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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die Selektion

1.

Im Okto­ber 2023 zeig­te ein SPIEGEL-Titel­bild den dama­li­gen Bun­des­kanz­ler Scholz über dem bekannt gewor­de­nen Zitat »Wir müs­sen end­lich im gro­ßen Stil abschie­ben.« Erneut kam er den AFD-For­de­run­gen einen Schritt ent­ge­gen, um Wäh­ler ins »demo­kra­ti­sche Lager« zurück­zu­ho­len. Das voll­stän­di­ge Zitat lau­te­te: »Wir müs­sen end­lich im gro­ßen Stil die­je­ni­gen abschie­ben, die kein Recht haben, in Deutsch­land zu blei­ben.« Es ging (und geht) also um die­je­ni­gen, die kein Recht auf Auf­ent­halt hier­zu­lan­de haben. Im Gespräch dif­fe­ren­zier­te Scholz: »Einer­seits geht es um die Zuwan­de­rung von Arbeits­kräf­ten, die wir brau­chen. Und es geht um jene, die Asyl suchen, etwa weil sie poli­tisch ver­folgt wer­den. Ande­rer­seits heißt das aber: Wer weder zu der einen noch zu der ande­ren Grup­pe gehört, kann nicht bei uns blei­ben« (43/​2023). Zehn Mona­te spä­ter erklär­te Scholz im glei­chen Maga­zin: »Wir dür­fen uns aus­su­chen, wer zu uns kom­men darf und wer nicht« (36/​2024). Dass die über­gro­ße Mehr­heit der Deut­schen die­sem behaup­te­ten »Recht auf Selek­ti­on« zustimmt, ist kei­ne Ver­mu­tung, son­dern durch zahl­lo­se Umfra­gen belegt. Ver­mut­lich wird auch kaum jemand auch nur eine Sekun­de dar­über nach­den­ken, woher die­ses ver­meint­li­che Recht über­haupt kommt. Die mei­sten sind wahr­schein­lich auch nicht gewillt, über so eine Fra­ge nach­zu­den­ken. Die wohl­fei­le Ant­wort ist natür­lich: Das geht doch aus den bestehen­den Geset­zen her­vor – dem Staats­an­ge­hö­rig­keits­ge­setz, dem Auf­ent­halts­ge­setz usw. Dass die­se falsch sein könn­ten, kommt den wenig­sten in den Sinn – obwohl man aus dem Geschichts­un­ter­richt weiß, wie­viel an fal­schem Recht von soge­nann­ten Gesetz­ge­bern im Lau­fe der Jahr­hun­der­te schon pro­du­ziert wur­de. Das Ermäch­ti­gungs­ge­setz von 1933 ist nur das bekann­te­ste Bei­spiel dafür, wie in der Demo­kra­tie ein Par­la­ment ein­schließ­lich der »Mit­te« (Zen­trums­par­tei) mit einer kata­stro­pha­len Gesetz­ge­bung dem Faschis­mus Tür und Tor öff­net. Dass ein demo­kra­tisch gewähl­tes Par­la­ment etwas beschließt, ist also kei­ne Garan­tie dafür, dass das Beschlos­se­ne etwas taugt. Am 31. Janu­ar 2025 hät­ten CDU und CSU bei­na­he (wenn es nicht ein paar Abweich­ler gege­ben hät­te) zusam­men mit der AfD ein »Zustrom­be­gren­zungs­ge­setz« beschlos­sen, nach­dem die AfD zwei Tage davor für einen Ent­schlie­ßungs­an­trag der Uni­on zur Ver­schär­fung der Migra­ti­ons­po­li­tik gestimmt hatte.

Trotz­dem ver­trau­en fast alle auf das demo­kra­ti­sche Pro­ce­de­re. Der wohl bedeu­tend­ste deut­sche Sozi­al­phi­lo­soph, Jür­gen Haber­mas, etwa betrach­tet die Geset­ze als Ergeb­nis­se einer (idea­ler­wei­se) »gemein­sa­men Bera­tung«, die im Par­la­ment und in der öffent­li­chen Dis­kus­si­on statt­fin­det, so dass die Bür­ger »ihren Wil­len an genau die Geset­ze bin­den, die sie sich in der Fol­ge ihres dis­kur­siv erziel­ten gemein­sa­men Wil­lens sel­ber geben«. Der so gefun­de­ne »gemein­sa­me« poli­ti­sche Wil­le ist der aller zum demo­kra­ti­schen Natio­nal­staat gehö­ren­den Men­schen, genau­er: aller mit einem deut­schen Pass, die wahl­be­rech­tigt sind. Sie dür­fen sich als die Urhe­ber der gel­ten­den Geset­ze betrach­ten. Die­ser seit Locke und Rous­se­au ver­brei­te­ten phi­lo­so­phi­schen Deu­tung der Demo­kra­tie folgt (im Gro­ßen und Gan­zen) auch Habermas.

