Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder sprach im Kontext der sich formierenden neuen Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD von der »letzten Patrone der Demokratie«. Wieder einmal eine für ihn typische Effektproduktion mit dem Ziel, die Titelschlagzeilen der Medien zu erobern? Wieder mal viel Lärm um nichts? Oder kann es sein, dass manche Spitzenpolitiker, unbewusst, seismographisch, Veränderungen im gesellschaftlichen Unbewussten vorwegnehmen, die den Schluss zulassen, dass sich etwas zusammenbraut in den Tiefen der Gesellschaft? Ist es irreal, dass sich diese Gesellschaft einer Wegscheide nähert, wo entschieden wird, inwieweit wieder einmal das Toxische zum offiziellen Programm erhoben wird? Wir sehen, dass die Erinnerung an die Zeit zwischen 1933 und 1945, in welcher sich der Faschismus völlig demaskierte, zu verblassen beginnt, so dass viele Menschen sich von neuem von den Masken der Faschisten blenden lassen. Warum lernen wir nicht nachhaltig aus diesem so umfassenden Zivilisationsbruch? Geschichte kann sich also wiederholen.
Den Psychoanalytiker Wilhelm Reich (1897-1957) beschäftigte diese Frage sein ganzes Berufsleben. Obwohl zeitweise Mitglied der KPD, befriedigten ihn die offiziellen Erklärungsmuster des »Vulgärmarxismus«, wie er es nannte, nicht, wonach faschistische Bewegungen immer nur der Wurmfortsatz des Großkapitals seien, ohne Eigenleben. Der Parteimarxismus erklärte den Faschismus einzig aus der ökonomischen Basis.
Reich irritierte vor allem, dass auch viele Arbeiter faschistisch wählten, ein Phänomen, das sich in unserer Zeit wiederholt. Reich nannte dies den Einbruch des Irrationalen in die Politik. So kam er zu der Schlussfolgerung, dass der ökonomistischen Erklärung noch der eigenständige »subjektive Faktor« hinzugefügt werden müsse. Es lässt sich rational nicht erklären, dass Menschen in bedrängenden wirtschaftlichen Verhältnissen eine Partei wie die AfD wählen, deren ökonomisches Programm eine noch schlimmere Neoliberalisierung der Gesellschaft anstrebt.
Das Irrationale ist Zeichen einer Lebenshaltung, die letztlich gegen sich selbst gerichtet ist. Es entsteht durch Ideologie, deren Zweck die Herrschaftssicherung der privilegierten Klasse einer Gesellschaft ist. Deshalb ist die Charakterstruktur eines Arbeiters, so Reich, immer widersprüchlich. Sie ist weder eindeutig revolutionär noch eindeutig reaktionär. Aus diesem Spannungsfeld sucht Reich einen Erklärungsansatz dafür, dass Revolutionen nie so recht eine nachhaltige Veränderung einer Gesellschaft bewirkten, sondern immer gefährdet waren, in ihr Gegenteil umzuschlagen.
Es geht also immer auch um die innere Revolution im Menschen selbst. Marx nannte dies die notwendige Emanzipation. Es bleibt das Ziel, dass der Mensch selbst sich zum Lenker seiner eigenen Geschichte aufschwingt. Letztlich läuft alles revolutionäre Bemühen auf die Verteidigung des Rechtes eines jeden Menschen auf Lebensglück im Diesseits hinaus, so Reich.
Warum also lassen sich Menschen ihre Ausbeutung im Kapitalismus gefallen, warum unterwerfen sie sich Diktatoren wie Hitler oder Stalin? Reich zufolge ist der Ausgangspunkt des inneren menschlichen Elends vor 5000 Jahren zu verorten. Dies ist der Beginn der autoritären Familienstruktur, des Patriarchats. Es ist zugleich der Beginn der gestörten Beziehung des Menschen zu Erotik, Sexualität und Geschlecht. Reich zufolge sind die Sexualunterdrückung und -verdrängung und deren krankhafte Folgen der eigentliche Ausgangspunkt der menschlichen Misere, die letztlich zu einer autoritären Strukturierung führte. Es besteht eine Wechselwirkung zwischen autoritärem Staat und autoritärer Familie, beide bedingen einander.
