Der erste Kritiker war ein Fuchs. Mit seinen Pfoten hinterließ er einen Kommentar im feuchten Beton. Er war über das bis dahin letzte Fleckchen gelaufen, das noch nicht zugepflastert worden war. Jetzt aber hatte man auch diesen Rest Erde versiegelt. Zwischen Kulturforum und Potsdamer Platz, Philharmonie und Matthäikirchplatz nur noch Beton. Die herbeigekarrten Bäume standen in Kübeln – vermutlich nur an jenem Wochenende im Oktober, als man den Rohbau zur Besichtigung freigab. In luftiger Höhe und unter blitzblauem Himmel hing die am Vortag aufgezogene Richtkrone, die Bänder wehten im leichten Herbstwind, und vorm Bauzaun warteten die Besucher geduldig, dass ihre ausschließlich online erworbenen Tickets gescannt und sie eingelassen wurden. Ein Drittel des Betonbunkers auf knapp einem Hektar Boden war zur Besichtigung freigegeben, und dass dessen 2023 begonnene Errichtung sich nicht um eine Maßnahme von Pistorius im Rahmen seiner Kriegsertüchtigung handelte, sondern um eine kulturpolitische Großtat, hatte die Anwesenheit des Kulturstaatsministers beim Richtfest am Vortag deutlich gemacht. Groß in der Tat: Eine halbe Milliarde wird hier vorbaut. Wir wissen aber auch: Solche Zahlen sind grobe Schätzungen. Die Elbphilharmonie in Hamburg sollte mal 77 Millionen kosten, am Ende waren es 866 Millionen. Den Entwurf hatte seinerzeit das Architektenbüro Herzog & de Meuron geliefert. Wollen wir hoffen, dass dies kein schlechtes Omen ist – das Konzept für diesen Berliner »Betonberg« (FAZ) kommt nämlich aus dem gleichen Schweizer Hause. Schon hat man auch die Eröffnung von 2028 auf 2029 verschoben …
Also die Kritik des Fuchses. Wir sahen die Spuren im Beton und amüsierten uns über die bunte Zeichnung auf dem Blatt, das jemand an die Betonwand geklebt hatte. »Spuren vom Baustellenfuchs« stand dort, womit man einerseits dem Prinzip gefolgt war, in den zur Besichtigung freigegebenen Räumen auf professionell gefertigten Tafeln die künftige Nutzung mitzuteilen, andererseits aber auch mit jenem Prinzip brach. Diesen Aushang hatte keine Agentur gefertigt, der Text war nicht zweisprachig und die Befestigung mit simplen Klebestreifen erfolgt. Der kreative Kopf, der hinter diesem Blatt steckte, wird wohl – so nehme ich an – nicht nur dem Grundsatz der Architektur gefolgt sein: Was sich nicht verbergen lässt, muss man betonen. Vielleicht hatte er damit subtil auf die Anwesenheit von Tieren wie auf die weitere Beschränkung ihres Lebensraumes hinweisen wollen.
Auf dem Weg hierher waren wir durch den herbstbunten Tiergarten geschlendert und dadurch sehr glückselig gestimmt. Die Sonne wärmte das Herz und die Luft, weshalb nicht wenige Menschen mit uns flanierten oder auf dem grünen Gras lagen, was meine Taube in eine überschwängliche Liebeserklärung ausbrechen ließ. Ach, flötete sie, das sei das Schöne an Berlin, dass man schon nach wenigen Metern mitten in der Natur ist.