In sei­ner als Dis­kurs­ethik (1983) berühmt gewor­de­nen Moral­phi­lo­so­phie aller­dings ver­langt er, dass »nur die Nor­men Gel­tung bean­spru­chen dür­fen, die die Zustim­mung aller Betrof­fe­nen als Teil­neh­mer eines prak­ti­schen Dis­kur­ses fin­den (oder fin­den könn­ten)«. Dies aber wür­de bedeu­ten, dass auch Asyl­be­wer­ber als Betrof­fe­ne an der Aus­for­mu­lie­rung der Nor­men des Asyl­rechts des Lan­des, in dem sie Schutz suchen, betei­ligt wer­den müss­ten. Das ist im bestehen­den System der Natio­nal­staa­ten kaum durch­führ­bar und völ­lig unrea­li­stisch. Den­noch ist die dis­kurs­ethi­sche For­de­rung von Haber­mas plau­si­bel und ver­nünf­tig, denn die Demo­kra­tie als Herr­schafts­form nimmt ja für sich in Anspruch, ein ethi­sches Fun­da­ment zu haben. (Haber­mas selbst ist es nie auf­ge­fal­len, dass sei­ne Theo­rie eine Anti­no­mie ent­hält, d. h. gleich­zei­tig zwei Posi­tio­nen, die nicht mit­ein­an­der ver­ein­bar sind.) Ob das demo­kra­ti­sche Herr­schafts­sy­stem wirk­lich ein ethi­sches Fun­da­ment hat, bleibt zweifelhaft.

2.

Aus die­ser kur­zen phi­lo­so­phi­schen Betrach­tung geht her­vor, dass jede natio­nal­staat­li­che (oder, wie die EU, trans­na­tio­na­le) Demo­kra­tie mit der glo­ba­len Migra­ti­on von heu­te über­for­dert ist und außer inhu­ma­nen Ansät­zen, etwa der von Olaf Scholz und so vie­len ande­ren pro­pa­gier­ten Selek­ti­on, kei­ne Lösun­gen fin­det. Als 2015 fast eine Mil­li­on Flücht­lin­ge nach Deutsch­land kamen, mach­ten Kanz­le­rin Mer­kel mit dem Satz »Wir schaf­fen das« und ihr Innen­mi­ni­ster Tho­mas de Mai­zie­re mit der Anwei­sung an die Bun­des­po­li­zei, kei­ne Zurück­wei­sun­gen an den Gren­zen vor­zu­neh­men, Geschich­te. Die­se Anwei­sung hob Innen­mi­ni­ster Dob­rindt am 7. Mai 2025 auf, sodass Asyl­be­wer­ber an den Gren­zen nun abge­wie­sen wer­den. Das ist zwar eine Ver­let­zung von EU-Recht (Dub­lin-III-Ver­ord­nung) und der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on (die Zurück­wei­sun­gen ver­bie­tet), aber sein Rechts­bruch ist Dob­rindt egal. Um noch wenig­stens einen win­zi­gen Anschein von Huma­ni­tät zu wah­ren, behaup­tet Dob­rindt, von ihm als »vul­nerable Grup­pen« defi­nier­te Men­schen (Kran­ke, Kin­der, Schwan­ge­re) wür­den nicht abwei­sen, was jedoch nicht stimmt. Ein Ber­li­ner Ver­wal­tungs­ge­richt erklär­te die Zurück­wei­sung von drei Per­so­nen aus Soma­lia (Pro Asyl: »unter ihnen eine 16-Jäh­ri­ge aus Soma­lia, die sich auf­grund ihrer Ver­let­zun­gen kaum noch fort­be­we­gen konn­te«) für rechts­wid­rig. Wie Scholz mit sei­nem »Wir dür­fen uns aus­su­chen« geht es auch Dob­rindt um die AfD und deren wach­sen­de Popu­la­ri­tät. Seit Jah­ren hetzt sie gegen Migran­ten, den von ihr erfun­de­nen Aus­druck »ille­ga­le Migra­ti­on« haben die mei­sten Poli­ti­ker und Jour­na­li­sten bereits gedan­ken­los über­nom­men. Im Hin­ter­grund steht immer der Ver­dacht, Aus­län­der, die bloß vor­ge­ben, poli­tisch ver­folgt oder in Not zu sein, woll­ten nur »in unse­re sozia­len Siche­rungs­sy­ste­me ein­wan­dern« und »unse­ren Sozi­al­staat« aus­nut­zen. (So liest man es z. B. in Focus, BILD, FAZ, Cice­ro, Tichys Ein­blick, Jun­ge Frei­heit, Welt in häss­li­che­rer Regel­mä­ßig­keit.) Kat­rin Ebner-Stei­ner, die AfD-Frak­ti­ons­vor­sit­zen­de im Baye­ri­schen Land­tag, spricht vom einem »Mil­lio­nen­heer oft Un- und Gering­qua­li­fi­zier­ter«. Dob­rindt, Merz und Kling­beil sehen es nicht anders, nur bedie­nen sie sich einer ande­ren Dik­ti­on. Kurz­um: Es geht um »unser Geld« und »unse­ren Wohl­stand«, der mit der Wirt­schafts­flau­te angeb­lich ohne­hin schon in Gefahr ist. Dass aber die »Unter­schei­dung zwi­schen dem poli­tisch ver­folg­ten Flücht­ling und dem Wirt­schafts­mi­gran­ten« sowie­so kei­nen Sinn ergibt, schreibt die Phi­lo­so­phin Sey­la Ben­ha­bib in ihrem Buch Kos­mo­po­li­tis­mus im Wan­del (2024). »Ange­sichts der lan­gen Geschich­te des euro­päi­schen Impe­ria­lis­mus in Afri­ka, Süd­ame­ri­ka und dem Rest der Welt ist die­se Unter­schei­dung zwi­schen dem uneh­ren­haf­ten Wirt­schafts­mi­gran­ten und dem ehren­wer­ten poli­ti­schen Flücht­ling heuch­le­risch und unhaltbar.«