Nun könnte man einwenden, dass der zentrale Erklärungsansatz von Reich, warum Menschen gegen sich selbst agieren – die Sexualhemmung –, für unsere Zeit schon längst überwunden ist. Ist das so? Reich versuchte, das gute, Leben zu ergründen. Er sah es dort, wo der Mensch ein Verantwortungsgefühl für die Welt entwickelt sowie in der Entfesselung des inneren Lebendig seins. Wir leben aber in keiner lebendig machenden Kultur. Es ist eine Kultur, die das mechanistische Leben hervorbringt. Es ist das Denken in »Entweder-oder«-Kategorien, das unseren Alltag bestimmt, eine Lebensform der Abtrennung.
Der Geist des Kapitalismus erzeugt den Warenfetischismus, dieser eine Konsumkultur, das heißt, wir begehren vor allem tote Dinge. Wir sind also gefährdet, die Vorstellung von Lebendigkeit, und deren Bedrängtsein im bürgerlichen Staat zu verlieren. Die Folge ist der innere Tod, eine gesellschaftliche Aura ohne Empathie, Sensibilität und Rücksichtnahme. Reich nennt es die »seelische Pest« in einer Gesellschaft, die das Lebendige verbissen bekämpft, deren extremste Form der Faschismus ist.
Es geht also um Bewusstseinsumwälzungen, die uns ermöglichen, lebendig zu denken, und eine lebendige Kultur zu etablieren. Die Gretchenfrage in diesem Zusammenhang lautet: Wie hältst du es, Mensch, mit der Mannigfaltigkeit des Lebendigen, mit den Widersprüchen? Betrachten wir sie als Polarität, also einander ergänzend, die ein zusammengehöriges Ganzes bilden? Oder wählen wir den mechanistischen Denkweg, der von einem Dualismus der Widersprüche ausgeht, das heißt, Widersprüche, die von Anfang an entzweit, ohne jeden inneren Zusammenhang nebeneinander existieren.
Das allgegenwärtige Joch, das uns zu Abhängigen und Vollzugsorganen des Willens der Macht deformiert, zwingt uns in das Zwangskorsett der Normalität. Dies bedeutet, dass wir unser Innenleben bewerten in »Erwünscht« und »Unerwünscht«, mit der Konsequenz eines Lebens in einem inneren Widerstreit mit sich selbst und eines womöglich lebenslangen Kampfes gegen sich selbst.
Wenn wir »Lebendig sein« als ein Leben im Spannungsfeld der Widersprüche verstehen, so müssen wir einräumen, dass die meisten Menschen nicht diese integrierende Lebensform entwickeln. Sie verfehlen nach wie vor die Lebendigkeit des Erotischen, weil sie die in uns allen angelegten Pole Männlich-Weiblich, oder Hetero-Homo in sich selbst nicht einfügen. Im Gegenteil, die Furcht, im öffentlichen Raum Homoerotisches von sich preiszugeben, oder gar das Gegengeschlechtliche nach außen spürbar sein zu lassen, führt letztlich zu einer strukturellen Gewalt gegen sich selbst, zur Abtrennung, um sich vor möglichen Schmähungen und Abwertungen zu schützen. Dies fördert die autoritäre Durchdringung der Gesellschaft und macht die Menschen gefügig im Sinne der vorgegebenen Normsetzung. Schließlich wird der Mensch, der das Unwillkommene und Angst auslösende sichtbar macht, als Störenfried gebrandmarkt, der eigentlich entfernt werden müsste. So öffnen sich, leise und zunächst unmerklich, die Tore zur Faschisierung der Gesellschaft, die immer die Repression gegen das erotische Leben in sich trägt.
