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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die Kelters aus Paris

Vor eini­gen Jah­ren erhielt ich in Paris einen Brief. Der Absen­der schrieb mir, sein Urgroß­va­ter Icek Motel Elfen­bejm habe zahl­rei­che Kin­der gehabt. Eine sei­ner Töch­ter, Blu­ma, sei mit ihrem Mann Moszek Tar­ne­gul, wie sie selbst aus Nowy Dwor in Polen gebür­tig, und ihren sechs Kin­dern, zwi­schen 1910 und 1919 eben­falls in Polen gebo­ren, wohl in den zwan­zi­ger Jah­ren des letz­ten Jahr­hun­derts nach Paris gekom­men. Eines die­ser Kin­der, Riv­ka, die sich fort­an Régine nann­te, habe einen Herrn Kel­ter gehei­ra­tet und in der Rue du Fau­bourg St. Antoine gewohnt, da, wo bis vor weni­gen Jah­ren Schrei­ner, Kunst­tisch­ler und Pol­ste­rer ihre Werk­stät­ten hat­ten. Ob ich viel­leicht die­ser Mon­sieur Kel­ter sei oder mit ihm, Sohn oder Cou­sin, ver­wandt? Ich sei der ein­zi­ge mit dem Namen Kel­ter im dicken Pari­ser Telefonbuch.

Mit einem Kel­ter aus Polen ver­wandt? Ich? Mir fiel wie­der ein, was ich längst ver­ges­sen hat­te, dass mir der est­ni­sche Autor Jan Kross ein­mal gesagt hat­te, es sei schon merk­wür­dig, er habe einer sei­ner Roman­fi­gu­ren mei­nen Fami­li­en­na­men gege­ben, auf den er in pol­ni­schen oder litaui­schen Archi­ven gesto­ßen war. Ob ich einen Zusam­men­hang sähe? Ich sah ihn nicht. Ent­fernt oder ent­fern­test ver­wand­te jüdisch-pol­ni­sche Vet­tern und Kusi­nen väter­li­cher­seits? Ich war über­rascht. Hat­te das nie­mand gewusst? Nicht wis­sen wol­len? Hat­te mei­ne Mut­ter nicht erzählt, mein Vater habe einst alle Fami­li­en­do­ku­men­te ver­nich­tet? Alter Kram. Mein Vater gehör­te zu der Gene­ra­ti­on, die das Neue statt des Alten woll­te. Dass die Fami­lie mei­ner Mut­ter »ver­ju­det« war, wuss­ten wir, ohne dass man der Sache, an der man sich zu man­chen Zei­ten die Fin­ger hät­te ver­bren­nen kön­nen, je auf den Grund gegan­gen war.

Der Name Kel­ter ist sel­ten. Sei­ne Trä­ger stam­men aus dem Rhein­gau, dem Saar­land, Nord­frank­reich, und ihre Ahnen waren im Wein­bau tätig, sie kel­ter­ten Wein. Aber Wein kel­tern­de Juden? In Polen? Zunächst belehr­te mich das »Jid­di­sche Wör­ter­buch« von 1962 par­ti­ell eines Bes­se­ren: kel­ter stand da für den deut­schen Namen Kel­ter, mit­tel­hoch­deutsch kel­ter, alt­hoch­deutsch kelk(e)tra, von latei­nisch cal­ca­re, »mit der Fer­se tre­ten«. Er bedeu­tet im Jid­di­schen nichts ande­res als im Deut­schen. Und im Jüdi­schen Archiv in Paris fand ich den latei­ni­schen, deut­schen, jid­di­schen Namen dann auch in hebräi­scher Schrift. Kein Zwei­fel möglich.

