Die Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano ist im Jahre 2021 mit 96 Jahren verstorben. Nun ist, anlässlich ihres 100. Geburtstags am 15. Dezember 2024, eine Sammlung ihrer Reden, Briefe und Appelle erschienen, die ihr Lebenswerk vorläufig zusammenfasst. Diese Sammlung ist schon deswegen bedeutend, weil sie einen Überblick über Esther Bejaranos Wirken – schriftlich und mündlich – ermöglicht. Zugleich spiegelt sie ihr Wirken im Auschwitz-Komitee in der Bundesrepublik, das sie im Jahre 1986 mit anderen Überlebenden gegründet hatte.
Unter dem Titel »Wir sind manchmal unbequem« ist ihr Bericht zur Arbeit des Auschwitz-Komitees in der Bundesrepublik Deutschland abgedruckt, den sie im August 2017 auf der Generalversammlung des Internationalen Auschwitz-Komitees in Auschwitz vorgetragen hat.
Die ehemalige stellvertretende Vorsitzende des Komitees, Helga Obens, und die derzeitige Vorsitzende, Susanne Kondoch-Klockow, haben die Sammlung zusammengestellt und herausgegeben.
Das Buch ist schon durch sein Äußeres geeignet, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und dies ist auch beabsichtigt; die Aufmachung soll auch und vor allem Jugendliche ansprechen. Gerade auf die Jugend hat Esther Bejarano von Anbeginn ihrer politischen Arbeit ihre Hoffnung gesetzt; dieses Anliegen ist zum einen dokumentiert in dem zeitlich frühesten Beitrag des Buches, den sie zusammen mit Peter Gingold, dem ehemals Verfolgten und zugleich Kämpfer in der Résistance, verfasst hatte. Es handelt sich um den »Appell an die Jugend/ Zum 50. Jahrestag der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes«. Dieser Appell datiert vom 15. März 1997. Er endete mit den Worten: »Wir vertrauen auf die Jugend, wir bauen auf die Jugend, auf euch!« Und dieses Anliegen prägte auch ihre letzte Rede (»Wir sind da! Meine Befreiung im Mai 1945 und meine Hoffnungen!«), die sie am 3. Mai 2021 am Lessing-Denkmal auf dem Hamburger Gänsemarkt gehalten hat. Auch dort heißt es zum Ende hin: »Ich vertraue auf die Jugend, ich vertraue auf euch!«.
Nun zunächst zur Aufmachung: Als erstes fällt der neon-orange Farbton des Umschlags ins Auge. Schlägt man das Buch auf und blättert es durch, fallen immer wieder Seiten auf, die in diesem Farbton gehalten sind, in dem in weißer Schreibschrift Zitate von Esther Bejaranos Äußerungen – in Rede oder Schrift – wiedergegeben werden. Auch im laufenden Text sind immer wieder Unterstreichungen oder andere Markierungen zu finden: So werden immer wieder auch Vorschläge gemacht, beim Blättern an bestimmten markierten Haltepunkten zu verweilen.
Auffällig ist auch, dass die Reden, Briefe und Appelle in umgekehrter Chronologie angeordnet worden sind: Ein junges Lesepublikum vorausgesetzt, hat dies den Vorteil, dass es zu Beginn der Lektüre nicht in eine Zeit eintauchen muss, die es noch gar nicht bewusst wahrgenommen hat, sondern sich dieser Zeit allmählich annähern kann. Die eigene Erlebenszeit erreicht es in der Lektüre dann, nachdem es Eindrücke seiner bewussten Erlebenszeit verarbeitet hat.
An den Textteil schließen sich eine ausführliche Biografie Esther Bejaranos sowie eine umfangreiche Liste ihrer Ehrungen an. Die Texte werden – ungewöhnlich für ein Buch ohne dezidiert wissenschaftlichen Anspruch – durch ein Register erschlossen, das nach Personennamen und Orten gegliedert ist.
Eingerahmt ist das Buch durch zwei Beiträge, deren Verfasser für Esther Bejarano zunächst eine stark divergierende Bedeutung hatten: durch ein Grußwort des Hamburger Kultursenators Carsten Brosda und durch eine abschließende Betrachtung von Detlef Garbe.
Mit Carsten Brosda hatte Esther Bejarano sich in eine Auseinandersetzung begeben, weil sie beanstandete, dass er ihrer Meinung nach die »Antifa« diffamiert habe; es war zwischen beiden zu einem persönlichen Gespräch gekommen, und Brosda nahm anschließend seinen Angriff zurück. Kurz danach hielt er dann sogar eine Rede auf ihrem Geburtstag. An der posthumen Feier ihres 100. Geburtstags (15.12.2024) beteiligte er sich mit einer per Video eingespielten Rede, die ihr Lebenswerk eindrucksvoll würdigte.
