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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die neoliberale Aushöhlung der Demokratie

Alle Regie­run­gen ab 1982 haben wirt­schafts­po­li­tisch völ­lig ver­sagt. Sie folg­ten dem neo­li­be­ra­len Para­dig­ma von Pri­va­ti­sie­rung, Dere­gu­lie­rung und einer gigan­ti­schen Umver­tei­lung von den Arbeits- zu den Mehr­wert­ein­künf­ten. Es kam sozu­sa­gen zu einem erbeu­te­ten Reich­tum. Hel­mut Kohl (CDU) for­der­te eine »gei­stig mora­li­sche Wen­de« hin zum Indi­vi­dua­lis­mus und Ger­hard Schrö­der (SPD) die Errich­tung eines Nied­rig­lohn­sek­tors sowie Ange­la Mer­kel (CDU) eine »markt­kon­for­me Demo­kra­tie«. Dann kam Olaf Scholz (SPD) und sprach von einer »Zei­ten­wen­de«, um damit das größ­te Rüstungs­pro­gramm in der deut­schen Nach­kriegs­ge­schich­te aus­zu­lö­sen – als hät­ten die Deut­schen nicht einen ersten und zwei­ten Welt­krieg zu ver­ant­wor­ten. Unter­neh­mer­ver­bän­de grif­fen mit Unter­stüt­zung der Regie­ren­den mas­siv die abhän­gig Beschäf­tig­ten und ihre Gewerk­schaf­ten an. Der ehe­ma­li­ge Prä­si­dent des Bun­des­ver­ban­des der Deut­schen Indu­strie (BDI), Micha­el Rogow­ski, sprach 2003 das aus, was Kapi­tal­ver­tre­ter dach­ten: »Man müss­te Lager­feu­er machen und erst­mal die gan­zen Flä­chen­ta­rif­ver­trä­ge ver­bren­nen und das Betriebs­ver­fas­sungs­ge­setz dazu und dann das Gan­ze schlank neu­ge­stal­ten.« Heu­te arbei­ten von den gut 42 Mil­lio­nen abhän­gig Beschäf­tig­ten in Deutsch­land nur noch rund 50 Pro­zent im Rah­men eines Tarif­ver­tra­ges, das heißt über 20 Mil­lio­nen müs­sen mit ihrem Unter­neh­mer Arbeits­ent­gel­te und Arbeits­zei­ten indi­vi­du­ell aus­han­deln. Wer da den Kür­ze­ren zieht, ist klar. Und zwi­schen 5 und 7,5 Mil­lio­nen Men­schen haben 2024, je nach Defi­ni­ti­on, als pre­kär Beschäf­tig­te ihr Arbeits­le­ben bei nied­rig­sten Arbeits­ent­gel­ten ertra­gen müssen.

Unter dem neo­li­be­ra­len Para­dig­ma wur­de die öffent­li­che Infra­struk­tur zer­stört und der grund­ge­setz­lich fest­ge­schrie­be­ne Sozi­al­staat immer wie­der als »Kost­gän­ger« der pri­va­ten Wirt­schaft ange­grif­fen und dis­kre­di­tiert. Selbst die Ren­te wur­de mit der »Rie­ster­ren­te« teil­wei­se den Markt­ge­set­zen über­las­sen. Alles Staat­li­che ist schlecht­ge­re­det wor­den, und das Pri­va­te wur­de markt­ra­di­kal mit Kon­zen­tra­ti­ons- und Zen­tra­li­sa­ti­ons­pro­zes­sen in der Wirt­schaft hofiert. Hier haben es die ver­sa­gen­den Regie­run­gen bis heu­te nicht ein­mal geschafft, das Bun­des­kar­tell­amt mit einem adäqua­ten Wett­be­werbs­recht aus­zu­stat­ten. Es gibt kaum noch Märk­te, wo nicht mäch­ti­ge Unter­neh­men sowohl auf ihren Beschaf­fungs- als auch Absatz­märk­ten ihre Markt­macht nach dem Cre­do »the Win­ner-takes-it-all« aus­beu­te­risch zum Ein­satz bringen.