3.

Jeder halb­wegs infor­mier­te Mensch weiß, dass das heu­ti­ge inter­na­tio­na­le Staa­ten­sy­stem mit sei­nen extre­men Ungleich­hei­ten das Pro­dukt des Kolo­nia­lis­mus und des Impe­ria­lis­mus der euro­päi­schen Mäch­te ist, die in den Län­dern des Glo­ba­len Südens Unter­ent­wick­lung und Armut gezielt her­bei­führ­ten. Und sie tun es noch immer; die EU sub­ven­tio­niert ihre Land­wirt­schaf­ten mas­siv; die­se ver­kau­fen ihre über­schüs­si­gen Pro­duk­te zu Dum­ping­prei­sen nach Afri­ka und rui­nie­ren damit die Lebens­grund­la­ge der dor­ti­gen Bau­ern. Wenn die­se dann nach Euro­pa flie­hen, gel­ten sie als »Armuts­flücht­lin­ge«, die nur dem Hun­ger­tod ent­kom­men wol­len, aber nicht poli­tisch ver­folgt sind. Wie zynisch. Die EU bekämpft also nicht Flucht­ur­sa­chen, sie schafft sie. Jeder­mann weiß auch, dass der Sozi­al­hil­fe­emp­fän­ger in Euro­pa sein T-Shirt nur des­halb so bil­lig bei KiK oder Pri­mark kau­fen kann, weil es in Skla­ven­ar­beit in Län­dern der Drit­ten Welt her­ge­stellt wird. Und das Col­tan für die IT-Bran­che wird von Kin­dern in Minen in Kon­go mit der Hand aus­ge­gra­ben. »Unser Wohl­stand« in der ersten Welt beruht auf der im 18. und im 19. Jahr­hun­dert von »uns«« her­ge­stell­ten Armut der Drit­ten Welt. Und deren Men­schen fal­len nun als Armuts­mi­gran­ten, »die kein Recht haben, in Deutsch­land zu blei­ben« (Olaf Scholz), der Selek­ti­on zum Opfer. Gleich­zei­tig brau­chen wir für »unse­ren Wohl­stand« auf­grund der demo­gra­phi­schen Ent­wick­lung Arbeits­kräf­te aus den armen Län­dern, am besten gut aus­ge­bil­de­te. 2024 rei­ste die dama­li­ge Innen­mi­ni­ste­rin Faeser nach Marok­ko, um jun­ge, drin­gend benö­tig­te Pfle­ge­kräf­te nach Deutsch­land abzu­wer­ben. Der marok­ka­ni­sche Öko­nom und Migra­ti­ons­exper­te Meh­di Lahl­ou vom Natio­nal Insti­tu­te of Sta­tis­tics and Applied Eco­no­mics (INSEA) in Rabat sagt dazu: »Län­der wie Marok­ko gehen als Ver­lie­rer her­vor. Denn sie ver­lie­ren gut aus­ge­bil­de­te Men­schen, und so ver­liert das Land die Chan­ce sich zu ent­wickeln.« Dage­gen nennt es der deut­sche Pro­fes­sor für Öffent­li­ches Recht, Euro­pa- und Völ­ker­recht Dani­el Thym in sei­nem Buch Migra­ti­on steu­ern. Eine Anlei­tung für das hier und jetzt (2025) »Tri­ple win«. Der drei­fa­che Gewinn bestehe dar­in, dass Deutsch­land, die Her­kunfts­län­der und die Arbeits­kräf­te von der Migra­ti­on pro­fi­tier­ten. »Wäh­rend eini­ge dau­er­haft im Ziel­land blei­ben, keh­ren ande­re mit dem Geld und den gesam­mel­ten Erfah­run­gen zurück, um in der Hei­mat etwas aufzubauen.«

So kann man sich die Selek­ti­on schönreden.

