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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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»Esther Bejarano spricht«

Die Ausch­witz-Über­le­ben­de Esther Beja­ra­no ist im Jah­re 2021 mit 96 Jah­ren ver­stor­ben. Nun ist, anläss­lich ihres 100. Geburts­tags am 15. Dezem­ber 2024, eine Samm­lung ihrer Reden, Brie­fe und Appel­le erschie­nen, die ihr Lebens­werk vor­läu­fig zusam­men­fasst. Die­se Samm­lung ist schon des­we­gen bedeu­tend, weil sie einen Über­blick über Esther Beja­ra­nos Wir­ken – schrift­lich und münd­lich – ermög­licht. Zugleich spie­gelt sie ihr Wir­ken im Ausch­witz-Komi­tee in der Bun­des­re­pu­blik, das sie im Jah­re 1986 mit ande­ren Über­le­ben­den gegrün­det hatte.

Unter dem Titel »Wir sind manch­mal unbe­quem« ist ihr Bericht zur Arbeit des Ausch­witz-Komi­tees in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land abge­druckt, den sie im August 2017 auf der Gene­ral­ver­samm­lung des Inter­na­tio­na­len Ausch­witz-Komi­tees in Ausch­witz vor­ge­tra­gen hat.

Die ehe­ma­li­ge stell­ver­tre­ten­de Vor­sit­zen­de des Komi­tees, Hel­ga Obens, und die der­zei­ti­ge Vor­sit­zen­de, Susan­ne Kon­doch-Kloc­kow, haben die Samm­lung zusam­men­ge­stellt und herausgegeben.

Das Buch ist schon durch sein Äuße­res geeig­net, Auf­merk­sam­keit auf sich zu zie­hen, und dies ist auch beab­sich­tigt; die Auf­ma­chung soll auch und vor allem Jugend­li­che anspre­chen. Gera­de auf die Jugend hat Esther Beja­ra­no von Anbe­ginn ihrer poli­ti­schen Arbeit ihre Hoff­nung gesetzt; die­ses Anlie­gen ist zum einen doku­men­tiert in dem zeit­lich frü­he­sten Bei­trag des Buches, den sie zusam­men mit Peter Gin­gold, dem ehe­mals Ver­folg­ten und zugleich Kämp­fer in der Rési­stance, ver­fasst hat­te. Es han­delt sich um den »Appell an die Jugend/​ Zum 50. Jah­res­tag der Ver­ei­ni­gung der Ver­folg­ten des Nazi­re­gimes«. Die­ser Appell datiert vom 15. März 1997. Er ende­te mit den Wor­ten: »Wir ver­trau­en auf die Jugend, wir bau­en auf die Jugend, auf euch!« Und die­ses Anlie­gen präg­te auch ihre letz­te Rede (»Wir sind da! Mei­ne Befrei­ung im Mai 1945 und mei­ne Hoff­nun­gen!«), die sie am 3. Mai 2021 am Les­sing-Denk­mal auf dem Ham­bur­ger Gän­se­markt gehal­ten hat. Auch dort heißt es zum Ende hin: »Ich ver­traue auf die Jugend, ich ver­traue auf euch!«.

Nun zunächst zur Auf­ma­chung: Als erstes fällt der neon-oran­ge Farb­ton des Umschlags ins Auge. Schlägt man das Buch auf und blät­tert es durch, fal­len immer wie­der Sei­ten auf, die in die­sem Farb­ton gehal­ten sind, in dem in wei­ßer Schreib­schrift Zita­te von Esther Beja­ra­nos Äuße­run­gen – in Rede oder Schrift – wie­der­ge­ge­ben wer­den. Auch im lau­fen­den Text sind immer wie­der Unter­strei­chun­gen oder ande­re Mar­kie­run­gen zu fin­den: So wer­den immer wie­der auch Vor­schlä­ge gemacht, beim Blät­tern an bestimm­ten mar­kier­ten Hal­te­punk­ten zu verweilen.

