihrem Mann Moszek Tarnegul, wie sie selbst aus Nowy Dwor in Polen gebürtig, und ihren sechs Kindern, zwischen 1910 und 1919 ebenfalls in Polen geboren, wohl in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts nach Paris gekommen. Eines dieser Kinder, Rivka, die sich fortan Régine nannte, habe einen Herrn Kelter geheiratet und in der Rue du Faubourg St. Antoine gewohnt, da, wo bis vor wenigen Jahren Schreiner, Kunsttischler und Polsterer ihre Werkstätten hatten. Ob ich vielleicht dieser Monsieur Kelter sei oder mit ihm, Sohn oder Cousin, verwandt? Ich sei der einzige mit dem Namen Kelter im dicken Pariser Telefonbuch.
Mit einem Kelter aus Polen verwandt? Ich? Mir fiel wieder ein, was ich längst vergessen hatte, dass mir der estnische Autor Jan Kross einmal gesagt hatte, es sei schon merkwürdig, er habe einer seiner Romanfiguren meinen Familiennamen gegeben, auf den er in polnischen oder litauischen Archiven gestoßen war. Ob ich einen Zusammenhang sähe? Ich sah ihn nicht. Entfernt oder entferntest verwandte jüdisch-polnische Vettern und Kusinen väterlicherseits? Ich war überrascht. Hatte das niemand gewusst? Nicht wissen wollen? Hatte meine Mutter nicht erzählt, mein Vater habe einst alle Familiendokumente vernichtet? Alter Kram. Mein Vater gehörte zu der Generation, die das Neue statt des Alten wollte. Dass die Familie meiner Mutter »verjudet« war, wussten wir, ohne dass man der Sache, an der man sich zu manchen Zeiten die Finger hätte verbrennen können, je auf den Grund gegangen war.
Der Name Kelter ist selten. Seine Träger stammen aus dem Rheingau, dem Saarland, Nordfrankreich, und ihre Ahnen waren im Weinbau tätig, sie kelterten Wein. Aber Wein kelternde Juden? In Polen? Zunächst belehrte mich das »Jiddische Wörterbuch« von 1962 partiell eines Besseren: kelter stand da für den deutschen Namen Kelter, mittelhochdeutsch kelter, althochdeutsch kelk(e)tra, von lateinisch calcare, »mit der Ferse treten«. Er bedeutet im Jiddischen nichts anderes als im Deutschen. Und im Jüdischen Archiv in Paris fand ich den lateinischen, deutschen, jiddischen Namen dann auch in hebräischer Schrift. Kein Zweifel möglich.
Gleichwohl: Weinkelterer im Saarland, den Rheinlanden, die ihren Namen von ihrer Tätigkeit herleiten, das geht. Juden dagegen, die in Polen Wein keltern und davon ihren Namen ableiten? Das schien nicht aufzugehen. Also musste ich, bevor ich versuchen würde, mich an die Fersen jenes Monsieur Kelter aus der Rue du Faubourg St. Antoine, wo man den plötzlich hohen Himmel über der Bastille sehen kann, heften würde, der dieses Hühnchen, Tarnegul im Jiddischen, geehelicht haben sollte, doch noch ein paar prinzipielle historische Erkundigungen anstellen Die da unter dem Kelter-Namen in den zwanziger Jahren aus dem nunmehr nicht mehr russischen, deutschen, österreichischen Polen mit Tausenden anderer in einer neuerlichen Migrationswelle ins Einwanderungsland Frankreich gekommen waren, hatten wohl keine Erinnerung mehr an ihre ursprüngliche ethnische Herkunft, waren sich wahrscheinlich allein ihrer in Jahrhunderten zugewachsenen polnisch-jüdischen Identität bewusst. Voraussetzung jeglicher, noch so alter genealogischer Verwandtschaft zwischen Trauben kelternden Franken und jüdisch-polnischen Stettl-Bewohnern war jedoch die Beantwortung einiger grundsätzlicher Fragen: Haben Juden je und wann Weinberge besessen oder waren an der Weinproduktion beteiligt? Durften sie überhaupt – und wenn ja, wann? – Grund und Boden besitzen? Landbesitz, eine der Säulen politischer Macht, war ihnen in den christlichen wie muslimischen Staaten des Mittelealters verboten, weshalb sie, wie wir wissen, in wissenschaftliche, künstlerische und Geldberufe auswichen oder Krämer und Hausierer waren. Und schließlich: Gab es in Polen Weinbau?
