Vor einem halben Jahrhundert, im Sommer 1975, hatte es manchmal den Anschein, als sei der Vietnam-Krieg nichts als ein aberwitziger Albtraum, gewebt aus Erinnerungen, die verdrängt gehörten. Die Feuerwände aus Napalm, der Regen aus Dioxin über dem Dschungel, die 1968 in der südvietnamesischen Gemeinde My Lai von GIs massakrierten Frauen und Kinder, 26 Millionen Bombenkrater landesweit.
Dann jedoch, auf einmal, wirkt all das weniger quälend und verblasst geradezu. Die Tragödie der »Boat People« zieht die Welt in ihren Bann. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre verlassen Hunderttausende ihr Geburtsland Vietnam, das nach 30 Jahren Krieg einem ökonomischen Siechtum verfällt, wie es der siegreiche kommunistische Norden befürchtet, aber in diesem Ausmaß nicht erwartet hat. Bis April 1973 haben die USA gemäß dem Pariser Vietnam-Abkommen ihre Kampfverbände (zuletzt 500.000 Mann) vollständig abgezogen. Die letzten Marines, CIA-Mitarbeiter und Diplomaten entschwinden im Frühjahr 1975, als die nordvietnamesische Armee und die Befreiungsfront FLN (»Vietcong«) den Süden erobern. Am 30. April setzt der Fall Saigons den Schlusspunkt.
In den folgenden Jahren suchen etwa eine Million Menschen ihr Heil in Flucht und Migration. Dieser Strom verebbt erst 1983, als Übereinkünfte der vietnamesischen Behörden mit dem UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) eine sichere und legale Ausreise vorsehen, sich zugleich die Lebensverhältnisse nicht weiter verschlechtern. Bis dahin sind auf den Philippinen, in Malaysia, Thailand, Macao, Singapur und Indonesien etwa 480.000 »Boat People« registriert, die eine riskante Flucht über das Südchinesische Meer hinter sich haben. In der Regel besteigen sie an der südvietnamesischen Küste Motorboote oder Fischkutter – nicht selten rostige Seelenverkäufer – und landen in Notcamps der südostasiatischen Nachbarschaft. Als »Vietnam-Flüchtlinge« werden in ihnen weniger Kriegs- als Systemopfer eines repressiven kommunistischen Regimes gesehen. Ihnen schlägt deshalb eine Welle des Mitgefühls und der Sympathie entgegen. Sie können darauf hoffen, in Westeuropa oder den USA aufgenommen zu werden. Hunderttausende – es gibt bis heute nur Schätzungen – werden nie so weit kommen. Sie sterben, wenn an Bord Trinkwasser und Lebensmittel vor der Zeit ausgehen; sie ertrinken, wenn schwere See ihr Boot kentern lässt. Sie werden im Golf von Thailand zur Beute von Piraten – ausgeraubt, erschossen, über Bord geworfen. Die Schnellboote der Freibeuter ziehen die Schiffe der Flüchtlinge mit hoher Geschwindigkeit hinter sich her, bis sie volllaufen und die Schreie von Kindern und Frauen im wild tanzenden Spiel der Wellen verstummen.
Zum Vorspiel dieses Exodus wird 1975 die letzte Phase des Vietnamkrieges, als sich der Vormarsch von nordvietnamesischen Verbänden auf Städte und Stützpunkte im Süden von Tag zu Tag beschleunigt. Am 29. März 1975 fällt mit Da Nang die zweitgrößte Stadt Südvietnams und erlebt ein für diese Zeit exemplarisches Drama. Da Nang wird weniger erobert, als dass es Chaos und Panik erliegt. An den Gestaden, wo zehn Jahre zuvor mit der Landung der ersten US-Marines Amerikas Weg in den Krieg begann, kämpfen nun südvietnamesische Soldaten mit verängstigten Zivilisten um den Platz auf Fähren und Lastkähnen, die nach Vung Tau oder Saigon auslaufen, wo es möglich scheint, das Land zu verlassen – keine unberechtigte Annahme. Die Amerikaner kreuzen mit Flugzeugträgern und Zerstörern vor der Küste Südvietnams. Als sich der Kollaps des dortigen Regimes abzeichnet, werden im März/April 1975 etwa 150.000 Südvietnamesen von in Saigon verbliebenem US-Personal evakuiert: Minister und Beamte des Präsident Nguyen Văn Thiệu, hohe Offiziere, Geheimdienstler und Verhörspezialisten, Dienstpersonal der Amerikaner von Dolmetschern über Köche bis zu Fahrern, die großen und kleinen Gehilfen eines Systems, das am Ende ist. Zwar versprechen die designierten Sieger Milde und Aussöhnung, kündigen aber zugleich Umerziehungslager und Enteignungen an. Wer sich dem nicht aussetzen will, der geht. In der sich abzeichnenden Nachkriegsgesellschaft werden Privilegien und Wohlstand nicht zu halten, für Jahre, vielleicht Jahrzehnte, nur Mangel und Entbehrung zu haben sein.
