Es war nicht das Bild eines sinkenden Boots im Mittelmeer, das den deutschen Diskurs über Migration 2024/25 prägte. Es war das Echo eines einzelnen Satzes, gesprochen in der kühlen Klarheit einer Talkshow-Kulisse, sachlich vorgetragen, präzise gesetzte Silben: »Wir werden konsequent abschieben.« Friedrich Merz sagte das nicht zum ersten Mal, aber diesmal klang es wie eine Vollmacht. Für eine Politik der kalten Hand. Für eine Gesellschaft, die ihr Mitgefühl in ein Lager am Rand verbannt.
I.
Die politische Sprache hat sich verändert. Nicht plötzlich. Nicht schlagartig. Aber unüberhörbar. Der Diskurs über Migration ist in jenen Monaten nicht verroht, sondern verfeinert worden – auf gefährliche Weise. Die Diffamierung des Anderen hat ihre grobe Schärfe verloren und wurde ersetzt durch eine technokratische Rhetorik, die sich auf Ordnung beruft, aber Ausschluss meint. Begriffe wie »Migrationsdruck«, »illegale Migration«, »Pull-Faktoren« oder »Remigration« erscheinen wie Verwaltungsbegriffe. Doch sie tragen eine Last: Sie verwandeln Menschen in Probleme. Und in Dinge.
Diese semantische Verschiebung ist kein sprachlicher Zufall, sondern eine gezielte Strategie. Wer Migration als »Belastung« codiert, als »Herausforderung für den Rechtsstaat«, wie es in fast jeder Regierungserklärung steht, eröffnet einen moralischen Rahmen, in dem Hilfe zur Schwäche, Kontrolle zur Pflicht und Abschiebung zur Tugend wird. Die Rhetorik verfolgt ein klares Ziel: Sie will Zustimmung zur Verweigerung erzeugen.
In seinem Werk Politik und Rhetorik hat der Sprachwissenschaftler Josef Klein die Funktion politischer Sprache als Mittel der Deutungshoheit beschrieben. Rhetorik, so Klein, ist kein Ornament der Politik, sondern ihr Werkzeug – sie dient der »Erzeugung kollektiver Deutungsmuster« (Klein, 2022, S. 41). Wer die Begriffe kontrolliert, kontrolliert die Legitimation.
Ein Blick in das CDU-Grundsatzprogramm von 2024 zeigt, wie sorgfältig diese Sprache gebaut ist: Dort heißt es, die Steuerung von Migration sei »eine Überlebensfrage für die gesellschaftliche Ordnung«. Das klingt nicht radikal, nicht polemisch, sondern vernünftig – und ist doch in seinem semantischen Kern eine Ausgrenzungsformel. Denn wer Migration als existentielle Gefahr darstellt, erklärt den Migranten implizit zum Risiko. Sprache erzeugt Wirklichkeit.
Besonders perfide ist die Strategie des moralischen Reframings: In den Reden von Merz, Söder oder Dobrindt erscheint der Akt der Abschiebung nicht als Verstoß gegen Humanität, sondern als notwendiger Akt zur »Wahrung des gesellschaftlichen Zusammenhalts«. Hier wird sprachlich eine ethische Umkehrung vollzogen: Nicht die Ausgrenzung ist moralisch fragwürdig, sondern ihre Ablehnung. Wer helfen will, gefährdet angeblich die Ordnung. Es ist die rhetorische Vollendung des vorauseilenden Gehorsams. Ich darf ein Monster sein und mich gleichzeitig als vernünftiger Staatsbürger fühlen.
Ein weiteres Stilmittel dieser neuen Vertreibungsrhetorik ist die semantische Verschiebung durch Antithetik: Wer für »verantwortungsvolle Zuwanderung« ist, stellt sich – so die Logik – automatisch gegen »unkontrollierte Einwanderung«. Wer »Ordnung« fordert, lehnt angeblich das »Chaos« ab. Doch das Chaos ist eine rhetorische Projektion. Der Diskurs produziert seine eigenen Feindbilder, um die repressiven Maßnahmen als Reaktion erscheinen zu lassen.