Gleich­wohl: Wein­kel­te­rer im Saar­land, den Rhein­lan­den, die ihren Namen von ihrer Tätig­keit her­lei­ten, das geht. Juden dage­gen, die in Polen Wein kel­tern und davon ihren Namen ablei­ten? Das schien nicht auf­zu­ge­hen. Also muss­te ich, bevor ich ver­su­chen wür­de, mich an die Fer­sen jenes Mon­sieur Kel­ter aus der Rue du Fau­bourg St. Antoine, wo man den plötz­lich hohen Him­mel über der Bastil­le sehen kann, hef­ten wür­de, der die­ses Hühn­chen, Tar­ne­gul im Jid­di­schen, geehe­licht haben soll­te, doch noch ein paar prin­zi­pi­el­le histo­ri­sche Erkun­di­gun­gen anstel­len Die da unter dem Kel­ter-Namen in den zwan­zi­ger Jah­ren aus dem nun­mehr nicht mehr rus­si­schen, deut­schen, öster­rei­chi­schen Polen mit Tau­sen­den ande­rer in einer neu­er­li­chen Migra­ti­ons­wel­le ins Ein­wan­de­rungs­land Frank­reich gekom­men waren, hat­ten wohl kei­ne Erin­ne­rung mehr an ihre ursprüng­li­che eth­ni­sche Her­kunft, waren sich wahr­schein­lich allein ihrer in Jahr­hun­der­ten zuge­wach­se­nen pol­nisch-jüdi­schen Iden­ti­tät bewusst. Vor­aus­set­zung jeg­li­cher, noch so alter genea­lo­gi­scher Ver­wandt­schaft zwi­schen Trau­ben kel­tern­den Fran­ken und jüdisch-pol­ni­schen Stettl-Bewoh­nern war jedoch die Beant­wor­tung eini­ger grund­sätz­li­cher Fra­gen: Haben Juden je und wann Wein­ber­ge beses­sen oder waren an der Wein­pro­duk­ti­on betei­ligt? Durf­ten sie über­haupt – und wenn ja, wann? – Grund und Boden besit­zen? Land­be­sitz, eine der Säu­len poli­ti­scher Macht, war ihnen in den christ­li­chen wie mus­li­mi­schen Staa­ten des Mit­te­le­al­ters ver­bo­ten, wes­halb sie, wie wir wis­sen, in wis­sen­schaft­li­che, künst­le­ri­sche und Geld­be­ru­fe aus­wi­chen oder Krä­mer und Hau­sie­rer waren. Und schließ­lich: Gab es in Polen Weinbau?

Die letz­te Fra­ge kann ich nicht beant­wor­ten. Der Name Kel­ter, so habe ich her­aus­ge­fun­den, ist seit dem 9. Jahr­hun­dert belegt. Und das ergibt Sinn. Juden kamen in der Spät­zeit der Anti­ke aus Ita­li­en nach Mit­tel­eu­ro­pa, ihr Zen­trum, die Wie­ge der Asch­ke­na­sim, der spä­te­ren ost­eu­ro­päi­schen Juden, befand sich in einem Raum zwi­schen Troy­es, Straß­burg, Spey­er, Mainz und Köln. Dass sie städ­ti­sche Sied­lun­gen ansteu­er­ten, erstaunt nicht, hier waren sie unter Glau­bens­ge­nos­sen und etwel­chen Pres­sio­nen weni­ger schutz­los aus­ge­setzt, auch wenn der Unter­schied zwi­schen Stadt und Land im frü­hen Mit­tel­al­ter weni­ger stark aus­ge­prägt war als in der Anti­ke oder in spä­te­ren Zeiten.

