Nachdem eine Freundin meinen Beitrag »Betriebsstörungen« (Ossietzky 21/2024) gelesen hatte, reagierte sie mit der Frage: »Das ist doch eine Satire?« Darauf musste ich ihr antworten: »Nein, das habe ich alles selbst erlebt«.
Ich möchte nun nicht in den Verdacht geraten, den Zustand der deutschen Bahnen zu bloßer Satire zu nutzen; dafür ist er zu ernst. So soll im folgenden Bericht auch nicht die Befindlichkeit des Berichterstatters im Mittelpunkt stehen.
Wenn ich trotz aller vorbereitenden Bemerkungen doch noch einmal auf meinen Artikel »Betriebsstörungen« zurückgreife, so nur, um deutlich zu machen, dass ich aus negativen Erfahrungen zu lernen versucht habe. Konkret: Dieses Mal wählte ich, um von Hannover nach Hamburg zu gelangen, eine Verbindung des Regionalexpresses (RE), versuchte also, die Regionalbahn (vulgo: Bummelbahn; amtlich: RB) zu vermeiden. Der von mir gewählte Zug sollte mir überdies den mit dem Umsteigen in Uelzen verbundenen Zeitverlust ersparen.
Der »Metronom« fuhr dann auch pünktlich ab. Bald lagen auch die Stationen im Umland von Hannover hinter uns. Eigenartig fand ich dann aber, dass deren Namen auf dem Display des Waggons immer wieder auftauchten. Dann aber wurden keine Unterwegsstationen, auch keine Uhrzeit oder Wagennummer mehr angezeigt. Mochten dies noch Kleinigkeiten gewesen sein, so konnte es schon bedenklich stimmen, als eindeutig falsche Informationen zum Ausstieg vom Band kamen: Wer ihnen gefolgt wäre, wäre auf das Nebengleis, statt auf den Bahnsteig geraten.
Vorläufige Zusammenfassung aus der Sicht des Berichterstatters: Die Elektronik spielte ein wenig verrückt; doch die Falschangaben waren durch Zugpersonal offenbar korrigierbar.
Dieses schien jedoch bereits zu diesem Zeitpunkt alarmiert, denn die Reisenden wurden wiederholt um Geduld gebeten, und ihnen wurde in zunehmend flehend klingendem Ton versichert, man gebe sich größte Mühe, den Schaden zu beheben.
Die Situation veränderte sich für die Reisenden jedoch deutlich, als diese gebeten wurden, jeweils eine Person des jeweiligen Waggons zu bestimmen, die eine Wagentür einmal schließen und dann wieder öffnen möge. Das Ergebnis war: Die Türschließelektronik war defekt. Der Zug sollte in Uelzen ausgesetzt werden. Alle Mitteilungen waren wieder mit vielen Entschuldigungen und der Versicherung verbunden, alles noch Mögliche zu tun, um größeren Schaden abzuwenden.
In Uelzen sollte ein Zug (RB!) eine Dreiviertelstunde später in Richtung Hamburg abfahren. Das Wetter war ungemütlich, die Aussicht, auf dem Bahnsteig warten zu müssen, ebenfalls. (Dort aber hätte man sich aufhalten müssen, um spontan auf eventuelle neue Nachrichten reagieren zu können.)
Nun stellte ich fest, dass schon nach 20 Minuten ein ICE halten sollte, der auf seiner Fahrt nach Hamburg bereits 60 Minuten Verspätung angesammelt hatte. Diese Information brachte mich auf einen Plan, der sich wider Erwarten realisieren ließ: Als dieser Zug hielt, sprang mir ein Zugbegleiter fast vor die Füße; so hatte ich Gelegenheit, ihm in aller Kürze mitzuteilen, dass ich mit den übrigen Fahrgästen des »Metronom« in Uelzen gestrandet sei. Mit einer knappen, aber eindeutig einladenden Handbewegung gestattete er mir kulanterweise die Mitfahrt.