Die letzte Frage kann ich nicht beantworten. Der Name Kelter, so habe ich herausgefunden, ist seit dem 9. Jahrhundert belegt. Und das ergibt Sinn. Juden kamen in der Spätzeit der Antike aus Italien nach Mitteleuropa, ihr Zentrum, die Wiege der Aschkenasim, der späteren osteuropäischen Juden, befand sich in einem Raum zwischen Troyes, Straßburg, Speyer, Mainz und Köln. Dass sie städtische Siedlungen ansteuerten, erstaunt nicht, hier waren sie unter Glaubensgenossen und etwelchen Pressionen weniger schutzlos ausgesetzt, auch wenn der Unterschied zwischen Stadt und Land im frühen Mittelalter weniger stark ausgeprägt war als in der Antike oder in späteren Zeiten.
Genau dieser letzte Umstand bietet unter anderen auch eine Erklärung für die erstaunlichste Entdeckung, die ich gemacht habe. Viele zu ihrer Zeit bekannte Rabbiner und Schriftgelehrte, unter ihnen der bis in unsere Tage berühmte Salomon ben Isaac, Rashi genannt, der im 11. Jahrhundert in Troyes die eigenständige aschkenasische Auslegung der Thora und des Talmuds begründete, besaßen – Weinberge! Vielleicht taten sie es ihren christlichen Kollegen gleich – noch im 20. Jahrhundert bekam im Rheinland der Erstgeborene das Land, der zweite wurde Pfarrer und erbte einen Weinberg –, auf jeden Fall berichtet die Geschichte der Aschkenasim, große Rabbiner des 10. und 11. Jahrhunderts hätten Weinberge bewirtschaftet, um finanziell von ihrer Gemeinde unabhängig zu sein. Zu dieser frühen Zeit also durften Juden offenkundig Landbesitzer sein. Und die jüdischen Kelterer konnten offenbar Wein keltern und von ihrem Beruf ihren Namen ableiten.
Meine spekulative These, für die ich keinen gesicherten historischen Beleg beibringen kann, geht nun so. Der erste Kreuzzug, der 1096 begann und die ersten großen antijüdischen Pogrome zur Folge hatte, und vielleicht noch der zweite, der 1147 einsetzte, bewog die Kelters wie viele andere ihrer Glaubensbrüder, nach Osten zu ziehen, wo sie von den dortigen Landesherren ihrer zivilisatorischen Kenntnisse wegen (zunächst) gerne aufgenommen wurden, bis im 13. Jahrhundert mit der deutschen Landnahme und »Kolonisierung« in Polen auch die Judenverfolgungen importiert wurden. Der große Teil des Kelterschen Clans, so sage ich mir, ist nach Osten gezogen, eine Minderheit ist in Franken geblieben, notwendigerweise konvertiert, und hat mit den Jahrhunderten die Erinnerung an die ausgezogenen Cousins und Cousinen vollständig vergessen.
Oder aber es verhält sich gänzlich anders. Die Hiergebliebenen wären schon immer die christlichen Berufskollegen derer gewesen, die da nun gegen Osten davonzogen, romanisierte Gallier oder Germanen, die vor den jüdischen Kelterern oder kurz nach ihnen angekommen waren oder auch schon immer hier gelebt hatten. Von diesen hätten sie den deutschen Namen, der ja auch ihren Beruf bezeichnete, dann einfach übernommen. Ob das möglich gewesen sein mag? Erlaubt oder gar angeordnet von einer weltlichen oder kirchlichen Autorität? In diesem Fall werden die Christen ihnen jedenfalls keine Träne nachgeweint haben, sondern waren froh, die Konkurrenten losgeworden zu sein.