4.

Neben der Abwer­bung von Fach­kräf­ten ver­han­del­te Faeser in Marok­ko auch dar­über, ob die Regie­rung dau­er­haft aus Deutsch­land abge­scho­be­ne Flücht­lin­ge in Lagern unter­brin­gen wür­de, für ent­spre­chen­de finan­zi­el­le Gegen­lei­stung natür­lich. Das Selek­ti­ons­mo­dell sieht ver­kürzt for­mu­liert so aus: der Glo­ba­le Süden schickt sei­ne aus­ge­bil­de­ten jun­gen Men­schen in die rei­chen Län­der der ersten Welt und nimmt die­sen (gegen Geld) die dort unbrauch­ba­ren Armuts­flücht­lin­ge ab. Auch die christ­li­chen Uni­ons­par­tei­en set­zen sich für das »Ruan­da-Modell« ein. Im Febru­ar 2024 rei­ste Dob­rindt, damals Vor­sit­zen­der der CSU-Lan­des­grup­pe im Bun­des­tag, nach Ruan­da, wo er einen »Asyl­pakt« mit dem ost­afri­ka­ni­schen Land for­der­te. »Ruan­da ist ein Land, mit dem wir eine Dritt­staa­ten-Lösung errei­chen kön­nen«, erklär­te Dob­rindt. Nach Dob­rindt- und CSU-Vor­stel­lun­gen soll­ten Asyl­be­wer­ber aus Deutsch­land nach Ruan­da ver­frach­tet wer­den, dort ihre Asyl­ver­fah­ren durch­lau­fen und als akzep­tier­te, wie als abge­lehn­te Bewer­ber auf Dau­er dort­blei­ben. Denn, so Dob­rindt, »Schutz durch Euro­pa muss nicht Schutz in Euro­pa hei­ßen« (FAZ, 01.03.2024). Ruan­da, sag­te er dem Münch­ner Mer­kur, sei »orga­ni­sa­to­risch, poli­tisch und gesell­schaft­lich« dazu in der Lage. Ein Land, des­sen Inlands­pro­dukt 4,5 Pro­zent des deut­schen beträgt, soll lei­sten, womit die deut­schen Kom­mu­nen »über­for­dert« sind? Heu­te kommt der Kolo­ni­al­herr nicht mehr mit der Nil­pferd­peit­sche, son­dern mit dem Scheck­buch oder einem Bat­zen Geld, aber noch immer ist er der fürch­ter­li­che Christ. Als sol­cher erfin­det er wohl­klin­gen­de Euphe­mis­men, also beschö­ni­gen­de Phra­sen wie »Talent­part­ner­schaf­ten« und »Migra­ti­ons­part­ner­schaf­ten«. Bei all die­sen Plä­nen geht es immer nur um die Ver­wend­bar­keit, d. h. Ver­wert­bar­keit von Men­schen (Fach­kräf­ten) und um die Fra­ge, was man mit dem nicht ver­wert­ba­ren mensch­li­chen Rest (Abfall) macht, der in »unse­re Sozi­al­sy­ste­me« ein­wan­dern möch­te. Wür­de man einem Scholz oder Dob­rindt erklä­ren, wes­halb ihrer Selek­ti­ons­po­li­tik die tota­le Ver­ding­li­chung von Men­schen und die Ver­let­zung der Men­schen­wür­de zugrun­de liegt, die schon Imma­nu­el Kant als ethisch abso­lut ver­werf­lich beschrie­ben hat, sie wür­den es ver­mut­lich so wenig kapie­ren wie die AfD-Poli­ti­ker. In der der­zeit herr­schen­den Migra­ti­ons­po­li­tik wer­den Men­schen wie Gegen­stän­de, wie blo­ßes »steu­er­ba­res« Mate­ri­al betrach­tet. Benö­tigt man es und kann man es brau­chen, dann her damit. Ist es unbrauch­bar und wert­los, dann weg damit. Die Men­schen­wür­de ist antast­bar. Auch deut­sche Poli­ti­ker haben das Anta­sten immer schon mei­ster­haft beherrscht.

 

Ausgabe 15.16/2025