Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Die letzte Patrone?

Der baye­ri­sche Mini­ster­prä­si­dent Mar­kus Söder sprach im Kon­text der sich for­mie­ren­den neu­en Bun­des­re­gie­rung aus CDU/​CSU und SPD von der »letz­ten Patro­ne der Demo­kra­tie«. Wie­der ein­mal eine für ihn typi­sche Effekt­pro­duk­ti­on mit dem Ziel, die Titel­schlag­zei­len der Medi­en zu erobern? Wie­der mal viel Lärm um nichts? Oder kann es sein, dass man­che Spit­zen­po­li­ti­ker, unbe­wusst, seis­mo­gra­phisch, Ver­än­de­run­gen im gesell­schaft­li­chen Unbe­wuss­ten vor­weg­neh­men, die den Schluss zulas­sen, dass sich etwas zusam­men­braut in den Tie­fen der Gesell­schaft? Ist es irre­al, dass sich die­se Gesell­schaft einer Weg­schei­de nähert, wo ent­schie­den wird, inwie­weit wie­der ein­mal das Toxi­sche zum offi­zi­el­len Pro­gramm erho­ben wird? Wir sehen, dass die Erin­ne­rung an die Zeit zwi­schen 1933 und 1945, in wel­cher sich der Faschis­mus völ­lig demas­kier­te, zu ver­blas­sen beginnt, so dass vie­le Men­schen sich von neu­em von den Mas­ken der Faschi­sten blen­den las­sen. War­um ler­nen wir nicht nach­hal­tig aus die­sem so umfas­sen­den Zivi­li­sa­ti­ons­bruch? Geschich­te kann sich also wiederholen.

Den Psy­cho­ana­ly­ti­ker Wil­helm Reich (1897-1957) beschäf­tig­te die­se Fra­ge sein gan­zes Berufs­le­ben. Obwohl zeit­wei­se Mit­glied der KPD, befrie­dig­ten ihn die offi­zi­el­len Erklä­rungs­mu­ster des »Vul­gär­mar­xis­mus«, wie er es nann­te, nicht, wonach faschi­sti­sche Bewe­gun­gen immer nur der Wurm­fort­satz des Groß­ka­pi­tals sei­en, ohne Eigen­le­ben. Der Par­tei­mar­xis­mus erklär­te den Faschis­mus ein­zig aus der öko­no­mi­schen Basis.

Reich irri­tier­te vor allem, dass auch vie­le Arbei­ter faschi­stisch wähl­ten, ein Phä­no­men, das sich in unse­rer Zeit wie­der­holt. Reich nann­te dies den Ein­bruch des Irra­tio­na­len in die Poli­tik. So kam er zu der Schluss­fol­ge­rung, dass der öko­no­mi­sti­schen Erklä­rung noch der eigen­stän­di­ge »sub­jek­ti­ve Fak­tor« hin­zu­ge­fügt wer­den müs­se. Es lässt sich ratio­nal nicht erklä­ren, dass Men­schen in bedrän­gen­den wirt­schaft­li­chen Ver­hält­nis­sen eine Par­tei wie die AfD wäh­len, deren öko­no­mi­sches Pro­gramm eine noch schlim­me­re Neo­li­be­ra­li­sie­rung der Gesell­schaft anstrebt.

Das Irra­tio­na­le ist Zei­chen einer Lebens­hal­tung, die letzt­lich gegen sich selbst gerich­tet ist. Es ent­steht durch Ideo­lo­gie, deren Zweck die Herr­schafts­si­che­rung der pri­vi­le­gier­ten Klas­se einer Gesell­schaft ist. Des­halb ist die Cha­rak­ter­struk­tur eines Arbei­ters, so Reich, immer wider­sprüch­lich. Sie ist weder ein­deu­tig revo­lu­tio­när noch ein­deu­tig reak­tio­när. Aus die­sem Span­nungs­feld sucht Reich einen Erklä­rungs­an­satz dafür, dass Revo­lu­tio­nen nie so recht eine nach­hal­ti­ge Ver­än­de­rung einer Gesell­schaft bewirk­ten, son­dern immer gefähr­det waren, in ihr Gegen­teil umzuschlagen.

