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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die Perspektive wechseln – Zitate

Die Gegen­wart der 1920er und 1930 Jahre
»Die 1920er und 1930er Jah­re sind heu­te auf eine gespen­sti­sche Wei­se wie­der gegen­wär­tig gewor­den. Zwi­schen Mus­so­li­nis Regie­rungs­über­na­me 1922 in Ita­li­en und dem Sieg Fran­cos im spa­ni­schen Bür­ger­krieg 1938 kamen in halb Euro­pa faschi­sti­sche Regime an die Macht. Heu­te sind es Rechts­po­pu­li­sten, die spä­te­stens seit Ber­lus­co­ni in Euro­pa gro­ße Wahl­er­fol­ge erzie­len. Damals führ­te das zum Welt­krieg, wohin es heu­te führt, ist noch unklar.«

Die Umkehr der Fluchtrouten
»Die Fra­gen von Flucht und Migra­ti­on gehö­ren heu­te zu den beherr­schen­den The­men der Poli­tik in aller Welt. Bis­lang hat, soweit ich sehen kann, nie­mand eine Ant­wort dar­auf gefun­den, die sowohl mora­lisch wie auch poli­tisch rund­um befrie­di­gend ist. In so einer Situa­ti­on liegt es nahe, zu schau­en, wie in der Ver­gan­gen­heit mit die­sem The­ma umge­gan­gen wur­de. Also, ob wir etwas dar­aus ler­nen kön­nen, wie Schutz­su­chen­de frü­her behan­delt wur­den. Heu­te flie­hen vie­le Men­schen vor Krie­gen aus dem Süden in den Nor­den. Damals, 1940, flo­hen deut­sche gei­stes­wis­sen­schaft­lich Täti­ge, Intel­lek­tu­el­le und Thea­ter­schaf­fen­de vor dem Krieg vom Nor­den nach dem Süden, von Deutsch­land nach Süd­frank­reich oder auch Nord­afri­ka. Die­ser Wech­sel der Per­spek­ti­ve stellt die Pro­ble­me von Flucht und Exil plötz­lich in einem ganz ande­ren Licht dar.«

Unter­schei­dung zwi­schen Flucht und Migration
»Ich glau­be, es ist sinn­voll zwi­schen Flucht und Migra­ti­on zu unter­schei­den, auch wenn das schwie­rig ist. Jüdi­sche Men­schen, kri­ti­sche Kunst­schaf­fen­de, Anhän­ger des Kom­mu­nis­mus und der Sozi­al­de­mo­kra­tie hat­ten in Hit­lers Deutsch­land nahe­zu kei­ne Über­le­bens­chan­ce. Sie muss­ten flie­hen, wenn sie am Leben blei­ben woll­ten. Sie muss­ten auch aus Frank­reich flie­hen, als die deut­sche Wehr­macht das Land inner­halb von nur sechs Wochen erober­te. Die Gesta­po mach­te Jagd auf sie. Migra­ti­on aus wirt­schaft­li­chen Grün­den hat auch ihr Recht, natür­lich, aber auch eine ande­re Funk­ti­on und Dring­lich­keit. Mit ande­ren Wor­ten: Es braucht schnel­le Hil­fe für Men­schen, die unmit­tel­bar vom Tod bedroht sind, und dane­ben lega­le Wege der Migration.«

Nicht auf die Pro­pa­gan­da der AfD hereinfallen
»Es wird all­zu leicht und all­zu schnell von einer Migra­ti­ons­kri­se gespro­chen. Wenn man von »Kri­se« spricht, fällt man auf die Pro­pa­gan­da der AfD her­ein. Ohne Migra­ti­on nach Deutsch­land wäre der Wohl­stand in unse­rem Land nicht auf­recht zu erhal­ten. Natür­lich erzeugt Migra­ti­on Pro­ble­me, auch Sicher­heits­pro­ble­me. Aber ohne Migra­ti­on stün­den wir vor viel grö­ße­ren Schwie­rig­kei­ten wirt­schaft­li­cher Art.«

Kann Lite­ra­tur dem Auf­stieg des Rechts­extre­mis­mus entgegenwirken?
»Über die poli­ti­sche Wir­kung von Lite­ra­tur zu spre­chen, ist immer schwie­rig. Meist erreicht die Lite­ra­tur, die eine bestimm­te poli­ti­sche Absicht hat, ja nur die­je­ni­gen, die die­se Absicht schon vor­her teil­ten. Aber manch­mal kann es der Lite­ra­tur gelin­gen, ein all­ge­mei­nes Pro­blem so leben­dig und indi­vi­du­ell zu schil­dern, dass es die Lesen­den mit beson­de­rer Macht ergreift. Die aller­mei­sten Men­schen in Deutsch­land haben das Glück, nicht auf der Flucht zu sein. Ich auch. Aber wir soll­ten uns gele­gent­lich vor Augen stel­len, dass das kei­ne Selbst­ver­ständ­lich­keit ist, son­dern eben: Glück. Auch Hein­rich und Tho­mas Mann, Han­nah Are­ndt, Franz Wer­fel, Anna Seg­hers und all die ande­ren Per­so­nen aus mei­nem Buch hät­ten nie­mals gedacht, Geflüch­te­te zu wer­den. Plötz­lich waren sie es. Es braucht nicht viel, nur zwei, drei fata­le Fehl­ent­schei­dun­gen bei Wah­len und jeder kann sich mit einem Kof­fer in der Hand auf der Flucht in einem frem­den Land wiederfinden.«

Uwe Witt­stock ist der Autor des Buches »Mar­seil­le 1940«, in dem die Geschich­te von Vari­an Fry erzählt wird, der 1940 von dem Emer­gen­cy Res­cue Com­mit­tee (der Orga­ni­sa­ti­on, die 1942 mit der von Albert Ein­stein gegrün­de­ten Inter­na­tinal Reli­ef Asso­cia­ti­on zum Inter­na­tio­nal Res­cue Com­mit­tee fusio­nier­te) nach Frank­reich geschickt wird, um dort als Flucht­hel­fer (man könn­te auch sagen »Schleu­ser«) zur Ret­tung von euro­päi­schen Künst­lern, Schrift­stel­lern und Intel­lek­tu­el­len bei­zu­tra­gen. Sie waren vor den Deut­schen nach Frank­reich geflo­hen und saßen nun dort fest. Vie­le die­ser Men­schen stan­den auf den Listen der Natio­nal­so­zia­li­sten. »Meist­ge­sucht« – so wur­den sie genannt, dar­un­ter waren die Maler Marc Chagall und Max Ernst, die Phi­lo­so­phin Han­nah Are­ndt oder der Wis­sen­schaft­ler Otto Mey­er­hof, der 1922 den Nobel­preis für Medi­zin erhal­ten hatte.

Die Zita­te sind einem Inter­view mit dem Inter­na­tio­nal Res­cue Com­mit­tee entnommen.

Ausgabe 15.16/2025