Auf­fäl­lig ist auch, dass die Reden, Brie­fe und Appel­le in umge­kehr­ter Chro­no­lo­gie ange­ord­net wor­den sind: Ein jun­ges Lese­pu­bli­kum vor­aus­ge­setzt, hat dies den Vor­teil, dass es zu Beginn der Lek­tü­re nicht in eine Zeit ein­tau­chen muss, die es noch gar nicht bewusst wahr­ge­nom­men hat, son­dern sich die­ser Zeit all­mäh­lich annä­hern kann. Die eige­ne Erle­bens­zeit erreicht es in der Lek­tü­re dann, nach­dem es Ein­drücke sei­ner bewuss­ten Erle­bens­zeit ver­ar­bei­tet hat.

An den Text­teil schlie­ßen sich eine aus­führ­li­che Bio­gra­fie Esther Beja­ra­nos sowie eine umfang­rei­che Liste ihrer Ehrun­gen an. Die Tex­te wer­den – unge­wöhn­lich für ein Buch ohne dezi­diert wis­sen­schaft­li­chen Anspruch – durch ein Regi­ster erschlos­sen, das nach Per­so­nen­na­men und Orten geglie­dert ist.

Ein­ge­rahmt ist das Buch durch zwei Bei­trä­ge, deren Ver­fas­ser für Esther Beja­ra­no zunächst eine stark diver­gie­ren­de Bedeu­tung hat­ten: durch ein Gruß­wort des Ham­bur­ger Kul­tur­se­na­tors Car­sten Bros­da und durch eine abschlie­ßen­de Betrach­tung von Det­lef Garbe.

Mit Car­sten Bros­da hat­te Esther Beja­ra­no sich in eine Aus­ein­an­der­set­zung bege­ben, weil sie bean­stan­de­te, dass er ihrer Mei­nung nach die »Anti­fa« dif­fa­miert habe; es war zwi­schen bei­den zu einem per­sön­li­chen Gespräch gekom­men, und Bros­da nahm anschlie­ßend sei­nen Angriff zurück. Kurz danach hielt er dann sogar eine Rede auf ihrem Geburts­tag. An der post­hu­men Fei­er ihres 100. Geburts­tags (15.12.2024) betei­lig­te er sich mit einer per Video ein­ge­spiel­ten Rede, die ihr Lebens­werk ein­drucks­voll würdigte.

Mit Det­lef Gar­be, dem lang­jäh­ri­gen Lei­ter der KZ-Gedenk­stät­te (Hamburg-)Neuengamme und spä­te­rem (2020-2022) Grün­dungs­vor­stand der Stif­tung Ham­bur­ger Gedenk­stät­ten und Lern­or­te ver­band sie eine lang­jäh­ri­ge Freundschaft.

Sena­tor Bros­da erwähnt zu Beginn sei­nes kur­zen »Gruß­worts« den tie­fen Ein­druck, den Esther Beja­ra­no bei allen – so auch bei ihm – hin­ter­las­sen habe, die sie ken­nen­ler­nen durf­ten, und dass sie »eine Strei­te­rin für eine Gesell­schaft« gewe­sen sei, »in der alle ohne Angst ver­schie­den sein kön­nen«. Damit zitiert er indi­rekt Ador­nos gesell­schaft­li­ches Ide­al (Mini­ma Mora­lia, Abschnitt 66). Er lässt den Aus­ruf »Ein Mensch!« fol­gen. Die­ser lässt sich voll nur in sei­ner Bedeu­tung im Jid­di­schen erfas­sen; Goog­le über­setzt ihn mit den Wor­ten: »Das Wort ›Mensch‹ steht im Jid­di­schen für eine Per­son von Inte­gri­tät und Ehre.«

Hel­ga Obens erwähnt in ihrem Edi­to­ri­al per­sön­li­che Züge Esther Beja­ra­nos wie ihren »lodern­den Zorn über das Unrecht, über Krie­ge, Gewalt, Hass und Anti­se­mi­tis­mus« einer­seits, die Lie­be zum gemein­sa­men Lachen ande­rer­seits, außer­dem die Bedeu­tung der Musik für ihr Leben und ihre inter­na­tio­na­le Bedeu­tung. Wich­tig ist auch ihr Hin­weis dar­auf, dass Esther Beja­ra­nos Hin­wen­dung zum »Rap« auf dem Hin­ter­grund der sei­ner­zeit beson­ders bedroh­li­chen Wir­kung der »Nazi-Schul­hof-CDs« zu sehen ist.