Es geht also immer auch um die inne­re Revo­lu­ti­on im Men­schen selbst. Marx nann­te dies die not­wen­di­ge Eman­zi­pa­ti­on. Es bleibt das Ziel, dass der Mensch selbst sich zum Len­ker sei­ner eige­nen Geschich­te auf­schwingt. Letzt­lich läuft alles revo­lu­tio­nä­re Bemü­hen auf die Ver­tei­di­gung des Rech­tes eines jeden Men­schen auf Lebens­glück im Dies­seits hin­aus, so Reich.

War­um also las­sen sich Men­schen ihre Aus­beu­tung im Kapi­ta­lis­mus gefal­len, war­um unter­wer­fen sie sich Dik­ta­to­ren wie Hit­ler oder Sta­lin? Reich zufol­ge ist der Aus­gangs­punkt des inne­ren mensch­li­chen Elends vor 5000 Jah­ren zu ver­or­ten. Dies ist der Beginn der auto­ri­tä­ren Fami­li­en­struk­tur, des Patri­ar­chats. Es ist zugleich der Beginn der gestör­ten Bezie­hung des Men­schen zu Ero­tik, Sexua­li­tät und Geschlecht. Reich zufol­ge sind die Sexu­al­un­ter­drückung und -ver­drän­gung und deren krank­haf­te Fol­gen der eigent­li­che Aus­gangs­punkt der mensch­li­chen Mise­re, die letzt­lich zu einer auto­ri­tä­ren Struk­tu­rie­rung führ­te. Es besteht eine Wech­sel­wir­kung zwi­schen auto­ri­tä­rem Staat und auto­ri­tä­rer Fami­lie, bei­de bedin­gen einander.

Nun könn­te man ein­wen­den, dass der zen­tra­le Erklä­rungs­an­satz von Reich, war­um Men­schen gegen sich selbst agie­ren – die Sexu­al­hem­mung –, für unse­re Zeit schon längst über­wun­den ist. Ist das so? Reich ver­such­te, das gute, Leben zu ergrün­den. Er sah es dort, wo der Mensch ein Ver­ant­wor­tungs­ge­fühl für die Welt ent­wickelt sowie in der Ent­fes­se­lung des inne­ren Leben­dig seins. Wir leben aber in kei­ner leben­dig machen­den Kul­tur. Es ist eine Kul­tur, die das mecha­ni­sti­sche Leben her­vor­bringt. Es ist das Den­ken in »Entweder-oder«-Kategorien, das unse­ren All­tag bestimmt, eine Lebens­form der Abtrennung.

Der Geist des Kapi­ta­lis­mus erzeugt den Waren­fe­ti­schis­mus, die­ser eine Kon­sum­kul­tur, das heißt, wir begeh­ren vor allem tote Din­ge. Wir sind also gefähr­det, die Vor­stel­lung von Leben­dig­keit, und deren Bedräng­t­sein im bür­ger­li­chen Staat zu ver­lie­ren. Die Fol­ge ist der inne­re Tod, eine gesell­schaft­li­che Aura ohne Empa­thie, Sen­si­bi­li­tät und Rück­sicht­nah­me. Reich nennt es die »see­li­sche Pest« in einer Gesell­schaft, die das Leben­di­ge ver­bis­sen bekämpft, deren extrem­ste Form der Faschis­mus ist.

Es geht also um Bewusst­seins­um­wäl­zun­gen, die uns ermög­li­chen, leben­dig zu den­ken, und eine leben­di­ge Kul­tur zu eta­blie­ren. Die Gret­chen­fra­ge in die­sem Zusam­men­hang lau­tet: Wie hältst du es, Mensch, mit der Man­nig­fal­tig­keit des Leben­di­gen, mit den Wider­sprü­chen? Betrach­ten wir sie als Pola­ri­tät, also ein­an­der ergän­zend, die ein zusam­men­ge­hö­ri­ges Gan­zes bil­den? Oder wäh­len wir den mecha­ni­sti­schen Denk­weg, der von einem Dua­lis­mus der Wider­sprü­che aus­geht, das heißt, Wider­sprü­che, die von Anfang an ent­zweit, ohne jeden inne­ren Zusam­men­hang neben­ein­an­der existieren.