Genau die­ser letz­te Umstand bie­tet unter ande­ren auch eine Erklä­rung für die erstaun­lich­ste Ent­deckung, die ich gemacht habe. Vie­le zu ihrer Zeit bekann­te Rab­bi­ner und Schrift­ge­lehr­te, unter ihnen der bis in unse­re Tage berühm­te Salo­mon ben Isaac, Rashi genannt, der im 11. Jahr­hun­dert in Troy­es die eigen­stän­di­ge asch­ke­na­si­sche Aus­le­gung der Tho­ra und des Tal­muds begrün­de­te, besa­ßen – Wein­ber­ge! Viel­leicht taten sie es ihren christ­li­chen Kol­le­gen gleich – noch im 20. Jahr­hun­dert bekam im Rhein­land der Erst­ge­bo­re­ne das Land, der zwei­te wur­de Pfar­rer und erb­te einen Wein­berg –, auf jeden Fall berich­tet die Geschich­te der Asch­ke­na­sim, gro­ße Rab­bi­ner des 10. und 11. Jahr­hun­derts hät­ten Wein­ber­ge bewirt­schaf­tet, um finan­zi­ell von ihrer Gemein­de unab­hän­gig zu sein. Zu die­ser frü­hen Zeit also durf­ten Juden offen­kun­dig Land­be­sit­zer sein. Und die jüdi­schen Kel­te­rer konn­ten offen­bar Wein kel­tern und von ihrem Beruf ihren Namen ableiten.

Mei­ne spe­ku­la­ti­ve The­se, für die ich kei­nen gesi­cher­ten histo­ri­schen Beleg bei­brin­gen kann, geht nun so. Der erste Kreuz­zug, der 1096 begann und die ersten gro­ßen anti­jü­di­schen Pogro­me zur Fol­ge hat­te, und viel­leicht noch der zwei­te, der 1147 ein­setz­te, bewog die Kel­ters wie vie­le ande­re ihrer Glau­bens­brü­der, nach Osten zu zie­hen, wo sie von den dor­ti­gen Lan­des­her­ren ihrer zivi­li­sa­to­ri­schen Kennt­nis­se wegen (zunächst) ger­ne auf­ge­nom­men wur­den, bis im 13. Jahr­hun­dert mit der deut­schen Land­nah­me und »Kolo­ni­sie­rung« in Polen auch die Juden­ver­fol­gun­gen impor­tiert wur­den. Der gro­ße Teil des Kel­t­erschen Clans, so sage ich mir, ist nach Osten gezo­gen, eine Min­der­heit ist in Fran­ken geblie­ben, not­wen­di­ger­wei­se kon­ver­tiert, und hat mit den Jahr­hun­der­ten die Erin­ne­rung an die aus­ge­zo­ge­nen Cou­sins und Cou­si­nen voll­stän­dig vergessen.

Oder aber es ver­hält sich gänz­lich anders. Die Hier­ge­blie­be­nen wären schon immer die christ­li­chen Berufs­kol­le­gen derer gewe­sen, die da nun gegen Osten davon­zo­gen, roma­ni­sier­te Gal­li­er oder Ger­ma­nen, die vor den jüdi­schen Kel­te­rern oder kurz nach ihnen ange­kom­men waren oder auch schon immer hier gelebt hat­ten. Von die­sen hät­ten sie den deut­schen Namen, der ja auch ihren Beruf bezeich­ne­te, dann ein­fach über­nom­men. Ob das mög­lich gewe­sen sein mag? Erlaubt oder gar ange­ord­net von einer welt­li­chen oder kirch­li­chen Auto­ri­tät? In die­sem Fall wer­den die Chri­sten ihnen jeden­falls kei­ne Trä­ne nach­ge­weint haben, son­dern waren froh, die Kon­kur­ren­ten los­ge­wor­den zu sein.

