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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die Tragödie der »Boat People«

Vor einem hal­ben Jahr­hun­dert, im Som­mer 1975, hat­te es manch­mal den Anschein, als sei der Viet­nam-Krieg nichts als ein aber­wit­zi­ger Alb­traum, gewebt aus Erin­ne­run­gen, die ver­drängt gehör­ten. Die Feu­er­wän­de aus Napalm, der Regen aus Dioxin über dem Dschun­gel, die 1968 in der süd­viet­na­me­si­schen Gemein­de My Lai von GIs mas­sa­krier­ten Frau­en und Kin­der, 26 Mil­lio­nen Bom­ben­kra­ter landesweit.

Dann jedoch, auf ein­mal, wirkt all das weni­ger quä­lend und ver­blasst gera­de­zu. Die Tra­gö­die der »Boat Peo­p­le« zieht die Welt in ihren Bann. In der zwei­ten Hälf­te der 1970er Jah­re ver­las­sen Hun­dert­tau­sen­de ihr Geburts­land Viet­nam, das nach 30 Jah­ren Krieg einem öko­no­mi­schen Siech­tum ver­fällt, wie es der sieg­rei­che kom­mu­ni­sti­sche Nor­den befürch­tet, aber in die­sem Aus­maß nicht erwar­tet hat. Bis April 1973 haben die USA gemäß dem Pari­ser Viet­nam-Abkom­men ihre Kampf­ver­bän­de (zuletzt 500.000 Mann) voll­stän­dig abge­zo­gen. Die letz­ten Mari­nes, CIA-Mit­ar­bei­ter und Diplo­ma­ten ent­schwin­den im Früh­jahr 1975, als die nord­viet­na­me­si­sche Armee und die Befrei­ungs­front FLN (»Viet­cong«) den Süden erobern. Am 30. April setzt der Fall Sai­gons den Schlusspunkt.

In den fol­gen­den Jah­ren suchen etwa eine Mil­li­on Men­schen ihr Heil in Flucht und Migra­ti­on. Die­ser Strom ver­ebbt erst 1983, als Über­ein­künf­te der viet­na­me­si­schen Behör­den mit dem UN-Hoch­kom­mis­sa­ri­at für Flücht­lin­ge (UNHCR) eine siche­re und lega­le Aus­rei­se vor­se­hen, sich zugleich die Lebens­ver­hält­nis­se nicht wei­ter ver­schlech­tern. Bis dahin sind auf den Phil­ip­pi­nen, in Malay­sia, Thai­land, Macao, Sin­ga­pur und Indo­ne­si­en etwa 480.000 »Boat Peo­p­le« regi­striert, die eine ris­kan­te Flucht über das Süd­chi­ne­si­sche Meer hin­ter sich haben. In der Regel bestei­gen sie an der süd­viet­na­me­si­schen Küste Motor­boo­te oder Fisch­kut­ter – nicht sel­ten rosti­ge See­len­ver­käu­fer – und lan­den in Not­camps der süd­ost­asia­ti­schen Nach­bar­schaft. Als »Viet­nam-Flücht­lin­ge« wer­den in ihnen weni­ger Kriegs- als System­op­fer eines repres­si­ven kom­mu­ni­sti­schen Regimes gese­hen. Ihnen schlägt des­halb eine Wel­le des Mit­ge­fühls und der Sym­pa­thie ent­ge­gen. Sie kön­nen dar­auf hof­fen, in West­eu­ro­pa oder den USA auf­ge­nom­men zu wer­den. Hun­dert­tau­sen­de – es gibt bis heu­te nur Schät­zun­gen – wer­den nie so weit kom­men. Sie ster­ben, wenn an Bord Trink­was­ser und Lebens­mit­tel vor der Zeit aus­ge­hen; sie ertrin­ken, wenn schwe­re See ihr Boot ken­tern lässt. Sie wer­den im Golf von Thai­land zur Beu­te von Pira­ten – aus­ge­raubt, erschos­sen, über Bord gewor­fen. Die Schnell­boo­te der Frei­beu­ter zie­hen die Schif­fe der Flücht­lin­ge mit hoher Geschwin­dig­keit hin­ter sich her, bis sie voll­lau­fen und die Schreie von Kin­dern und Frau­en im wild tan­zen­den Spiel der Wel­len verstummen.