Beson­ders her­vor­ge­ho­ben wer­den muss auch die neo­li­be­ral her­bei­ge­führ­te Ver­ar­mung. Rund 17 Pro­zent der Bevöl­ke­rung, das sind ca. 13 bis 14 Mil­lio­nen Men­schen in Deutsch­land, haben weni­ger als 60 Pro­zent des mitt­le­ren Ein­kom­mens (Medi­an) zur Ver­fü­gung. Für einen Allein­le­ben­den waren das 2024 weni­ger als 1.381 Euro im Monat. Dar­auf wer­den noch Abga­ben fäl­lig. Net­to ver­blei­ben etwa 1.100 Euro. Auch wächst mitt­ler­wei­le jedes 5. Kind, das sind rund 3 Mil­lio­nen, in Armut auf. Arme Eltern haben arme Kin­der. Aber auch der Staat ist von Neo­li­be­ra­len ver­armt wor­den, das zeigt die kumu­lier­te Staats­ver­schul­dung und eine unter­las­se­ne adäqua­te Besteue­rung des erbeu­te­ten Mehr­werts. Seit Karl Marx wis­sen wir, dass der Staat im Kapi­ta­lis­mus, neben den Eigen­tums­ver­hält­nis­sen an den Pro­duk­ti­ons­mit­teln, der eigent­li­che Geg­ner einer direk­ten Volks­de­mo­kra­tie ist. Spä­ter beschrie­ben dies Theo­dor W. Ador­no und Max Hork­hei­mer mit einer »pri­vi­le­gier­ten Kom­pli­zen­schaft« zwi­schen Kapi­tal­ei­gen­tü­mern und Poli­tik. Adäqua­te Besteue­run­gen des Mehr­werts und Ver­mö­gens sind hier nicht zu befürch­ten. Anders sieht es bei indi­rek­ten Steu­ern aus, also bei Umsatz- und Ver­brauch­steu­ern, die vor allem die Ein­kom­mens­emp­fän­ger mit nur gerin­gem Ein­kom­men hart trifft. Sie müs­sen ihr gesam­tes Ein­kom­men kon­su­mie­ren. Zum Spa­ren bleibt da nichts übrig.

