1.
Im Oktober 2023 zeigte ein SPIEGEL-Titelbild den damaligen Bundeskanzler Scholz über dem bekannt gewordenen Zitat »Wir müssen endlich im großen Stil abschieben.« Erneut kam er den AFD-Forderungen einen Schritt entgegen, um Wähler ins »demokratische Lager« zurückzuholen. Das vollständige Zitat lautete: »Wir müssen endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben.« Es ging (und geht) also um diejenigen, die kein Recht auf Aufenthalt hierzulande haben. Im Gespräch differenzierte Scholz: »Einerseits geht es um die Zuwanderung von Arbeitskräften, die wir brauchen. Und es geht um jene, die Asyl suchen, etwa weil sie politisch verfolgt werden. Andererseits heißt das aber: Wer weder zu der einen noch zu der anderen Gruppe gehört, kann nicht bei uns bleiben« (43/2023). Zehn Monate später erklärte Scholz im gleichen Magazin: »Wir dürfen uns aussuchen, wer zu uns kommen darf und wer nicht« (36/2024). Dass die übergroße Mehrheit der Deutschen diesem behaupteten »Recht auf Selektion« zustimmt, ist keine Vermutung, sondern durch zahllose Umfragen belegt. Vermutlich wird auch kaum jemand auch nur eine Sekunde darüber nachdenken, woher dieses vermeintliche Recht überhaupt kommt. Die meisten sind wahrscheinlich auch nicht gewillt, über so eine Frage nachzudenken. Die wohlfeile Antwort ist natürlich: Das geht doch aus den bestehenden Gesetzen hervor – dem Staatsangehörigkeitsgesetz, dem Aufenthaltsgesetz usw. Dass diese falsch sein könnten, kommt den wenigsten in den Sinn – obwohl man aus dem Geschichtsunterricht weiß, wieviel an falschem Recht von sogenannten Gesetzgebern im Laufe der Jahrhunderte schon produziert wurde. Das Ermächtigungsgesetz von 1933 ist nur das bekannteste Beispiel dafür, wie in der Demokratie ein Parlament einschließlich der »Mitte« (Zentrumspartei) mit einer katastrophalen Gesetzgebung dem Faschismus Tür und Tor öffnet. Dass ein demokratisch gewähltes Parlament etwas beschließt, ist also keine Garantie dafür, dass das Beschlossene etwas taugt. Am 31. Januar 2025 hätten CDU und CSU beinahe (wenn es nicht ein paar Abweichler gegeben hätte) zusammen mit der AfD ein »Zustrombegrenzungsgesetz« beschlossen, nachdem die AfD zwei Tage davor für einen Entschließungsantrag der Union zur Verschärfung der Migrationspolitik gestimmt hatte.
Trotzdem vertrauen fast alle auf das demokratische Procedere. Der wohl bedeutendste deutsche Sozialphilosoph, Jürgen Habermas, etwa betrachtet die Gesetze als Ergebnisse einer (idealerweise) »gemeinsamen Beratung«, die im Parlament und in der öffentlichen Diskussion stattfindet, so dass die Bürger »ihren Willen an genau die Gesetze binden, die sie sich in der Folge ihres diskursiv erzielten gemeinsamen Willens selber geben«. Der so gefundene »gemeinsame« politische Wille ist der aller zum demokratischen Nationalstaat gehörenden Menschen, genauer: aller mit einem deutschen Pass, die wahlberechtigt sind. Sie dürfen sich als die Urheber der geltenden Gesetze betrachten. Dieser seit Locke und Rousseau verbreiteten philosophischen Deutung der Demokratie folgt (im Großen und Ganzen) auch Habermas.
In seiner als Diskursethik (1983) berühmt gewordenen Moralphilosophie allerdings verlangt er, dass »nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten)«. Dies aber würde bedeuten, dass auch Asylbewerber als Betroffene an der Ausformulierung der Normen des Asylrechts des Landes, in dem sie Schutz suchen, beteiligt werden müssten. Das ist im bestehenden System der Nationalstaaten kaum durchführbar und völlig unrealistisch. Dennoch ist die diskursethische Forderung von Habermas plausibel und vernünftig, denn die Demokratie als Herrschaftsform nimmt ja für sich in Anspruch, ein ethisches Fundament zu haben. (Habermas selbst ist es nie aufgefallen, dass seine Theorie eine Antinomie enthält, d. h. gleichzeitig zwei Positionen, die nicht miteinander vereinbar sind.) Ob das demokratische Herrschaftssystem wirklich ein ethisches Fundament hat, bleibt zweifelhaft.
2.