Zum Vor­spiel die­ses Exodus wird 1975 die letz­te Pha­se des Viet­nam­krie­ges, als sich der Vor­marsch von nord­viet­na­me­si­schen Ver­bän­den auf Städ­te und Stütz­punk­te im Süden von Tag zu Tag beschleu­nigt. Am 29. März 1975 fällt mit Da Nang die zweit­größ­te Stadt Süd­viet­nams und erlebt ein für die­se Zeit exem­pla­ri­sches Dra­ma. Da Nang wird weni­ger erobert, als dass es Cha­os und Panik erliegt. An den Gesta­den, wo zehn Jah­re zuvor mit der Lan­dung der ersten US-Mari­nes Ame­ri­kas Weg in den Krieg begann, kämp­fen nun süd­viet­na­me­si­sche Sol­da­ten mit ver­äng­stig­ten Zivi­li­sten um den Platz auf Fäh­ren und Last­käh­nen, die nach Vung Tau oder Sai­gon aus­lau­fen, wo es mög­lich scheint, das Land zu ver­las­sen – kei­ne unbe­rech­tig­te Annah­me. Die Ame­ri­ka­ner kreu­zen mit Flug­zeug­trä­gern und Zer­stö­rern vor der Küste Süd­viet­nams. Als sich der Kol­laps des dor­ti­gen Regimes abzeich­net, wer­den im März/​April 1975 etwa 150.000 Süd­viet­na­me­sen von in Sai­gon ver­blie­be­nem US-Per­so­nal eva­ku­iert: Mini­ster und Beam­te des Prä­si­dent Nguy­en Văn Thiệu, hohe Offi­zie­re, Geheim­dienst­ler und Ver­hör­spe­zia­li­sten, Dienst­per­so­nal der Ame­ri­ka­ner von Dol­met­schern über Köche bis zu Fah­rern, die gro­ßen und klei­nen Gehil­fen eines Systems, das am Ende ist. Zwar ver­spre­chen die desi­gnier­ten Sie­ger Mil­de und Aus­söh­nung, kün­di­gen aber zugleich Umer­zie­hungs­la­ger und Ent­eig­nun­gen an. Wer sich dem nicht aus­set­zen will, der geht. In der sich abzeich­nen­den Nach­kriegs­ge­sell­schaft wer­den Pri­vi­le­gi­en und Wohl­stand nicht zu hal­ten, für Jah­re, viel­leicht Jahr­zehn­te, nur Man­gel und Ent­beh­rung zu haben sein.

Bis zuletzt prä­sen­tiert sich Sai­gon als vor­züg­lich bestück­ter Super­markt, für des­sen Sor­ti­ment die Ame­ri­ka­ner auf­kom­men. Schon 1973, dem Jahr des US-Abzugs, sind nur noch drei Pro­zent der Impor­te Süd­viet­nams durch des­sen Aus­fuh­ren gedeckt. Was an Kon­sum­gü­tern ver­braucht wird, stammt zu neun Zehn­teln aus dem Aus­land. An Sai­gons Geschäfts­aus­la­gen pran­gen chi­ne­si­sche Schrift­zei­chen (die chi­ne­si­sche Com­mu­ni­ty Sai­gons ist mit 300.000 Haus­hal­ten groß), die sich mit »Geschenk des Westens« über­set­zen las­sen. Unter den Ame­ri­ka­ner ist die Bevöl­ke­rung der Stadt inner­halb eines Jahr­zehnts von 500.000 auf 3,5 Mil­lio­nen gestie­gen. So viel ist klar – die­sem krass über sei­ne Ver­hält­nis­se leben­den Gemein­we­sen wird kei­ne Zukunft beschie­den sein. Der poli­ti­sche Ver­fall und öko­no­mi­sche Zustand sind zwei Sei­ten des glei­chen Bank­rotts. Dass die Ame­ri­ka­ner den hin­aus­zö­gern wol­len, resul­tiert aus dem schlech­ten Gewis­sen gegen­über dem ver­bün­de­ten süd­viet­na­me­si­schen Anti­kom­mu­nis­mus, ist aber glei­cher­ma­ßen ein Akt der Vor­sor­ge, um nicht der­art unter Druck zu gera­ten, dass eine erneu­te Mili­tär­in­ter­ven­ti­on in der Luft liegt. Als sich im April 1975 die Ereig­nis­se über­schla­gen, erscheint Prä­si­dent Gerald Ford vor dem Kon­gress und ver­langt, die Mili­tär­hil­fe mas­siv auf­zu­stocken. Das Audi­to­ri­um reagiert mit bedau­ern­dem Schul­ter­zucken – und kei­nen Fall!

