Die Gegenwart der 1920er und 1930 Jahre
»Die 1920er und 1930er Jahre sind heute auf eine gespenstische Weise wieder gegenwärtig geworden. Zwischen Mussolinis Regierungsübername 1922 in Italien und dem Sieg Francos im spanischen Bürgerkrieg 1938 kamen in halb Europa faschistische Regime an die Macht. Heute sind es Rechtspopulisten, die spätestens seit Berlusconi in Europa große Wahlerfolge erzielen. Damals führte das zum Weltkrieg, wohin es heute führt, ist noch unklar.«
Die Umkehr der Fluchtrouten
»Die Fragen von Flucht und Migration gehören heute zu den beherrschenden Themen der Politik in aller Welt. Bislang hat, soweit ich sehen kann, niemand eine Antwort darauf gefunden, die sowohl moralisch wie auch politisch rundum befriedigend ist. In so einer Situation liegt es nahe, zu schauen, wie in der Vergangenheit mit diesem Thema umgegangen wurde. Also, ob wir etwas daraus lernen können, wie Schutzsuchende früher behandelt wurden. Heute fliehen viele Menschen vor Kriegen aus dem Süden in den Norden. Damals, 1940, flohen deutsche geisteswissenschaftlich Tätige, Intellektuelle und Theaterschaffende vor dem Krieg vom Norden nach dem Süden, von Deutschland nach Südfrankreich oder auch Nordafrika. Dieser Wechsel der Perspektive stellt die Probleme von Flucht und Exil plötzlich in einem ganz anderen Licht dar.«
Unterscheidung zwischen Flucht und Migration
»Ich glaube, es ist sinnvoll zwischen Flucht und Migration zu unterscheiden, auch wenn das schwierig ist. Jüdische Menschen, kritische Kunstschaffende, Anhänger des Kommunismus und der Sozialdemokratie hatten in Hitlers Deutschland nahezu keine Überlebenschance. Sie mussten fliehen, wenn sie am Leben bleiben wollten. Sie mussten auch aus Frankreich fliehen, als die deutsche Wehrmacht das Land innerhalb von nur sechs Wochen eroberte. Die Gestapo machte Jagd auf sie. Migration aus wirtschaftlichen Gründen hat auch ihr Recht, natürlich, aber auch eine andere Funktion und Dringlichkeit. Mit anderen Worten: Es braucht schnelle Hilfe für Menschen, die unmittelbar vom Tod bedroht sind, und daneben legale Wege der Migration.«
Nicht auf die Propaganda der AfD hereinfallen
»Es wird allzu leicht und allzu schnell von einer Migrationskrise gesprochen. Wenn man von »Krise« spricht, fällt man auf die Propaganda der AfD herein. Ohne Migration nach Deutschland wäre der Wohlstand in unserem Land nicht aufrecht zu erhalten. Natürlich erzeugt Migration Probleme, auch Sicherheitsprobleme. Aber ohne Migration stünden wir vor viel größeren Schwierigkeiten wirtschaftlicher Art.«
Kann Literatur dem Aufstieg des Rechtsextremismus entgegenwirken?
»Über die politische Wirkung von Literatur zu sprechen, ist immer schwierig. Meist erreicht die Literatur, die eine bestimmte politische Absicht hat, ja nur diejenigen, die diese Absicht schon vorher teilten. Aber manchmal kann es der Literatur gelingen, ein allgemeines Problem so lebendig und individuell zu schildern, dass es die Lesenden mit besonderer Macht ergreift. Die allermeisten Menschen in Deutschland haben das Glück, nicht auf der Flucht zu sein. Ich auch. Aber wir sollten uns gelegentlich vor Augen stellen, dass das keine Selbstverständlichkeit ist, sondern eben: Glück. Auch Heinrich und Thomas Mann, Hannah Arendt, Franz Werfel, Anna Seghers und all die anderen Personen aus meinem Buch hätten niemals gedacht, Geflüchtete zu werden. Plötzlich waren sie es. Es braucht nicht viel, nur zwei, drei fatale Fehlentscheidungen bei Wahlen und jeder kann sich mit einem Koffer in der Hand auf der Flucht in einem fremden Land wiederfinden.«
Uwe Wittstock ist der Autor des Buches »Marseille 1940«, in dem die Geschichte von Varian Fry erzählt wird, der 1940 von dem Emergency Rescue Committee (der Organisation, die 1942 mit der von Albert Einstein gegründeten Internatinal Relief Association zum International Rescue Committee fusionierte) nach Frankreich geschickt wird, um dort als Fluchthelfer (man könnte auch sagen »Schleuser«) zur Rettung von europäischen Künstlern, Schriftstellern und Intellektuellen beizutragen. Sie waren vor den Deutschen nach Frankreich geflohen und saßen nun dort fest. Viele dieser Menschen standen auf den Listen der Nationalsozialisten. »Meistgesucht« – so wurden sie genannt, darunter waren die Maler Marc Chagall und Max Ernst, die Philosophin Hannah Arendt oder der Wissenschaftler Otto Meyerhof, der 1922 den Nobelpreis für Medizin erhalten hatte.
Die Zitate sind einem Interview mit dem International Rescue Committee entnommen.