Diese Techniken funktionieren, weil sie auf eine tief verwurzelte politische Kultur der Autoritätsgläubigkeit treffen – und weil große Teile der Medienlandschaft die Codierungen übernehmen, ohne sie zu hinterfragen. Wenn Politiker von »Überforderung der Kommunen« sprechen, titeln Nachrichtenseiten in Windeseile: »Bürgermeister schlagen Alarm«. Der Diskurs zirkuliert, er verdichtet sich, er verengt den Möglichkeitsraum.
Doch ein humanistischer Maßstab müsste auch hier gelten: Die Würde des Menschen ist unteilbar. Und wer die Sprache entmenschlicht, bereitet der Entwürdigung den Weg. Es ist Zeit, ihr die Worte zurückzunehmen – und mit Klarheit zu benennen, was geschieht: Es ist die kontrollierte Ersetzung des Mitgefühls durch Mechanismen der Verwaltung. Die Sprache macht den Weg frei.
II.
Die Sprache der Macht verrät, was sich hinter der Bühne der Beschlüsse formiert. Während Paragrafen noch diskutiert und Gesetzesentwürfe verhandelt werden, ist der sprachliche Boden oft längst bereitet. Was sich in der deutschen Migrationspolitik seit dem Amtsantritt von Friedrich Merz als Oppositionsführer, später als faktischer Kursgeber der politischen Mitte, entfaltet hat, ist mehr als eine Verschärfung. Es ist ein orchestrierter Bedeutungswandel. Dieser Wandel zeigt sich weniger im Lautstärkepegel öffentlicher Debatten als in der strukturellen Verschiebung von Begriffen: Migration ist nicht mehr Teil globaler Bewegungsrealitäten, sondern Bedrohung für »unsere Ordnung«. Asyl ist nicht mehr Menschenrecht, sondern Sicherheitsrisiko. Integration wird nicht als Prozess gegenseitiger Annäherung verstanden, sondern als einseitiger Beweis des Dazugehörens. Wer nicht passt, fällt durchs Raster – und das Raster wird enger.
Diese Form der Politik bedient sich einer autoritären Semantik, deren Ziel es ist, Deutungsmacht zu monopolisieren und Dissens zu delegitimieren. Was früher als kontroverse Meinung galt, wird heute als »naiv«, »ideologisch« oder »realitätsfern« etikettiert. Es ist eine subtile Entwaffnung der politischen Debatte durch sprachliche Pathologisierung. Der Raum des Sagbaren wird nicht durch Zensur verengt, sondern durch Konnotation.
Besonders auffällig ist die rhetorische Entkopplung politischer Verantwortung: Entscheidungen werden nicht mehr als Ergebnis normativer Aushandlung präsentiert, sondern als Sachzwang. »Wir müssen«, »Es bleibt uns nichts anderes übrig«, »Die Realität zwingt uns dazu« – diese Phrasen begegnen uns in fast jeder migrationspolitischen Erklärung. Was so klingt, als würde man nur umsetzen, was unausweichlich sei, ist in Wahrheit das rhetorische Grundgerüst für autoritäre Steuerung: Die Politik macht sich zum Exekutor angeblicher Notwendigkeiten.
In der Öffentlichkeit entsteht daraus der Eindruck, dass humanistische Positionen nicht mehr vertretbar, sondern maximal noch »privat legitim« seien. Der moralische Imperativ wird durch den funktionalen ersetzt. Aus Ethik wird Effizienz. Aus Recht wird Ordnung. Aus Gesellschaft wird Standort. Diese Transformation findet nicht auf der Straße statt, sondern im Satzbau.
Die autoritäre Rhetorik funktioniert deshalb so wirkungsvoll, weil sie sich nicht an Schreihälse bindet, sondern an Apparate. In Ministerialtexten, Gesetzentwürfen, Parteiprogrammen wird ein Verwaltungsdenken etabliert, das die politische Öffentlichkeit unterläuft. Es ist eine Sprache ohne Subjekt – eine Sprache der Strukturen. Und genau darin liegt ihre Gefahr: Sie präsentiert sich als neutral, obwohl sie normativ ist. Sie erscheint als notwendig, obwohl sie historisch kontingent ist. Sie klingt rational, obwohl sie ideologische Wirkung hat.