Mit Detlef Garbe, dem langjährigen Leiter der KZ-Gedenkstätte (Hamburg-)Neuengamme und späterem (2020-2022) Gründungsvorstand der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte verband sie eine langjährige Freundschaft.
Senator Brosda erwähnt zu Beginn seines kurzen »Grußworts« den tiefen Eindruck, den Esther Bejarano bei allen – so auch bei ihm – hinterlassen habe, die sie kennenlernen durften, und dass sie »eine Streiterin für eine Gesellschaft« gewesen sei, »in der alle ohne Angst verschieden sein können«. Damit zitiert er indirekt Adornos gesellschaftliches Ideal (Minima Moralia, Abschnitt 66). Er lässt den Ausruf »Ein Mensch!« folgen. Dieser lässt sich voll nur in seiner Bedeutung im Jiddischen erfassen; Google übersetzt ihn mit den Worten: »Das Wort ›Mensch‹ steht im Jiddischen für eine Person von Integrität und Ehre.«
Helga Obens erwähnt in ihrem Editorial persönliche Züge Esther Bejaranos wie ihren »lodernden Zorn über das Unrecht, über Kriege, Gewalt, Hass und Antisemitismus« einerseits, die Liebe zum gemeinsamen Lachen andererseits, außerdem die Bedeutung der Musik für ihr Leben und ihre internationale Bedeutung. Wichtig ist auch ihr Hinweis darauf, dass Esther Bejaranos Hinwendung zum »Rap« auf dem Hintergrund der seinerzeit besonders bedrohlichen Wirkung der »Nazi-Schulhof-CDs« zu sehen ist.
Detlef Garbes Betrag trägt die Überschrift »Leben als Auftrag«. Er würdigt Esther Bejaranos Lebensleistung als die eines politischen Menschen. Ihre starke Wirkung erklärt er mit ihrem »Charisma« und ihrer »Lebensfreude«, die angesichts ihres schweren Schicksals nicht selbstverständlich war. Letztlich seien Verzweiflung und Aufgeben für sie keine Option gewesen. Andererseits weist Detlef Garbe darauf hin, dass sie sich in ihrem Auftritt in den Tagesthemen im Zusammenhang mit dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus im Jahre 2021 – ein halbes Jahr vor ihrem Tode – gefragt habe, »was aus den Hoffnungen der Überlebenden des KZ Auschwitz geworden sei. Sie äußerte die Sorge, dass sich die Geschichte wiederholen könne.« Detlef Garbe stellt in diesem Zusammenhang die allgemeine Frage, ob »der Kampf gegen das Vergessen (…) gescheitert« sei. Er weist einerseits darauf hin, dass Geschichtslegenden enttarnt worden sind, dass aber andererseits Björn Höcke »und seinesgleichen« einen Kampf um eine »erinnerungspolitische Wende um 180 Grad« (S. 164) führen. Deshalb sei es so wichtig gewesen, dass Esther »immer wieder von ihrer Zuversicht (sprach), dass (…) die Jüngeren ihre und die Geschichten der anderen (Opfer der Naziverfolgung) weitererzählen werden. Nun und zukünftig ist es also an uns, zu zeigen, ob wir ihr Vertrauen verdient haben. «
Der Band »Das Haus brennt: Esther Bejarano spricht« lässt sich nicht im herkömmlichen Sinn rezensieren. Ein Leben lässt sich nicht rezensieren! Das kleine Buch enthält den Kern ihres Lebenswerkes.
Um einen Eindruck davon zu bekommen, wie vielfältig und systematisch im Nachhinein dieses Lebenswerk schon zu ihren Lebzeiten klar umrissen dastand, sollte am besten zu Beginn ihre Rede auf der Generalversammlung des Internationalen Auschwitz-Komitees in Oswiecim/Auschwitz gelesen werden (S. 53-59).
Helga Obens/Susanne Kondoch-Klockow (Hrsg.): Das Haus brennt: Esther Bejarano spricht, Hamburg 2024, 176 S., 15 €. (Der Titel ist ein Zitat aus einem Offenen Brief an den damaligen Bundesfinanzminister Olaf Scholz entnommen, in dem sie von ihm fordert, die Aberkennung der Gemeinnützigkeit der VVN/BdA zurückzunehmen.)
Ihr Nachlass ist von ihrer Familie der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg übergeben worden und wird der Wissenschaft zur Verfügung stehen.