Mei­nen Mon­sieur Kel­ter aus der Rue du Fau­bourg St. Antoine, der die Dame Tar­ne­gul geehe­licht haben soll, habe ich bis heu­te nicht gefun­den. Auch im »Mémo­ri­al de la Sho­ah«, das Ende Janu­ar 2005 eröff­net wur­de, besaß man kei­ne Spur von ihm, was dar­auf hin­deu­ten könn­te, dass ihm nach der Okku­pa­ti­on durch die Nazis nichts pas­siert ist, dass er viel­leicht recht­zei­tig emi­grie­ren konn­te. Ich war am ersten Tag dort, an dem die Gedenk­stät­te nach der fei­er­li­chen Ein­wei­hung durch den Prä­si­den­ten der Repu­blik für das Publi­kum geöff­net war, und bin mit vie­len ande­ren lan­ge im dün­nen Nie­sel­re­gen ange­stan­den. Im Inne­ren, zumal vor der gro­ßen Mau­er mit den Namen der 70.000 aus Frank­reich depor­tier­ten Juden, kam es zu bewe­gen­den Sze­nen, als Men­schen die Namen ihrer nach Jah­ren und Alpha­bet geord­ne­ten Ange­hö­ri­gen such­ten, Blu­men und Stei­ne an der Mau­er nie­der­leg­ten und Ker­zen ent­zün­de­ten. »Es ist furcht­bar, nicht wahr«, sag­te eine Frau zu mir, »aber so ist es wenig­stens gut«.

Unter dem Jahr 1942 fand ich dann hoch über mei­nem Kopf auf der Mau­er auch zwei­mal mei­nen Namen: Fan­ni Kel­ter und Ignace Kel­ter, und ließ mir oben im vier­ten Stock von den Damen, die das Archiv betreu­en, ihre von der fran­zö­si­schen Poli­zei sorg­fäl­tig ange­leg­ten Depor­ta­ti­ons­do­ku­men­te foto­ko­pie­ren. Fan­ni, am 20.9.1900 unter ihrem Mäd­chen­na­men Fral­li­en in War­schau gebo­ren, pol­ni­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge, wohn­haft 6, rue Mer­co­eur im 11. Arron­dis­se­ment, wur­de im Lager Dran­cy inter­niert und von dort am 29. Juli 1942 mit dem Kon­voi Nr. 12 nach Ausch­witz depor­tiert, wo sie am 3. August umge­kom­men, also wohl direkt in die Gas­kam­mer geschickt wor­den ist. Ihr Mann Ignace, am 2.12.1901 in War­schau gebo­ren, pol­ni­scher Staats­an­ge­hö­ri­ger, von Beruf Pol­ste­rer oder Deko­ra­teur oder bei­des, das fran­zö­si­sche »tapis­sier« lässt es offen, gemel­det an der Nr. 34, rue Faid­her­be, eben­falls im 11. Arron­dis­se­ment nörd­lich der Bastil­le, wo sich sei­ne Werk­statt befun­den haben wird, wur­de im Lager Pithi­viers inter­niert, von wo er am 25. Juni 1942 mit dem Kon­voi Nr. 4 nach Ausch­witz depor­tiert wur­de, wo er am 17. Sep­tem­ber umge­kom­men ist. Über Kin­der oder ande­re Ange­hö­ri­ge ist in den Aus­zü­gen nichts vermerkt.

Ich ver­such­te, mir ihr fünf­zehn- oder zwan­zig­jäh­ri­ges Leben in Paris vor­zu­stel­len. Sind sie an einem Som­mer­abend an der Place de la Bastil­le gewe­sen? Wie haben sie den Fei­er­abend ver­bracht? Wie und wo haben sie die Spra­che ihres Gast­lands erlernt? Wie haben sie ihr Leben ange­schaut, wovon geträumt? Und ihre letz­te Fahrt, die sie von­ein­an­der getrennt wie Vieh unter Zwang in die Hei­mat, die sie vor­sätz­lich ver­las­sen hat­ten, und in den raschen Tod geführt hat. Nein, all dies kann nicht in einem raschen Erin­nern gelin­gen. Ich fühl­te mich Fan­ni und Ignace auf emo­tio­na­le Wei­se ganz selt­sam über den Namen ver­bun­den und gleich­zei­tig sehr fern.

Es ist grau­en­haft, aber so ist es wenig­stens ein wenig gut. Für uns, die Nach­ge­kom­me­nen, die Berühr­ten, die Nichtbeteiligten.