Bis zuletzt präsentiert sich Saigon als vorzüglich bestückter Supermarkt, für dessen Sortiment die Amerikaner aufkommen. Schon 1973, dem Jahr des US-Abzugs, sind nur noch drei Prozent der Importe Südvietnams durch dessen Ausfuhren gedeckt. Was an Konsumgütern verbraucht wird, stammt zu neun Zehnteln aus dem Ausland. An Saigons Geschäftsauslagen prangen chinesische Schriftzeichen (die chinesische Community Saigons ist mit 300.000 Haushalten groß), die sich mit »Geschenk des Westens« übersetzen lassen. Unter den Amerikaner ist die Bevölkerung der Stadt innerhalb eines Jahrzehnts von 500.000 auf 3,5 Millionen gestiegen. So viel ist klar – diesem krass über seine Verhältnisse lebenden Gemeinwesen wird keine Zukunft beschieden sein. Der politische Verfall und ökonomische Zustand sind zwei Seiten des gleichen Bankrotts. Dass die Amerikaner den hinauszögern wollen, resultiert aus dem schlechten Gewissen gegenüber dem verbündeten südvietnamesischen Antikommunismus, ist aber gleichermaßen ein Akt der Vorsorge, um nicht derart unter Druck zu geraten, dass eine erneute Militärintervention in der Luft liegt. Als sich im April 1975 die Ereignisse überschlagen, erscheint Präsident Gerald Ford vor dem Kongress und verlangt, die Militärhilfe massiv aufzustocken. Das Auditorium reagiert mit bedauerndem Schulterzucken – und keinen Fall!
Unübersehbar gehören Not und Flucht in Vietnam mehr als ein halbes Jahrhundert lang untrennbar zusammen. Nach dem Genfer Indochina-Abkommen von 1954, das die Unabhängigkeit von Frankreich wie die Teilung in Nord- und Südvietnam besiegelt, versteigt sich die Katholische Kirche zu der Parole: Gott ist in den Süden gewandert. er will den gottlosen Kommunisten im Norden entkommen. Etwa 850.000 Menschen – Landbesitzer, Kombattanten der früheren französischen Kolonialarmee, katholische Farmer aus dem Viet Bac und anderen Provinzen – glauben, keine andere Wahl zu haben, als zu fliehen.
Zehn Jahre später beginnt ein Krieg, in dessen Verlauf von den 18 Millionen Südvietnamesen sechs Millionen zu Binnenflüchtlingen werden. Jeder Dritte verliert seine angestammte Umgebung, als die US-Armee zur Strategie des »Search and Destroy« übergeht und ganze Landstriche davon betroffen sind. Ein durch das Pflanzengift »Agent Orange« entlaubter Dschungel und entvölkerte, oft zerstörte Dörfer sollen dem »Vietcong« materiellen Rückhalt und natürliche Deckung nehmen. Die Bewohner ländlicher Gemeinden werden entweder in »Wehrdörfer« deportiert oder müssen in den Bidonvilles großer Städte wie Saigon, Da Nang oder Can Tho Zuflucht suchen, wo sie vom Schrott und Abfall der Amerikaner leben. Aus Entsiedelten werden Entwurzelte, denn viele fühlen sich ihrer selbst beraubt. Für buddhistische Familien ist es ein Sakrileg, den eigenen Boden und die Gräber der Ahnen zu verlassen. Stets in deren Nähe zu bleiben, gilt als unabweisbares Gebot. Dagegen zu verstoßen, beschwört Unglück herauf über Generationen hinweg.
Als vor einem halben Jahrhundert der Krieg gegen Vietnams Selbstbestimmung gescheitert ist, beginnt ein Kreuzzug gegen seine sozialistische Perspektive. Die Tragödie der »Boat People« liefert den Anlass, um die Sieger von 1975 als skrupellose Machthaber zu diskreditieren, die ungerührt ziehen lassen und einem ungewissen Schicksal aussetzen, wer ihnen politisch suspekt und eine soziale Last ist. Die von westlichen Medien wie Regierungen getragene Kampagne lässt prompt vergessen, dass die USA keinen Finger rühren, um einem maßgeblich von ihnen verheerten Land aus der Misere zu helfen. Es gibt keine Reue, kein Eingeständnis von Schuld, keinerlei Wiedergutmachung – zwei Millionen vietnamesischen Kriegstoten zum Trotz. Erst 1994, fast 20 Jahre nach Kriegsende, wird in Washington die Handelsblockade aufgehoben. Hätte es die Blockade nicht gegeben, wäre das so lange von den USA ausgehaltene Südvietnam nie derart abgestürzt, wie das nach 1975 der Fall war.