Das galt aber auch in der Umkehrung. Nachdem wir die Tiergartenstraße überquert hatten, gab es nur noch Asphalt, Beton und Formsteine. Der wuchtige Rohbau, zu dessen Besichtigung eingeladen worden war (Eintritt sechs Euro), erschien nur noch als Schlussstein auf einer riesigen Betonplatte. Einer in jeder Hinsicht teuren. Experten hatten errechnet, dass jeder Quadratmeter Ausstellungsfläche genau 58.555 Euro kosten werde, was mehr als dreieinhalbmal so viel sei wie jede vergleichbare Institution dafür ausgibt. Selbst das überteuerte Humboldt-Forum am/im Berliner Schloss beschied sich mit 21.000 Euro pro Quadratmeter Ausstellungsfläche. Die exorbitanten Zahlen geben Anlass, schon jetzt vom »teuersten Museumsneubau der deutschen Geschichte« (Tagesspiegel) zu sprechen. Das sei ein Skandal, meinte die Hauptstadt-Postille, »der in keinerlei Hinsicht zu unserer Zeit passt, weder mit der immer noch miserablen Öko-Gesamtbilanz, der Raumvergeudung, den Kosten«. Dazu kann der Zyniker einwerfen, dass jeder Tag Krieg in der Ukraine nach Angaben ihres Finanzministers umgerechnet mehr als 120 Millionen Euro kostet. So gesehen wird dort jede Woche ein solches Bauwerk verpulvert. (Nicht zu reden von der Öko-Bilanz. In den ersten drei Jahren des Krieges sollen dort so viele klimaschädliche Treibhausgase produziert worden sein wie Österreich, Ungarn, Tschechien und die Slowakei zusammen in einem Jahr; die Kosten der übrigen Umweltverschmutzung beliefen sich auf knapp vierzig Milliarden Euro …)
Nun, wir wollen nicht beckmesserisch und kleinkariert urteilen. Aufs Dach des Hauses kommt schließlich eine Photovoltaikanlage, und Landschaftsarchitekten arbeiten bereits an einem Bepflanzungskonzept. Außerdem entstehen Arbeitsplätze: in Depots und Werkstätten, in den gastronomischen Einrichtungen und im geplanten Kino. Nicht zu reden vom Aufsichtspersonal.
Braucht man eine solche Einrichtung, in der die Kunst des 20. Jahrhunderts gezeigt wird? Gewiss. Bilder und Plastiken aus dem 19. Jahrhundert sind im Neuen Museum zu sehen und zeitgenössische Kunst im Hamburger Bahnhof. Die Neue Nationalgalerie, dieser grandiose Bau Mies van der Rohes, platze aus allen Nähten, heißt es, weshalb ein weiteres Haus für die Kunst des 20. Jahrhunderts nötig ist. Und weil das Areal daneben ausgewählt wurde, sprach man ursprünglich von einer »Erweiterung« der Neuen Nationalgalerie. Es war deshalb auch ein unterirdischer Verbindungstunnel im Gespräch, bis man bemerkte, dass dort in der Erde eine Hochspannungsleitung liegt, deren Verlegung Riesenkosten verursachen würde. Also gestrichen. Doch ein Zusammenhang zwischen beiden Häusern ist ohnehin nicht mehr gegeben, denn das Satteldach des Neubaus überragt die horizontale Linie der Neuen Nationalgalerie, die als Höhenvorgabe nicht nur vom Denkmalschutz gefordert worden war. Der »edelste deutsche Museumsbau der Nachkriegszeit« werde dadurch »regelrecht degradiert«, befand der Architekturkritiker Nikolaus Bernau, worin ihm keineswegs zu widersprechen ist.
Man kann es auch noch deutlicher sagen. Den architektonischen Solitären in diesem Areal wird ein weiteres auffälliges Einzelstück hinzugefügt, das allein durch seine Größe sehr dominant ist. Solitäre aber geben kein harmonisches städtebauliches Ganzes. So gesehen ist dieser Block nur die logische Fortsetzung der Unwirtlichkeit des Potsdamer Platzes. »Zeitlos modern«, rühmen die Architekten, die an dieser Stadtverschandelung beteiligt waren, »Meisterwerke moderner Architektur«, »lebendiges Symbol der Stadtentwicklung und -erneuerung« und was es sonst noch an Übertreibungen gibt. Der hässliche Potsdamer Platz ist ein Verkehrsknotenpunkt mit mehrspurigen Autostraßen, er ist menschenunfreundlich und wirtschaftlich so gut wie tot. Man schlendere nur durch die Passagen und zähle die Fenster, hinter denen der Leerstand wohnt.
Die Berliner Zeitung hofft darauf, dass man sich »die Scheune« über die Jahre »angenehm weggucken« werde. So geht es immer in Berlin. Erst wird gemeckert und dann macht man seinen Frieden. Wie heißt es: Die Zeit heilt alle Wunden. Das Ärgernis wie auch das Tröstliche besteht darin, dass bauliche »Wunden« in der Regel die Generationen überdauern, die darunter litten.
Ich gönnte mir am Abend ein Glas Ardbeg An Oa. Mit 46,6 Prozent ließ sich vielleicht die Zeit verkürzen.