Als ich im Zug saß, setzte er sich mir gegenüber, und ich berichtete ihm von meinem gerade erlebten Abenteuer. So kamen wir über den Zustand der deutschen Bahnen ins Gespräch. In diesem Zusammenhang erfuhr ich beispielsweise, dass die Lokführer zeitweise zu 11½-Stundenschichten eingeteilt würden. Dabei müssten sie nach jeweils 6 Stunden eine Pause machen. Die Probleme, die sich aus diesem Vorgehen ergeben, liegen auf der Hand.
Während wir uns so miteinander unterhielten, machte er mich auf ein raschelndes Geräusch aufmerksam; ich hatte nichts Auffälliges bemerkt. Dass er es bemerkt hatte, hing außer mit seiner beruflichen Erfahrung auch mit der Situation zusammen: Sein ICE hatte im Laufe der Fahrt, wie erwähnt, in Uelzen bereits eine Verspätung von 60 Minuten angesammelt; die Fahrgäste wirkten erschöpft und ein wenig überreizt.
Bald wiederholte sich das Geräusch in einer Lautstärke, dass auch ich es dieses Mal bemerkte – was ich dem Zugbegleiter signalisierte. Dieser konnte meinen Lernerfolg nicht würdigen, da ihn vielmehr der Zustand des Fahrwerks beunruhigte. Er rief einen Kollegen an, der mit ernster Miene erschien. Beide berieten nun, was zu tun sei. Schließlich sagte der Kollege mit Grabesstimme: »Dann ist das eben so!« Er teilte den Fahrgästen mit Hilfe des Zuglautsprechers mit, dass der Zug im Schritttempo den nächsten Bahnhof ansteuern würde. Es handelte sich um Winsen. Nun ergab sich das Problem, dass der ICE sehr lang und der Bahnsteig in Winsen zu kurz war, als dass alle Fahrgäste gefahrlos hätten aussteigen können. Also verkündete der Kollege, in Winsen werde der Zug »evakuiert«. Dieses Wort signalisierte eine Gefahrensituation, die an Notrutschen und Ähnliches denken ließ. Davon konnte keine Rede sein; nur bestimmte Waggons durften nicht zum Aussteigen benutzt werden.
In Winsen wurde bereits ein Zug erwartet, genauer gesagt: eine Regionalbahn (RB); noch genauer gesagt; die RB, auf die ich in Uelzen nicht hatte warten wollen. Dass es ihr gelungen war, den ICE in Winsen einzuholen, darf nicht einen Schluss auf ihre Schnelligkeit, sondern nur auf die außerordentlich zeitraubenden Vorgänge im ICE zulassen.
Von Winsen an verkehrte die RB auch noch unter erschwerten Bedingungen, da die Vorgänge allein in den beiden von mir benutzten Zügen Verzögerungen bewirkten, denen eine RB als letzte Stufe in der Zughierarchie besonders ausgesetzt war. Dass die nächsten Bahnhöfe – zunächst Ashausen – in schleppendem, aber auch durch etliche »Zugüberholungen« zusätzlich verzögertem Tempo angefahren wurden, ließ das Ziel einer durchschnittlichen RB-Geschwindigkeit sehr bald illusorisch werden.
Dafür wiederholte sich umso eindringlicher das Bitten der Zugdurchsagen um das Verständnis der Fahrgäste, das ich bereits im RE und ICE erlebt hatte. Diese Durchsagen erschienen mir geprägt von Erschöpfung des Personals, zusätzlich aber auch durch ein Gefühl der Demütigung. Dieses Gefühl der Demütigung hat seinen Grund im Kern nicht in etwaigem eigenem Versagen, sondern dem des Materials, und dessen Versagen wiederum hat seinen Grund im Kern in einem jahrzehntelangen verfehlten Fahren auf Verschleiß, auf Geheiß des Bahnmanagements. An der Spitze der Schuldhierarchie aber steht die Reihe der unfähigen, weil neoliberal ausgerichteten Verkehrsminister und der jeweiligen Kabinette, die ihre neoliberale Politik der Untätigkeit selbst nach dem Schock der Lehman-Brothers-Krise (die glücklicherweise den Börsengang der Bahn illusorisch werden ließ) nicht änderten. Unsere Solidarität sollte im Zweifelsfall dem Zugpersonal gelten.