Übrigens war die Weltbühne stets ein Ort, an dem Macht durch Sprache entlarvt wurde. Diese Tradition fortzuführen, heißt heute: die neue Verwaltungsrhetorik auf ihre politische Substanz abzuklopfen. Denn hinter der sprachlichen Glätte verbirgt sich die härteste Zumutung unserer Zeit: Die systematische Verabschiedung vom politischen Streit als Raum für Alternativen.
III.
Wenn politische Sprache das Denken strukturiert, dann sind es die Medien, die diese Sprache vervielfältigen – selektiv, formatierend, rahmensetzend. Der Mythos einer objektiven, neutralen Berichterstattung wird vor allem dann zur Fassade, wenn gesellschaftliche Mehrheiten beginnen, Ausgrenzung als Ordnung zu verstehen. In diesen Momenten zeigt sich, was Noam Chomsky und Edward S. Herman in ihrem Propaganda-Modell eindringlich beschrieben haben: Die Presse in liberalen Demokratien mag formal unabhängig sein – funktional agiert sie häufig als Verstärker hegemonialer Macht.
Die fünf Filter, die Chomsky und Herman benennen – Eigentumsverhältnisse, Werbefinanzierung, Quellenprivilegien, Flak (organisierte Gegenmacht) und ideologische Feindbilder – sind in der deutschen Medienlandschaft deutlich erkennbar. Ihre Anwendung auf die aktuelle Migrationsberichterstattung offenbart ein System systematischer Verzerrung.
- Eigentumsverhältnisse: Ob Springer-Verlag, Burda Media oder RTL Group – die mediale Landschaft ist hoch konzentriert und geprägt von marktwirtschaftlicher Logik. Der Focus spricht vom »Asylchaos«, die Welt titelt »Deutschland verliert die Kontrolle« – nicht, weil es die Realität ist, sondern weil es Quote bringt und die Eigentümerinteressen affirmiert. Es geht um Stimmung, nicht Aufklärung. Der Apparat schreibt sich selbst.
- Werbefinanzierung: Klickzahlen und Reichweite diktieren Inhalte. Angst verkauft sich. Migration wird zum dauerhaften Trigger – verbunden mit Bildern nächtlicher Grenzübertritte, dramatischer Polizeieinsätze, »auffälliger Gruppen« auf Stadtplätzen. Das Problem: Diese Bilder sind oft nicht repräsentativ, aber wirkungsmächtig. Die Stereotype werden ins Publikum gedrückt wie Nachrichten. Dahinter stehen nicht selten Marktmechanismen, die jede Empathie delegitimieren, weil sie sich nicht in Reichweite umrechnen lässt.
- Nachrichtenquellen: Die systematische Privilegierung offizieller Quellen – Ministerien, Polizei, EU-Behörden – führt zu einem Journalismus, der Macht berichtet, nicht Menschen. NGOs, Betroffene, kritische Wissenschaftler kommen selten zu Wort. Sie stören die Stringenz der offiziellen Erzählung, die meist lautet: »Wir tun, was nötig ist.« Ein Journalismus, der systematisch auf Behördenhörigkeit trainiert wurde, verliert die Fähigkeit zur Gegenrede.
- Flak (Gegenmacht): Wer sich der herrschenden Ordnung widersetzt, spürt schnell die organisierte Empörung. Aktivisten, Seenotretter, linke Journalisten werden öffentlich diskreditiert – als »NGO-Lobby«, »Asylindustrie« oder »Migrationsromantiker«. Besonders in sozialen Medien, aber auch in Talkshows werden sie zur Zielscheibe. Diese Flak ist kein Nebenprodukt – sie ist Teil des Systems. Sie wirkt abschreckend. Sie verschiebt den Korridor des Sagbaren.
- Ideologische Feindbilder: Der »junge männliche Flüchtling« – am besten dunkelhäutig, des Deutschen nicht mächtig, religiös markiert – ist das zentrale Bild der medialen Feinderzählung. Der Einzelfall wird zur Allegorie, der Ausnahmefall zur Regel. Selbst in öffentlich-rechtlichen Formaten wird Migration kaum als globale Gerechtigkeitsfrage verhandelt, sondern als Problem der inneren Sicherheit. So wird Politik gemacht – durch das Fernsehen.
