Der oberste Kaffeesatzleser der Bundeswehr heißt Carsten Breuer, sein offizieller Titel ist »Generalinspekteur«. Als solcher erklärt er pausenlos jedem und jeder, egal ob sie es hören wollen oder nicht, dass Putin ab 2029 in der Lage ist, die Nato anzugreifen. Deshalb, so sein Fazit, muss die Personalstärke der Bundeswehr (von jetzt 183 000) auf 460 000 aufgestockt werden. Mag sein, dass er wirklich seine eigenen Prognosen glaubt, vielleicht ist er auch nur einer der üblichen Wichtigtuer. Verteidigungsminister Pistorius jedenfalls ist es gelungen, das Adjektiv »kriegstüchtig« wieder verwendungsfähig zu machen und unters Volk zu bringen. Immer wieder verkündet er, Deutschland müsse »einen Krieg führen« können. Man fragt sich: Weshalb nur führen? Bloßes »Krieg führen« ist ja nicht, wie man heute so schön sagt, zielführend. Warum sagt er nicht, dass Deutschland einen Krieg gewinnen müsse? Vermutlich, weil alle sofort das unausgesprochene »endlich mal« mithören würden.
Jedenfalls müsste, um die behauptete Soll-Stärke zu erreichen, die Wehrpflicht wieder eingeführt werden. CDU/CSU und AfD wünschen sich das sowieso, denn Kanzler Merz will die Bundeswehr »konventionell zur stärksten Armee Europas« machen. Die SPD dagegen setzt auf Freiwilligkeit – »zunächst«. Am 14. Mai sagte Pistorius im Bundestag: »Wir haben uns verabredet, dass wir zunächst auf Freiwilligkeit setzen, einen Wehrdienst schaffen, der zunächst auf Freiwilligkeit beruht und junge Menschen dazu animieren soll, Dienst für ihr Land zu leisten. Und ich sage ganz bewusst und ehrlich, die Betonung liegt auch auf zunächst, falls wir nicht hinreichend Freiwillige gewinnen können.« Soll heißen: Wenn sich nicht genügend Kanonenfutter freiwillig meldet, dann gibt es wieder, wie zwischen 1956 und 2011, die Gestellungsbefehle, vulgo: Einberufungsbescheide. Unterstellt man Pistorius, dass er ehrlich ist, dann muss man zugeben, dass er aber auch ein bisschen dumm ist. Oder er stellt sich nur dumm und tut so, als kenne er das Grundgesetz nicht, dann ist er nicht ehrlich.
Da laut Grundgesetz Artikel 3 Männer und Frauen gleichberechtigt sind und niemand wegen seines Geschlechts benachteiligt oder bevorzugt werden darf, müsste bei einer Revitalisierung des Wehrpflichtgesetzes dieses erst geändert werden. Dessen Paragraph 1 Absatz 1 erklärt: »Wehrpflichtig sind alle Männer vom vollendeten 18. Lebensjahr an, die Deutsche im Sinne des Grundgesetzes sind« – und stellt ganz offensichtlich einen Verstoß gegen Artikel 3 des Grundgesetzes dar. Dass das die Bundestagsabgeordneten bei der Einführung des Gesetzes 1956 übersehen haben, darf man ruhig ihrer damaligen Borniertheit (viele waren ja auch noch ehemalige Nazis) zuschreiben. Dass es dann aber über all die Jahre niemandem auffiel, ist schon blamabel. Allerdings widerspricht auch das Grundgesetz selbst seinem eigenen Art 3, nämlich im Artikel 12a, welcher in Absatz 1 besagt: »Männer können vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden«, und für Frauen in Absatz 4 festhält: »Sie dürfen auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe verpflichtet werden.« Ein Selbstwiderspruch in der Verfassung? So etwas muss man als Parlament auch erstmal hinbekommen.
Und das kam so: Als die Adenauer-Regierung zehn Jahre nach Kriegsende gegen den Willen der übergroßen Mehrheit des Volkes ganz undemokratisch die Wiederbewaffnung 1955 endlich durchgedrückt hatte, musste das Grundgesetz geändert werden. Dem damaligen Rechtsausschuss kam es darauf an, erklärte später die CDU-Abgeordnete Elisabeth Schwarzhaupt, »dass unsere Auffassung von der Natur und der Bestimmung der Frau einen Dienst mit der Waffe verbietet«. Zu dieser »Bestimmung« der Frau gehörte es seinerzeit, Leben zu schenken, statt zu vernichten. Irgendwie logisch, wenn man so will. Deshalb kamen Frauen, die sich freiwillig zur Bundeswehr meldeten, entweder zum Sanitätsdienst oder ins Musikkorps, aber nicht ans Gewehr oder in den Panzer.
Im Januar 2000 jedoch entschied der EuGH (nach Klage einer »gewaltbereiten« Frau), dass der Ausschluss der Frauen vom Dienst mit der Waffe gegen EU-Recht und dessen Grundsatz der Gleichstellung von Männern und Frauen verstößt. Die Bundeswehr musste nun Frauen auch zum Waffendienst zulassen, und immer mehr Frauen wurden Soldatinnen und lernten – hoch motiviert – schießen. Es gibt also keinen Grund mehr, aus dem Grundgesetz und Wehrpflichtgesetz nur Männer zum Kriegsdienst zu verpflichten, Frauen jedoch nicht. Würde eine echte Wehrpflicht wieder eingeführt, müsste logischerweise vorher nicht nur das Wehrpflichtgesetz, sondern auch der Artikel 12a im Grundgesetz geändert werden. Dazu wäre eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag erforderlich. Union, SPD und Grüne würden sie allein nicht zusammenbekommen. Die Linke aber wird so einer Änderung keinesfalls zustimmen. Bleibt nur noch die AfD. Die würde es natürlich mit Begeisterung tun. Aber können die Koalition, ihr Kriegsminister und ihre angebliche Brandmauer das wirklich wollen?
Es fällt doch auf, dass diese Frage in den seit Monaten anhaltenden Diskussionen über die Wiedereinführung der Wehrpflicht ignoriert wird, dass alle Wehr-, Verteidigungs- und Kriegspolitiker in den Parteien, alle Experten samt der journalistischen Meute, die sich des Themas annimmt, nach dem Motto des Lehrers Bömmel aus dem Film Die Feuerzangenbowle (von 1944) verfahren: »Da stelle ma uns mal janz dumm.« Und wie immer gehen sie davon aus, dass die Bevölkerung auch so dumm ist, wie sie sich stellen.
Es bleibt der Koalition am Ende nur die Hoffnung, dass, wenn ein junger Mann nach seiner Einberufung auf Grundlage von Grundgesetz Artikel 3 klagt, er werde verfassungswidrig »benachteiligt«, sich auch das Bundesverfassungsgericht ganz dumm stellt (ja, sogar das kommt immer wieder mal vor) und zur Entscheidung gelangt, dass diese Verpflichtung – aus welchen nicht nachvollziehbaren Gründen auch immer – keine Benachteiligung darstellt. Gegen eine solche oberste Dummheit wäre dann kein Kraut gewachsen. Carsten Breuer dürfte aufatmen. Was aber, wenn der Russe 2029 (wieder) nicht angreift? Dann haben ihn Merz und Pistorius so erfolgreich abgeschreckt, dass er sich eben nicht traut. Der Gedanke, dass er gar nicht will, ist nicht gestattet.