Unüber­seh­bar gehö­ren Not und Flucht in Viet­nam mehr als ein hal­bes Jahr­hun­dert lang untrenn­bar zusam­men. Nach dem Gen­fer Indo­chi­na-Abkom­men von 1954, das die Unab­hän­gig­keit von Frank­reich wie die Tei­lung in Nord- und Süd­viet­nam besie­gelt, ver­steigt sich die Katho­li­sche Kir­che zu der Paro­le: Gott ist in den Süden gewan­dert. er will den gott­lo­sen Kom­mu­ni­sten im Nor­den ent­kom­men. Etwa 850.000 Men­schen – Land­be­sit­zer, Kom­bat­tan­ten der frü­he­ren fran­zö­si­schen Kolo­ni­al­ar­mee, katho­li­sche Far­mer aus dem Viet Bac und ande­ren Pro­vin­zen – glau­ben, kei­ne ande­re Wahl zu haben, als zu fliehen.

Zehn Jah­re spä­ter beginnt ein Krieg, in des­sen Ver­lauf von den 18 Mil­lio­nen Süd­viet­na­me­sen sechs Mil­lio­nen zu Bin­nen­flücht­lin­gen wer­den. Jeder Drit­te ver­liert sei­ne ange­stamm­te Umge­bung, als die US-Armee zur Stra­te­gie des »Search and Destroy« über­geht und gan­ze Land­stri­che davon betrof­fen sind. Ein durch das Pflan­zen­gift »Agent Oran­ge« ent­laub­ter Dschun­gel und ent­völ­ker­te, oft zer­stör­te Dör­fer sol­len dem »Viet­cong« mate­ri­el­len Rück­halt und natür­li­che Deckung neh­men. Die Bewoh­ner länd­li­cher Gemein­den wer­den ent­we­der in »Wehr­dör­fer« depor­tiert oder müs­sen in den Bidon­vil­les gro­ßer Städ­te wie Sai­gon, Da Nang oder Can Tho Zuflucht suchen, wo sie vom Schrott und Abfall der Ame­ri­ka­ner leben. Aus Ent­sie­del­ten wer­den Ent­wur­zel­te, denn vie­le füh­len sich ihrer selbst beraubt. Für bud­dhi­sti­sche Fami­li­en ist es ein Sakri­leg, den eige­nen Boden und die Grä­ber der Ahnen zu ver­las­sen. Stets in deren Nähe zu blei­ben, gilt als unab­weis­ba­res Gebot. Dage­gen zu ver­sto­ßen, beschwört Unglück her­auf über Gene­ra­tio­nen hinweg.

Als vor einem hal­ben Jahr­hun­dert der Krieg gegen Viet­nams Selbst­be­stim­mung geschei­tert ist, beginnt ein Kreuz­zug gegen sei­ne sozia­li­sti­sche Per­spek­ti­ve. Die Tra­gö­die der »Boat Peo­p­le« lie­fert den Anlass, um die Sie­ger von 1975 als skru­pel­lo­se Macht­ha­ber zu dis­kre­di­tie­ren, die unge­rührt zie­hen las­sen und einem unge­wis­sen Schick­sal aus­set­zen, wer ihnen poli­tisch suspekt und eine sozia­le Last ist. Die von west­li­chen Medi­en wie Regie­run­gen getra­ge­ne Kam­pa­gne lässt prompt ver­ges­sen, dass die USA kei­nen Fin­ger rüh­ren, um einem maß­geb­lich von ihnen ver­heer­ten Land aus der Mise­re zu hel­fen. Es gibt kei­ne Reue, kein Ein­ge­ständ­nis von Schuld, kei­ner­lei Wie­der­gut­ma­chung – zwei Mil­lio­nen viet­na­me­si­schen Kriegs­to­ten zum Trotz. Erst 1994, fast 20 Jah­re nach Kriegs­en­de, wird in Washing­ton die Han­dels­blocka­de auf­ge­ho­ben. Hät­te es die Blocka­de nicht gege­ben, wäre das so lan­ge von den USA aus­ge­hal­te­ne Süd­viet­nam nie der­art abge­stürzt, wie das nach 1975 der Fall war.

 

Ausgabe 15.16/2025