Det­lef Gar­bes Betrag trägt die Über­schrift »Leben als Auf­trag«. Er wür­digt Esther Beja­ra­nos Lebens­lei­stung als die eines poli­ti­schen Men­schen. Ihre star­ke Wir­kung erklärt er mit ihrem »Cha­ris­ma« und ihrer »Lebens­freu­de«, die ange­sichts ihres schwe­ren Schick­sals nicht selbst­ver­ständ­lich war. Letzt­lich sei­en Ver­zweif­lung und Auf­ge­ben für sie kei­ne Opti­on gewe­sen. Ande­rer­seits weist Det­lef Gar­be dar­auf hin, dass sie sich in ihrem Auf­tritt in den Tages­the­men im Zusam­men­hang mit dem Gedenk­tag für die Opfer des Natio­nal­so­zia­lis­mus im Jah­re 2021 – ein hal­bes Jahr vor ihrem Tode – gefragt habe, »was aus den Hoff­nun­gen der Über­le­ben­den des KZ Ausch­witz gewor­den sei. Sie äußer­te die Sor­ge, dass sich die Geschich­te wie­der­ho­len kön­ne.« Det­lef Gar­be stellt in die­sem Zusam­men­hang die all­ge­mei­ne Fra­ge, ob »der Kampf gegen das Ver­ges­sen (…) geschei­tert« sei. Er weist einer­seits dar­auf hin, dass Geschichts­le­gen­den ent­tarnt wor­den sind, dass aber ande­rer­seits Björn Höcke »und sei­nes­glei­chen« einen Kampf um eine »erin­ne­rungs­po­li­ti­sche Wen­de um 180 Grad« (S. 164) füh­ren. Des­halb sei es so wich­tig gewe­sen, dass Esther »immer wie­der von ihrer Zuver­sicht (sprach), dass (…) die Jün­ge­ren ihre und die Geschich­ten der ande­ren (Opfer der Nazi­ver­fol­gung) wei­ter­erzäh­len wer­den. Nun und zukünf­tig ist es also an uns, zu zei­gen, ob wir ihr Ver­trau­en ver­dient haben. «

Der Band »Das Haus brennt: Esther Beja­ra­no spricht« lässt sich nicht im her­kömm­li­chen Sinn rezen­sie­ren. Ein Leben lässt sich nicht rezen­sie­ren! Das klei­ne Buch ent­hält den Kern ihres Lebenswerkes.

Um einen Ein­druck davon zu bekom­men, wie viel­fäl­tig und syste­ma­tisch im Nach­hin­ein die­ses Lebens­werk schon zu ihren Leb­zei­ten klar umris­sen dastand, soll­te am besten zu Beginn ihre Rede auf der Gene­ral­ver­samm­lung des Inter­na­tio­na­len Ausch­witz-Komi­tees in Oswiecim/​Auschwitz gele­sen wer­den (S. 53-59).

 Hel­ga Obens/​Susanne Kon­doch-Kloc­kow (Hrsg.): Das Haus brennt: Esther Beja­ra­no spricht, Ham­burg 2024, 176 S., 15 €. (Der Titel ist ein Zitat aus einem Offe­nen Brief an den dama­li­gen Bun­des­fi­nanz­mi­ni­ster Olaf Scholz ent­nom­men, in dem sie von ihm for­dert, die Aberken­nung der Gemein­nüt­zig­keit der VVN/​BdA zurückzunehmen.)

Ihr Nach­lass ist von ihrer Fami­lie der For­schungs­stel­le für Zeit­ge­schich­te in Ham­burg über­ge­ben wor­den und wird der Wis­sen­schaft zur Ver­fü­gung stehen.