Das all­ge­gen­wär­ti­ge Joch, das uns zu Abhän­gi­gen und Voll­zugs­or­ga­nen des Wil­lens der Macht defor­miert, zwingt uns in das Zwangs­kor­sett der Nor­ma­li­tät. Dies bedeu­tet, dass wir unser Innen­le­ben bewer­ten in »Erwünscht« und »Uner­wünscht«, mit der Kon­se­quenz eines Lebens in einem inne­ren Wider­streit mit sich selbst und eines womög­lich lebens­lan­gen Kamp­fes gegen sich selbst.

Wenn wir »Leben­dig sein« als ein Leben im Span­nungs­feld der Wider­sprü­che ver­ste­hen, so müs­sen wir ein­räu­men, dass die mei­sten Men­schen nicht die­se inte­grie­ren­de Lebens­form ent­wickeln. Sie ver­feh­len nach wie vor die Leben­dig­keit des Ero­ti­schen, weil sie die in uns allen ange­leg­ten Pole Männ­lich-Weib­lich, oder Hete­ro-Homo in sich selbst nicht ein­fü­gen. Im Gegen­teil, die Furcht, im öffent­li­chen Raum Homo­ero­ti­sches von sich preis­zu­ge­ben, oder gar das Gegen­ge­schlecht­li­che nach außen spür­bar sein zu las­sen, führt letzt­lich zu einer struk­tu­rel­len Gewalt gegen sich selbst, zur Abtren­nung, um sich vor mög­li­chen Schmä­hun­gen und Abwer­tun­gen zu schüt­zen. Dies för­dert die auto­ri­tä­re Durch­drin­gung der Gesell­schaft und macht die Men­schen gefü­gig im Sin­ne der vor­ge­ge­be­nen Norm­set­zung. Schließ­lich wird der Mensch, der das Unwill­kom­me­ne und Angst aus­lö­sen­de sicht­bar macht, als Stö­ren­fried gebrand­markt, der eigent­lich ent­fernt wer­den müss­te. So öff­nen sich, lei­se und zunächst unmerk­lich, die Tore zur Faschi­sie­rung der Gesell­schaft, die immer die Repres­si­on gegen das ero­ti­sche Leben in sich trägt.

Nach 1945 war eine der Leh­ren aus der Kata­stro­phe, dass die Deut­schen in ihrer gro­ßen Mehr­heit Anteil erhal­ten soll­ten an den Wohl­stands­zu­wäch­sen in der Gesell­schaft, damit sie der Demo­kra­tie gewo­gen blei­ben. Die­se Leh­re wur­de mit der neo­li­be­ra­len Umwäl­zung über den Hau­fen gewor­fen. Die Ein­he­gung des Kapi­ta­lis­mus in den ersten 30 Jah­ren des west­deut­schen Staa­tes, die sich in einer gewis­sen Ver­tei­lungs­ge­rech­tig­keit äußer­te, wur­de im Rah­men der neo­li­be­ra­len Umwäl­zung als Hemm­schuh für die Berei­che­rungs­sucht der weni­gen betrach­tet, und schließ­lich ent­sorgt. Die Kon­se­quenz dar­aus ist die Eta­blie­rung einer Ego­kul­tur und das Recht des Stär­ke­ren als neu­es Grund­prin­zip. Dar­aus ent­wickel­te sich eine Ver­wil­de­rung der Umgangs­for­men im sozia­len Raum. Die Macht­über­nah­me von Leu­ten wie Trump, Putin und ihres­glei­chen konn­te nur gesche­hen, weil die Ein­he­gung des Kapi­ta­lis­mus schon Jahr­zehn­te vor­her auf­ge­ge­ben wur­de. Die Neo­li­be­ra­li­sie­rung unse­rer Gesell­schaft erzeug­te die markt­kon­for­me Demo­kra­tie, die eben auch Spie­gel­bild der vor­herr­schen­den auto­ri­tä­ren Cha­rak­ter­struk­tur in die­sem Land ist. Reich erkennt im auto­ri­tä­ren Cha­rak­ter die Bereit­schaft zur frei­wil­li­gen Unter­ord­nung sowie eine all­ge­mei­ne Denk­hem­mung und Kri­tik­un­fä­hig­keit. Dies unter­gräbt die Rea­li­täts­fä­hig­keit. Die bür­ger­li­che psy­chi­sche Struk­tur sei grund­sätz­lich auto­ri­täts­ge­bun­den, so dass das Abdrif­ten in den Faschis­mus als Mög­lich­keit system­be­dingt ange­legt ist.