Aus dieser kurzen philosophischen Betrachtung geht hervor, dass jede nationalstaatliche (oder, wie die EU, transnationale) Demokratie mit der globalen Migration von heute überfordert ist und außer inhumanen Ansätzen, etwa der von Olaf Scholz und so vielen anderen propagierten Selektion, keine Lösungen findet. Als 2015 fast eine Million Flüchtlinge nach Deutschland kamen, machten Kanzlerin Merkel mit dem Satz »Wir schaffen das« und ihr Innenminister Thomas de Maiziere mit der Anweisung an die Bundespolizei, keine Zurückweisungen an den Grenzen vorzunehmen, Geschichte. Diese Anweisung hob Innenminister Dobrindt am 7. Mai 2025 auf, sodass Asylbewerber an den Grenzen nun abgewiesen werden. Das ist zwar eine Verletzung von EU-Recht (Dublin-III-Verordnung) und der Genfer Flüchtlingskonvention (die Zurückweisungen verbietet), aber sein Rechtsbruch ist Dobrindt egal. Um noch wenigstens einen winzigen Anschein von Humanität zu wahren, behauptet Dobrindt, von ihm als »vulnerable Gruppen« definierte Menschen (Kranke, Kinder, Schwangere) würden nicht abweisen, was jedoch nicht stimmt. Ein Berliner Verwaltungsgericht erklärte die Zurückweisung von drei Personen aus Somalia (Pro Asyl: »unter ihnen eine 16-Jährige aus Somalia, die sich aufgrund ihrer Verletzungen kaum noch fortbewegen konnte«) für rechtswidrig. Wie Scholz mit seinem »Wir dürfen uns aussuchen« geht es auch Dobrindt um die AfD und deren wachsende Popularität. Seit Jahren hetzt sie gegen Migranten, den von ihr erfundenen Ausdruck »illegale Migration« haben die meisten Politiker und Journalisten bereits gedankenlos übernommen. Im Hintergrund steht immer der Verdacht, Ausländer, die bloß vorgeben, politisch verfolgt oder in Not zu sein, wollten nur »in unsere sozialen Sicherungssysteme einwandern« und »unseren Sozialstaat« ausnutzen. (So liest man es z. B. in Focus, BILD, FAZ, Cicero, Tichys Einblick, Junge Freiheit, Welt in hässlicherer Regelmäßigkeit.) Katrin Ebner-Steiner, die AfD-Fraktionsvorsitzende im Bayerischen Landtag, spricht vom einem »Millionenheer oft Un- und Geringqualifizierter«. Dobrindt, Merz und Klingbeil sehen es nicht anders, nur bedienen sie sich einer anderen Diktion. Kurzum: Es geht um »unser Geld« und »unseren Wohlstand«, der mit der Wirtschaftsflaute angeblich ohnehin schon in Gefahr ist. Dass aber die »Unterscheidung zwischen dem politisch verfolgten Flüchtling und dem Wirtschaftsmigranten« sowieso keinen Sinn ergibt, schreibt die Philosophin Seyla Benhabib in ihrem Buch Kosmopolitismus im Wandel (2024). »Angesichts der langen Geschichte des europäischen Imperialismus in Afrika, Südamerika und dem Rest der Welt ist diese Unterscheidung zwischen dem unehrenhaften Wirtschaftsmigranten und dem ehrenwerten politischen Flüchtling heuchlerisch und unhaltbar.«
3.