Auch unter der Mer­z/K­ling­beil-Regie­rung wird die neo­li­be­ra­le Wirt­schafts­po­li­tik bruch­los fort­ge­setzt. Der Mehr­wert wird sogar noch weni­ger besteu­ert (sie­he Abschrei­bungs­er­leich­te­run­gen und Sen­kung der Kör­per­schaft­steu­er), und durch die mit Son­der­schul­den im Grund­ge­setz abge­si­cher­te Hoch­rü­stung wird es jetzt im »Nor­mal-Staats­haus­halt« sogar zu einer noch ver­schärf­ten neo­li­be­ra­len Austeri­täts­po­li­tik kom­men. Das hier zur Umge­hung der Schul­den­brem­se, die­se wird von töricht Herr­schen­den (vgl. Bon­trup auf den Nach­Denk­Sei­ten) nicht abge­schafft, auch das staat­li­che Infra­struk­tur­pro­gramm mit Son­der­schul­den finan­ziert wird, ist dabei nur als Ali­bi für das gigan­ti­sche Auf­rü­stungs­pro­gramm ein­zu­stu­fen. Gera­de hat eine Stu­die der Uni­ver­si­tät Mann­heim gezeigt, dass der kurz­fri­sti­ge Fis­kal­mul­ti­pli­ka­tor für Mili­tär­aus­ga­ben in Deutsch­land nicht wesent­lich grö­ßer als 0,5 ist, und even­tu­ell sogar bei null lie­gen kann. Ein zusätz­li­cher Euro für die Rüstungs­in­du­strie schafft also höch­stens 50 Cent zusätz­li­che gesamt­wirt­schaft­li­che Pro­duk­ti­on und Ein­kom­men oder hat gar kei­nen öko­no­mi­schen Effekt. Dage­gen liegt der Fis­kal­mul­ti­pli­ka­tor für zivi­le Staats­aus­ga­ben zwi­schen zwei und drei. »Aus öko­no­mi­scher Sicht ist die geplan­te Mili­ta­ri­sie­rung der deut­schen Wirt­schaft eine risi­ko­rei­che Wet­te mit nied­ri­ger gesamt­wirt­schaft­li­cher Ren­di­te«, schrei­ben die Wis­sen­schaft­ler der Stu­die. Hohe Ren­di­ten erzie­len aber die Rüstungs­in­du­stri­el­len. Sie rea­li­sie­ren auf Grund der beson­de­ren Preis­set­zung bei Rüstungs­gü­tern höch­ste Pro­fi­te (vgl. Bon­trup »Die Euro­figh­ter-Gewinn­for­mel« in Ossietzky, Heft 3/​1998,). Das stört die Bel­li­zi­sten in der Poli­tik aber nicht, auch wer­den die War­nun­gen der Wis­sen­schaft­ler des schwe­di­schen Sipri-Insti­tuts negiert, die nach­drück­lich vor einem neu­en Wett­rü­sten und einem drit­ten Welt­krieg war­nen. Merz droht dage­gen dem rus­si­schen Macht­ha­ber Wla­di­mir Putin, er müs­se mit den Deut­schen und ihrer jetzt initi­ier­ten Hoch­rü­stung rech­nen. Sei­ne Regie­rung wer­de mit der SPD und einer bereit­ge­stell­ten Finan­zie­rung alles dar­an­set­zen, die Bun­des­wehr zur stärk­sten kon­ven­tio­nel­len Armee der Euro­päi­schen Uni­on zu machen – »wie es einem Land unse­rer Grö­ße und Wirt­schafts­kraft ange­mes­sen ist und wie es unse­re Alli­ier­ten zu Recht von uns erwar­ten«. Dann muss man wohl beim deut­schen Kanz­ler von Rea­li­täts­ver­lust und einem nicht vor­han­de­nen Geschichts­wis­sen spre­chen. Im Namen der Mehr­heit des Vol­kes und auch in mei­nen Namen spricht er hier jeden­falls nicht.

Aber in einer nur indi­rek­ten reprä­sen­ta­ti­ven Demo­kra­tie über­trägt das Volk sei­ne Herr­schaft auf »Volks­ver­tre­ter« und gibt damit sei­ne indi­vi­du­el­le und kol­lek­ti­ve Selbst­be­stim­mung auf. Zwi­schen den Wahl­ta­gen hat das Volk nichts mehr zu sagen. Die ehe­ma­li­ge Bun­des­ver­fas­sungs­rich­te­rin Ger­tru­de Lüb­be-Wolff schreibt in die­sem Kon­text: »Die Bür­ger sind, was poli­ti­sches Ent­schei­den angeht, wei­test­ge­hend auf Wah­len beschränkt.« Und der lang­jäh­ri­ge und her­aus­ra­gen­de SPD-Poli­ti­ker Her­bert Weh­ner befand über Wah­len in einer indi­rek­ten Demo­kra­tie: »Der Wäh­ler legi­ti­miert mit sei­ner Wahl die Ent­schei­dun­gen, die anschlie­ßend gegen ihn unter­nom­men wer­den.« Dies bestä­tig­te unver­hoh­len die ehe­ma­li­ge Außen­mi­ni­ste­rin Anna­le­na Baer­bock (Bünd­nis 90/​Die Grü­nen), indem sie der Ukrai­ne eine unein­ge­schränk­te Unter­stüt­zung zusag­te, »ganz egal, was mei­ne deut­schen Wäh­ler denken«.

