Bei den portugiesischen Parlamentswahlen im Mai hat die rechtspopulistische Partei Chega (»Genug«) ihr bisheriges Ergebnis von 18 Prozent auf fast 23 Prozent gesteigert. Das entspricht dem gegenwärtigen Trend in Europa. In der Frankfurter Rundschau hieß es dazu: »Alle, die Chega nicht gewählt haben, fragen sich nach den Motiven derer, die das getan haben. Allgemeine Unzufriedenheit fällt den meisten ein, insbesondere Unbehagen angesichts zunehmender Migration. Wirtschaftlich ist Portugal aus dem Gröbsten raus, gehört aber immer noch zu Europas Schlusslichtern« (20. Mai 2025).
Diese Erklärung ist typisch für das, was man in den Medien zu lesen und zu hören bekommt, wenn wieder einmal die Rechten zugelegt haben. Als ob der ehemalige Innenminister Seehofer (CSU) bestätigt werden soll, der die Migration seinerzeit als »Mutter aller Probleme« bezeichnet hat – was alle Rechtspopulisten seitdem nachsprechen. Die Migration nehme eben ständig zu und insbesondere deshalb wachse die »allgemeine Unzufriedenheit« und ein »Unbehagen« in der Bevölkerung, was mehr Wählerstimmen für die Rechten zur Folge habe. Diese Behauptungen sind so selbstverständlich geworden, dass weiter kein Gedanke daran verschwendet wird, ob sie wirklich wahr sind.
Tatsächlich handelt es sich hier um eine Scheinbegründung, die nichts erklärt, sondern vieles verunklart. Vor allem wird das Problem der ungleichen und ungerechten Verteilung von Wohlstand und Lebenschancen nicht benannt, wenn nicht sogar bewusst verschwiegen. Diese ist nämlich nicht nur die Hauptursache der weltweiten Migrationsbewegungen, sondern auch die Ursache dafür, dass Zuwandernde mit den Einheimischen in eine Konkurrenzsituation geraten, was Arbeitsstellen, Wohnungen und Sozialleistungen betrifft. Dann erscheint es so, als ob die Zuwanderer den Einheimischen etwas wegnehmen würden, als ob sie es seien, die daran schuld sind, dass es zu wenige Jobs, zu wenige Wohnungen und zu wenig Unterstützung für Notleidende gibt.
Würden Fluchtursachen bekämpft, die Entwicklungshilfe für ärmere Länder verstärkt und genügend Mittel für die Integration von Migrantinnen und Migranten bereitgestellt, dann ließen sich der Migrationsdruck und die Divergenzen zwischen denen, die ins Land kommen, und denen, die schon da sind, entschärfen. Wer daran kein Interesse hat, dürfte klar sein: Diejenigen, die von der Ausbeutung billiger und williger Arbeitskräfte profitieren, die möglichst wenig Steuern für Gemeinschaftsaufgaben zahlen wollen und denen es nur recht sein kann, wenn die Konkurrenz unter den Lohnabhängigen verhindert, dass sie sich zusammenschließen und gemeinsam ihre Lage zu verbessern suchen.
Die »allgemeine Unzufriedenheit« und das »Unbehagen« richten sich nicht automatisch, nicht von selbst auf Migrantinnen und Migranten, sondern sie werden auf sie gerichtet. Das Muster dabei ist immer das gleiche: Die gesellschaftliche Spaltungs- und Konfliktachse wird aus der Vertikalen in die Horizontale gedreht, also regelrecht verdreht. Aus dem Gegensatz zwischen Oben und Unten, Mächtigen und Abhängigen, Kapital und Arbeit wird so ein Gegensatz zwischen Innen und Außen, Einheimischen und Fremden gemacht. Fremd sind dabei nicht nur Einwandernde und Asylsuchende, sondern auch »globalistische Eliten«, die angeblich von außen hineinregieren und steuern wollen. Ihnen wird vorgeworfen, die internationale Migration zu forcieren und einen »großen Austausch« der Bevölkerungen zu planen, um sie besser manipulieren zu können.
Dagegen müsse sich die Gemeinschaft der Einheimischen schützen und zur Wehr setzen. Zu dieser Gemeinschaft gehören nicht nur abhängig Arbeitende, sondern auch Selbstständige und die »nationale« Unternehmerschaft. Tendenziell ausgeschlossen aus ihr werden »asoziale Elemente«, »nicht Arbeitswillige« und »nicht Integrationsfähige«. Diese Vorstellung entspricht einer Ethnisierung und Kulturalisierung sozialer Konflikte, während ihr sozialstruktureller, systemischer und ökonomischer Hintergrund verleugnet wird.
Die Ethnisierung des Sozialen verwandelt gesellschaftliche Verhältnisse in solche der Natur und der Kultur – die festliegende biologische oder kulturelle Herkunft und Zugehörigkeit der Beteiligten werden wichtiger als ihre veränderbare soziale und politische Position.
Warum gewinnen solche Anschauungen immer mehr Anhänger und Sympathisanten? Die Gründe dafür sind vielfältig. Fangen wir mit dem Einfachsten an: »Jeder ist sich selbst der Nächste«; »Das Hemd ist mir näher als der Rock« – diese populären Merksprüche drücken aus, was besonders in Zeiten der Krise und einer wachsenden Verunsicherung für viele zur Leitschnur wird. Jahrzehnte neoliberaler Hegemonie haben das Ihre dazu getan, die Tendenzen zur Individualisierung und Entsolidarisierung zu verstärken. Die alten und neuen sozialen Bewegungen haben dem nicht genügend entgegensetzen können. Eine ideale Situation für die politische Rechte, um erfolgreich Gemeinschaftsangebote zur Identifikation mit dem »Eigenen« zu machen, das gegen das »Fremde«, gegen die feindliche und verunsichernde Außenwelt abgegrenzt werden soll. So kann an die Stelle einer Wahrnehmung der tatsächlich bedrängenden sozialen Probleme und Konflikte und einer bewussten Wahrnehmung eigener Bedürfnisse und Interessen der Kulturkampf um Unterschiede im Lebensstil und in Glaubensdingen treten.
Es ist bequemer und ungefährlicher, den wachsenden Unmut auf dafür bereitgestellte Sündenböcke zu lenken, statt auf die wirklichen Ursachen der Beschwerden. Der Soziologe Zygmunt Baumann hat die Feindseligkeit gegenüber Migrantinnen und Migranten einmal als »umgeleiteten Zorn« bezeichnet, der Politikwissenschaftler Claus Leggewie als »verschobenen Klassenkampf«. Hier müsste quasi eine Umkehr oder Rückübersetzung erfolgen, um die ursprünglichen, berechtigten Anlässe und Intentionen freizulegen.