Meinen Monsieur Kelter aus der Rue du Faubourg St. Antoine, der die Dame Tarnegul geehelicht haben soll, habe ich bis heute nicht gefunden. Auch im »Mémorial de la Shoah«, das Ende Januar 2005 eröffnet wurde, besaß man keine Spur von ihm, was darauf hindeuten könnte, dass ihm nach der Okkupation durch die Nazis nichts passiert ist, dass er vielleicht rechtzeitig emigrieren konnte. Ich war am ersten Tag dort, an dem die Gedenkstätte nach der feierlichen Einweihung durch den Präsidenten der Republik für das Publikum geöffnet war, und bin mit vielen anderen lange im dünnen Nieselregen angestanden. Im Inneren, zumal vor der großen Mauer mit den Namen der 70.000 aus Frankreich deportierten Juden, kam es zu bewegenden Szenen, als Menschen die Namen ihrer nach Jahren und Alphabet geordneten Angehörigen suchten, Blumen und Steine an der Mauer niederlegten und Kerzen entzündeten. »Es ist furchtbar, nicht wahr«, sagte eine Frau zu mir, »aber so ist es wenigstens gut«.
Unter dem Jahr 1942 fand ich dann hoch über meinem Kopf auf der Mauer auch zweimal meinen Namen: Fanni Kelter und Ignace Kelter, und ließ mir oben im vierten Stock von den Damen, die das Archiv betreuen, ihre von der französischen Polizei sorgfältig angelegten Deportationsdokumente fotokopieren. Fanni, am 20.9.1900 unter ihrem Mädchennamen Frallien in Warschau geboren, polnische Staatsangehörige, wohnhaft 6, rue Mercoeur im 11. Arrondissement, wurde im Lager Drancy interniert und von dort am 29. Juli 1942 mit dem Konvoi Nr. 12 nach Auschwitz deportiert, wo sie am 3. August umgekommen, also wohl direkt in die Gaskammer geschickt worden ist. Ihr Mann Ignace, am 2.12.1901 in Warschau geboren, polnischer Staatsangehöriger, von Beruf Polsterer oder Dekorateur oder beides, das französische »tapissier« lässt es offen, gemeldet an der Nr. 34, rue Faidherbe, ebenfalls im 11. Arrondissement nördlich der Bastille, wo sich seine Werkstatt befunden haben wird, wurde im Lager Pithiviers interniert, von wo er am 25. Juni 1942 mit dem Konvoi Nr. 4 nach Auschwitz deportiert wurde, wo er am 17. September umgekommen ist. Über Kinder oder andere Angehörige ist in den Auszügen nichts vermerkt.
Ich versuchte, mir ihr fünfzehn- oder zwanzigjähriges Leben in Paris vorzustellen. Sind sie an einem Sommerabend an der Place de la Bastille gewesen? Wie haben sie den Feierabend verbracht? Wie und wo haben sie die Sprache ihres Gastlands erlernt? Wie haben sie ihr Leben angeschaut, wovon geträumt? Und ihre letzte Fahrt, die sie voneinander getrennt wie Vieh unter Zwang in die Heimat, die sie vorsätzlich verlassen hatten, und in den raschen Tod geführt hat. Nein, all dies kann nicht in einem raschen Erinnern gelingen. Ich fühlte mich Fanni und Ignace auf emotionale Weise ganz seltsam über den Namen verbunden und gleichzeitig sehr fern.
Es ist grauenhaft, aber so ist es wenigstens ein wenig gut. Für uns, die Nachgekommenen, die Berührten, die Nichtbeteiligten.