Nach 1945 war eine der Lehren aus der Katastrophe, dass die Deutschen in ihrer großen Mehrheit Anteil erhalten sollten an den Wohlstandszuwächsen in der Gesellschaft, damit sie der Demokratie gewogen bleiben. Diese Lehre wurde mit der neoliberalen Umwälzung über den Haufen geworfen. Die Einhegung des Kapitalismus in den ersten 30 Jahren des westdeutschen Staates, die sich in einer gewissen Verteilungsgerechtigkeit äußerte, wurde im Rahmen der neoliberalen Umwälzung als Hemmschuh für die Bereicherungssucht der wenigen betrachtet, und schließlich entsorgt. Die Konsequenz daraus ist die Etablierung einer Egokultur und das Recht des Stärkeren als neues Grundprinzip. Daraus entwickelte sich eine Verwilderung der Umgangsformen im sozialen Raum. Die Machtübernahme von Leuten wie Trump, Putin und ihresgleichen konnte nur geschehen, weil die Einhegung des Kapitalismus schon Jahrzehnte vorher aufgegeben wurde. Die Neoliberalisierung unserer Gesellschaft erzeugte die marktkonforme Demokratie, die eben auch Spiegelbild der vorherrschenden autoritären Charakterstruktur in diesem Land ist. Reich erkennt im autoritären Charakter die Bereitschaft zur freiwilligen Unterordnung sowie eine allgemeine Denkhemmung und Kritikunfähigkeit. Dies untergräbt die Realitätsfähigkeit. Die bürgerliche psychische Struktur sei grundsätzlich autoritätsgebunden, so dass das Abdriften in den Faschismus als Möglichkeit systembedingt angelegt ist.
Die Erkenntnisse von Reich sind hilfreich, um zu verstehen, wie es möglich ist, dass Parteien wie die AfD, die so sehr den wirtschaftlichen Interessen einer schmalen Schicht verpflichtet sind, dennoch zu Massenparteien werden können. Es ist also »der autoritäre Sound« als Erklärungsansatz. Wir müssen einräumen, dass der emanzipatorische und die Diversität der Menschen bejahende Weg, der gewisse Erfolgserlebnisse verzeichnen konnte, letztlich von nicht wenigen in der Gesellschaft nicht mitgegangen wird. So sehen wir nun, wenn sich die Rhetorik vom Westen als der »freien Welt« oder dem Ort der angeblich individualistischen Lebensform zu entzaubern beginnt, dass sich an der autoritätshörigen und unfreien Charakterstruktur von so vielen durch die Jahrzehnte hindurch offensichtlich nicht viel geändert hat. Diese Struktur erzeugt dieses Bedürfnis nach Homogenität in der Gesellschaft, sowie den Unwillen, Verschiedenheit und Widerspruch zu bejahen. Jedoch gehört deren Bejahung zum Wesensmerkmal von Demokratie.
Das Alarmierende am Zustand unserer Gesellschaft ist jedoch, dass auch die Säulen unseres Demokratiebaus, zum Beispiel führende Medienvertreter, eine seltsame Diskrepanz aufweisen. Als Beispiel nenne ich Caren Miosga. In einer ihrer letzten Sendungen, als Gast Minister Pistorius, ging es vor allem um das Friedensmanifest von SPD-Linken, ein Appell zur Deeskalation im Verhältnis zu Russland. Das Papier setzt einen klaren Kontrapunkt zur allgemeinen Bedrohungspsychose. Demokratisches Bewusstsein hieße dann, dankbar zu sein für diesen Widerspruch, um durch das Zulassen von These und Antithese zur Synthese, also zu angemessenen Schlussfolgerungen zu gelangen. Dies geschah eben nicht. Frau Miosga, in ihrer Rolle als Inquisitorin, ließ ihrem Ärger über die bloße Existenz dieses Papiers freien Lauf. Dieses von ihr gezeigte Verhalten offenbart eine schleichende Aushöhlung der Essenz der Demokratie von innen.
Die jetzige Koalition als »letzte Patrone der Demokratie«? Das Ausmaß der Unzufriedenheit in der Bevölkerung über die Vernachlässigung des Allgemeinwohls als Folge der neoliberalen Ideologie ist enorm. Es keimt bei manchen der Wunsch auf nach etwas ganz anderem, was es auch sei. Dieser Extremismus ist in der Tat unheimlich, verbunden mit der fehlenden Wertschätzung für demokratische und freiheitliche Werte.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass diese bürgerliche Demokratie gefährdet ist, abzudriften. Reich empfiehlt, die praktischen Lebensfragen der Menschen ernsthaft zu lösen. Es bleibt die Hoffnung, dass dies geschieht.