Wah­re Volks­sou­ve­rä­ni­tät, als Macht, die vom Vol­ke aus­geht, gibt es nur in einer direk­ten Demo­kra­tie, in der das Volk in Abstim­mun­gen über Sach- und Per­so­nal­ent­schei­dun­gen die Ent­schei­dungs­ge­walt hat. Grund­ge­setz­ver­än­de­run­gen haben kei­ne nur gewähl­ten Poli­ti­ker zu ent­schei­den, son­dern das Volk, das gilt auch für die exi­sten­zi­el­le Fra­ge von Krieg und Auf­rü­stung. Auch über vie­le grund­sätz­li­che wirt­schafts­po­li­ti­sche Fra­gen soll­te das Volk direkt ent­schei­den, bei­spiels­wei­se über eine Ver­mö­gen­steu­er und die Besteue­rung hoher Ein­kom­men sowie über die Höhe der Staats­ver­schul­dung. Wie­so wird der Bun­des­prä­si­dent, als ober­stes Staats­or­gan, in Deutsch­land nicht vom Volk gewählt? Das glei­che gilt im Kon­text der Gewal­ten­tei­lung für die Wahl von Rich­tern in der Judi­ka­ti­ve. Deutsch­land benö­tigt drin­gend viel­fäl­ti­ge direkt demo­kra­ti­sche Inter­ven­tio­nen in einen zuneh­mend per­ver­tie­ren­den par­la­men­ta­ri­schen Poli­tik­be­trieb, der nur noch die Inter­es­sen einer Kapi­tal­min­der­heit gegen die Mehr­heit im Volk vertritt.

Auch in der Wirt­schaft sind die kapi­ta­li­sti­schen Wider­sprü­che zwi­schen den Eigen­tü­mern der Pro­duk­ti­ons­mit­tel und den abhän­gi­gen Pro­du­zen­ten auf­zu­he­ben. Erste umfas­sen­de ord­nungs­theo­re­ti­sche Über­le­gun­gen dazu hat schon 1928 der Öko­nom Fritz Naph­ta­li im Auf­trag des All­ge­mei­nen Deut­schen Gewerk­schafts­bun­des (ADGB) vor­ge­legt. Er schrieb: »Die übli­che Über­set­zung des Wor­tes Demo­kra­tie lau­tet: Volks­herr­schaft. (…) Jede Herr­schaft setzt Herr­schen­de und Beherrsch­te vor­aus, wäh­rend das Wesen der Demo­kra­tie in der Besei­ti­gung die­ser Tei­lung liegt. Herr­schen kön­nen eini­ge Tei­le des Vol­kes über die ande­ren: Über wen kann aber das Volk herr­schen (…)? Wenn trotz der poli­ti­schen Demo­kra­tie die Herr­schaft bestehen bleibt, so ist das kei­ne Volks­herr­schaft, son­dern die Herr­schaft der Min­der­heit, die zwar nicht mehr poli­ti­sche, dafür aber ande­re, vor allem wirt­schaft­li­che Pri­vi­le­gi­en hat, und die über das Volk (…) herrscht. Im tief­sten Sin­ne demo­kra­tisch ist des­halb die Reak­ti­on gegen die wirt­schaft­li­che Auto­kra­tie: gegen die Des­po­tie des Unter­neh­mers oder sei­ner Agen­ten im Betrieb, gegen die Wirt­schafts- und all­ge­mei­ne Poli­tik, die den Staat dem Kapi­tal aus­lie­fert. Die Demo­kra­ti­sie­rung der Wirt­schaft bedeu­tet die Besei­ti­gung jeder Herr­schaft und die Umwand­lung der lei­ten­den Orga­ne der Wirt­schaft aus Orga­nen der kapi­ta­li­sti­schen Inter­es­sen in sol­che der All­ge­mein­heit.« In der Tat: Erst dann liegt eine gesell­schaft­li­che Demo­kra­tie in Staat und Wirt­schaft vor.

 Der Autor ist pen­sio­nier­ter Wirt­schafts­pro­fes­sor. Von ihm ist gera­de sein neu­es Buch: Erbeu­te­ter Reich­tum. Wege aus der neo­li­be­ra­len Zer­stö­rung, im Köl­ner Papy­Ros­sa Ver­lag erschie­nen (460 S., 26,90 €).