Die systematische Anwendung dieser Filter erzeugt ein Meinungsbild, das sich selbst bestätigt. Der Diskurs wird eng, die Abweichung delegitimiert, die komplexe Realität vereinfacht. Besonders problematisch ist dabei die Verwechslung von Pluralität mit Ausgewogenheit: Die »eine Seite« sagt dies, die »andere« das – als wären rassistische und menschenrechtliche Perspektiven gleichwertig. Was fehlt, ist die klare Parteinahme für das Humanum.
Ein humanistischer Journalismus beginnt dort, wo er sich nicht mit der Beobachtung begnügt, sondern sich seiner Verantwortung stellt. Das bedeutet: dem manipulativen Design der Nachricht entgegenzuwirken, nicht zur Verstärkung struktureller Gewalt beizutragen, sondern ihr entgegenzuschreiben. Es bedeutet, sich der Sprache zu verweigern, die entmenschlicht.
IV.
Die Grenzen der Exekutive werden nicht mehr nur in Gesetzen gezogen – sie werden diskursiv vorverlegt. Das bedeutet: Bevor ein Gesetz verabschiedet ist, bevor ein Erlass in Kraft tritt, sind seine Konsequenzen längst durch die Sprache legitimiert. Wer von »Belastungsgrenzen«, »Integrationsverweigerern« oder »unkontrollierten Strömen« spricht, bereitet nicht nur semantisch, sondern machtpolitisch den Boden für repressive Maßnahmen.
Diese diskursive Vorverlagerung funktioniert über drei ineinandergreifende Mechanismen: die sprachliche Konstruktion des Ausnahmezustands, die Entnormierung rechtlicher Standards und die naturalisierte Darstellung politischer Gewalt als Verwaltungsakt. In Summe ergibt sich daraus ein autoritäres Steuerungsmodell mit demokratischer Oberfläche.
Ein Beispiel: Als im Frühjahr 2025 die Einführung der bundesweiten Bezahlkarte für Asylsuchende beschlossen wurde, ging der Entscheidung ein monatelanger Diskurs über angeblichen »Asylmissbrauch«, »Geldtransfers in Herkunftsländer« und »Pull-Faktoren« voraus. Diese Begriffe schufen ein Klima, in dem die faktische Einschränkung von Bewegungs- und Konsumfreiheit als vernünftig, ja alternativlos erschien. Die Repression wurde zum Akt der Effizienz.
Die Bundesregierung verkaufte das Projekt als »Signal an jene, die unsere Hilfe missbrauchen wollen« (Nancy Faeser, SPD). Doch hinter dieser Formel verbirgt sich eine grundlegende Umkehr: Der Schutzsuchende wird nicht mehr als Mensch mit Rechten adressiert, sondern als potenzieller Störfaktor, dessen Verhalten korrigiert werden soll. Repression wird präventiv – nicht als Reaktion, sondern als Generalverdacht.
Dieser Wechsel von rechtlicher Reaktion zu vorsorgender Disziplinierung spiegelt sich auch im administrativen Design: Lagerstrukturen, verlängerte Abschiebehaft, Bewegungsverbote, Wohnsitzauflagen – all das wird nicht mehr als Eingriff betrachtet, sondern als »Lösung«. Und wer dagegen aufbegehrt, gilt als unvernünftig, als Ideologe oder – zunehmend – als Sicherheitsrisiko.
Diese Umdeutung der Norm zum Ausnahmefall ist gefährlich. Sie entzieht dem Recht seinen bindenden Charakter und macht die Verwaltung zur Instanz politischer Macht. Was in dieser Logik zählt, ist nicht das Subjekt, sondern die Funktion. Wer nicht zu funktionieren scheint, verliert seine Subjektqualität. Er wird zur Kategorie, zur Nummer, zum Fall.
Die diskursive Vorverlagerung der Repression hat noch eine zweite Wirkung: Sie entmachtet die demokratische Öffentlichkeit. Denn wenn politische Entscheidungen nicht mehr aus einem Streit um Werte hervorgehen, sondern als alternativlose Exekution inszeniert werden, dann wird das Politische selbst neutralisiert. In diesem Klima sind Kritik und Dissens keine legitimen Ausdrucksformen mehr, sondern Störungen einer als notwendig deklarierten Ordnung.