Jeder halbwegs informierte Mensch weiß, dass das heutige internationale Staatensystem mit seinen extremen Ungleichheiten das Produkt des Kolonialismus und des Imperialismus der europäischen Mächte ist, die in den Ländern des Globalen Südens Unterentwicklung und Armut gezielt herbeiführten. Und sie tun es noch immer; die EU subventioniert ihre Landwirtschaften massiv; diese verkaufen ihre überschüssigen Produkte zu Dumpingpreisen nach Afrika und ruinieren damit die Lebensgrundlage der dortigen Bauern. Wenn diese dann nach Europa fliehen, gelten sie als »Armutsflüchtlinge«, die nur dem Hungertod entkommen wollen, aber nicht politisch verfolgt sind. Wie zynisch. Die EU bekämpft also nicht Fluchtursachen, sie schafft sie. Jedermann weiß auch, dass der Sozialhilfeempfänger in Europa sein T-Shirt nur deshalb so billig bei KiK oder Primark kaufen kann, weil es in Sklavenarbeit in Ländern der Dritten Welt hergestellt wird. Und das Coltan für die IT-Branche wird von Kindern in Minen in Kongo mit der Hand ausgegraben. »Unser Wohlstand« in der ersten Welt beruht auf der im 18. und im 19. Jahrhundert von »uns«« hergestellten Armut der Dritten Welt. Und deren Menschen fallen nun als Armutsmigranten, »die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben« (Olaf Scholz), der Selektion zum Opfer. Gleichzeitig brauchen wir für »unseren Wohlstand« aufgrund der demographischen Entwicklung Arbeitskräfte aus den armen Ländern, am besten gut ausgebildete. 2024 reiste die damalige Innenministerin Faeser nach Marokko, um junge, dringend benötigte Pflegekräfte nach Deutschland abzuwerben. Der marokkanische Ökonom und Migrationsexperte Mehdi Lahlou vom National Institute of Statistics and Applied Economics (INSEA) in Rabat sagt dazu: »Länder wie Marokko gehen als Verlierer hervor. Denn sie verlieren gut ausgebildete Menschen, und so verliert das Land die Chance sich zu entwickeln.« Dagegen nennt es der deutsche Professor für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht Daniel Thym in seinem Buch Migration steuern. Eine Anleitung für das hier und jetzt (2025) »Triple win«. Der dreifache Gewinn bestehe darin, dass Deutschland, die Herkunftsländer und die Arbeitskräfte von der Migration profitierten. »Während einige dauerhaft im Zielland bleiben, kehren andere mit dem Geld und den gesammelten Erfahrungen zurück, um in der Heimat etwas aufzubauen.«
So kann man sich die Selektion schönreden.
4.
Neben der Abwerbung von Fachkräften verhandelte Faeser in Marokko auch darüber, ob die Regierung dauerhaft aus Deutschland abgeschobene Flüchtlinge in Lagern unterbringen würde, für entsprechende finanzielle Gegenleistung natürlich. Das Selektionsmodell sieht verkürzt formuliert so aus: der Globale Süden schickt seine ausgebildeten jungen Menschen in die reichen Länder der ersten Welt und nimmt diesen (gegen Geld) die dort unbrauchbaren Armutsflüchtlinge ab. Auch die christlichen Unionsparteien setzen sich für das »Ruanda-Modell« ein. Im Februar 2024 reiste Dobrindt, damals Vorsitzender der CSU-Landesgruppe im Bundestag, nach Ruanda, wo er einen »Asylpakt« mit dem ostafrikanischen Land forderte. »Ruanda ist ein Land, mit dem wir eine Drittstaaten-Lösung erreichen können«, erklärte Dobrindt. Nach Dobrindt- und CSU-Vorstellungen sollten Asylbewerber aus Deutschland nach Ruanda verfrachtet werden, dort ihre Asylverfahren durchlaufen und als akzeptierte, wie als abgelehnte Bewerber auf Dauer dortbleiben. Denn, so Dobrindt, »Schutz durch Europa muss nicht Schutz in Europa heißen« (FAZ, 01.03.2024). Ruanda, sagte er dem Münchner Merkur, sei »organisatorisch, politisch und gesellschaftlich« dazu in der Lage. Ein Land, dessen Inlandsprodukt 4,5 Prozent des deutschen beträgt, soll leisten, womit die deutschen Kommunen »überfordert« sind? Heute kommt der Kolonialherr nicht mehr mit der Nilpferdpeitsche, sondern mit dem Scheckbuch oder einem Batzen Geld, aber noch immer ist er der fürchterliche Christ. Als solcher erfindet er wohlklingende Euphemismen, also beschönigende Phrasen wie »Talentpartnerschaften« und »Migrationspartnerschaften«. Bei all diesen Plänen geht es immer nur um die Verwendbarkeit, d. h. Verwertbarkeit von Menschen (Fachkräften) und um die Frage, was man mit dem nicht verwertbaren menschlichen Rest (Abfall) macht, der in »unsere Sozialsysteme« einwandern möchte. Würde man einem Scholz oder Dobrindt erklären, weshalb ihrer Selektionspolitik die totale Verdinglichung von Menschen und die Verletzung der Menschenwürde zugrunde liegt, die schon Immanuel Kant als ethisch absolut verwerflich beschrieben hat, sie würden es vermutlich so wenig kapieren wie die AfD-Politiker. In der derzeit herrschenden Migrationspolitik werden Menschen wie Gegenstände, wie bloßes »steuerbares« Material betrachtet. Benötigt man es und kann man es brauchen, dann her damit. Ist es unbrauchbar und wertlos, dann weg damit. Die Menschenwürde ist antastbar. Auch deutsche Politiker haben das Antasten immer schon meisterhaft beherrscht.