Die Erkennt­nis­se von Reich sind hilf­reich, um zu ver­ste­hen, wie es mög­lich ist, dass Par­tei­en wie die AfD, die so sehr den wirt­schaft­li­chen Inter­es­sen einer schma­len Schicht ver­pflich­tet sind, den­noch zu Mas­sen­par­tei­en wer­den kön­nen. Es ist also »der auto­ri­tä­re Sound« als Erklä­rungs­an­satz. Wir müs­sen ein­räu­men, dass der eman­zi­pa­to­ri­sche und die Diver­si­tät der Men­schen beja­hen­de Weg, der gewis­se Erfolgs­er­leb­nis­se ver­zeich­nen konn­te, letzt­lich von nicht weni­gen in der Gesell­schaft nicht mit­ge­gan­gen wird. So sehen wir nun, wenn sich die Rhe­to­rik vom Westen als der »frei­en Welt« oder dem Ort der angeb­lich indi­vi­dua­li­sti­schen Lebens­form zu ent­zau­bern beginnt, dass sich an der auto­ri­täts­hö­ri­gen und unfrei­en Cha­rak­ter­struk­tur von so vie­len durch die Jahr­zehn­te hin­durch offen­sicht­lich nicht viel geän­dert hat. Die­se Struk­tur erzeugt die­ses Bedürf­nis nach Homo­ge­ni­tät in der Gesell­schaft, sowie den Unwil­len, Ver­schie­den­heit und Wider­spruch zu beja­hen. Jedoch gehört deren Beja­hung zum Wesens­merk­mal von Demokratie.

Das Alar­mie­ren­de am Zustand unse­rer Gesell­schaft ist jedoch, dass auch die Säu­len unse­res Demo­kra­tie­baus, zum Bei­spiel füh­ren­de Medi­en­ver­tre­ter, eine selt­sa­me Dis­kre­panz auf­wei­sen. Als Bei­spiel nen­ne ich Caren Mios­ga. In einer ihrer letz­ten Sen­dun­gen, als Gast Mini­ster Pisto­ri­us, ging es vor allem um das Frie­dens­ma­ni­fest von SPD-Lin­ken, ein Appell zur Dees­ka­la­ti­on im Ver­hält­nis zu Russ­land. Das Papier setzt einen kla­ren Kon­tra­punkt zur all­ge­mei­nen Bedro­hungs­psy­cho­se. Demo­kra­ti­sches Bewusst­sein hie­ße dann, dank­bar zu sein für die­sen Wider­spruch, um durch das Zulas­sen von The­se und Anti­the­se zur Syn­the­se, also zu ange­mes­se­nen Schluss­fol­ge­run­gen zu gelan­gen. Dies geschah eben nicht. Frau Mios­ga, in ihrer Rol­le als Inqui­si­to­rin, ließ ihrem Ärger über die blo­ße Exi­stenz die­ses Papiers frei­en Lauf. Die­ses von ihr gezeig­te Ver­hal­ten offen­bart eine schlei­chen­de Aus­höh­lung der Essenz der Demo­kra­tie von innen.

Die jet­zi­ge Koali­ti­on als »letz­te Patro­ne der Demo­kra­tie«? Das Aus­maß der Unzu­frie­den­heit in der Bevöl­ke­rung über die Ver­nach­läs­si­gung des All­ge­mein­wohls als Fol­ge der neo­li­be­ra­len Ideo­lo­gie ist enorm. Es keimt bei man­chen der Wunsch auf nach etwas ganz ande­rem, was es auch sei. Die­ser Extre­mis­mus ist in der Tat unheim­lich, ver­bun­den mit der feh­len­den Wert­schät­zung für demo­kra­ti­sche und frei­heit­li­che Werte.

Zusam­men­fas­send lässt sich sagen, dass die­se bür­ger­li­che Demo­kra­tie gefähr­det ist, abzu­drif­ten. Reich emp­fiehlt, die prak­ti­schen Lebens­fra­gen der Men­schen ernst­haft zu lösen. Es bleibt die Hoff­nung, dass dies geschieht.