Die Verteidigung demokratischer Grundrechte beginnt daher nicht erst im Protest gegen konkrete Maßnahmen – sie beginnt in der Sprache. Wer das Sagbare verschiebt, verschiebt das Machbare. Und wer das Machbare einschränken will, muss das Sagbare zurückerobern. In diesem Sinne ist die Analyse der Rhetorik kein akademisches Beiwerk, sondern eine Form demokratischer Selbstverteidigung.
V.
Zwischen Zahlenkolonnen, Asylbilanzen und sicherheitspolitischen Rahmungen ist ein zentraler Aspekt aus dem migrationspolitischen Diskurs verschwunden: der Mensch. Die Transformation des Subjekts in ein Objekt staatlicher Kontrolle ist nicht bloß administrativ, sondern semantisch vollzogen worden. Aus Geflüchteten werden »Fälle«, aus Asylsuchenden »Kontingente«, aus Schutzbedürftigen »Antragssteller«. Das Individuum löst sich im Kollektivbild auf – ein Vorgang, der sprachlich schleichend, aber politisch konsequent verläuft.
Die humanitäre Perspektive, einst normativer Kern europäischer Flüchtlingspolitik, wird dabei nicht offen verworfen, sondern sprachlich entkernt. Man spricht von »Rückführungen«, nicht von Abschiebungen. Von »Resettlement«, nicht von Aufnahme. Von »Integrationsunwilligkeit«, nicht von biografischen Brüchen. In dieser Umdeutung geht nicht nur die Empathie verloren – es geht der Begriff von Würde selbst verloren.
Die Migrationspolitik der letzten Jahre wirkt in ihrer Logik wie eine Reparaturbürokratie für eine Gesellschaft, die sich vor der eigenen Auflösung fürchtet. Die Betroffenen dieser Politik – Menschen mit Namen, Geschichten, Verletzlichkeit – sind in der öffentlichen Darstellung entweder Täter oder Belastung. Nie aber Subjekt. Nie Dialogpartner. Nie Bürger im Warten.
Dabei gäbe es Alternativen. Es gäbe die Möglichkeit, Migration als Begegnung zu gestalten – nicht als Risiko. Es gäbe die Chance, aus der Fluchtgeschichte eine gemeinsame Erzählung zu machen – nicht eine administrative Abfolge. Und es gäbe die Pflicht, jeden Eingriff in die Freiheit als politischen Akt zu kennzeichnen – nicht als Verwaltungsroutine.
Was verloren gegangen ist, ist nicht nur der Blick auf den Anderen, sondern auch auf uns selbst. In der Art, wie wir über Migranten sprechen, offenbart sich unser Bild vom Menschlichen. Wer anderen das Recht auf Komplexität abspricht, vereinfacht nicht die Welt – er zerstört sie. Wer Migration auf Ordnung reduziert, entmenschlicht auch das Eigene.
Unsere Aufgabe sollte es sein, diesen Verlust zu benennen. Denn die Verteidigung des Humanums beginnt dort, wo man sich weigert, den Menschen zu abstrahieren. Die Sprache kann trennen. Aber sie kann auch erinnern: dass hinter jeder Kategorie ein Gesicht steht. Und hinter jedem Gesicht ein Anspruch auf Achtung.
VI.
Die politische Verrohung beginnt nicht erst im Gesetz – sie beginnt im Satz. Wer Migration entmenschlicht, schafft die Bedingungen für Entrechtung. Wer Sprache auf Effizienz trimmt, installiert die Grammatik der Verdrängung. Und wer Rhetorik als bloße Verpackung begreift, hat nicht verstanden, dass Worte Waffen sein können – ebenso wie Werkzeuge der Emanzipation.
Die Analyse politischer Rhetorik ist daher kein akademisches Ritual, sondern eine demokratische Notwendigkeit. Sie ist die Rückgewinnung dessen, was in Zeiten technokratischer Alternativlosigkeit verloren zu gehen droht: die Fähigkeit, Wirklichkeit zu hinterfragen, Macht zu benennen, Ideologie zu entlarven. In diesem Sinne ist die rhetorische Kritik kein Beiwerk, sondern Widerstand.
Widerstand durch Analyse heißt: das Sagbare zurückzuerobern, um das Denkbare zu erweitern – und damit das Handelbare. Sprache ist mehr als ein Werkzeug der Macht – sie ist auch Mittel der Befreiung.