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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Falsche Feindbestimmung

Bei den por­tu­gie­si­schen Par­la­ments­wah­len im Mai hat die rechts­po­pu­li­sti­sche Par­tei Che­ga (»Genug«) ihr bis­he­ri­ges Ergeb­nis von 18 Pro­zent auf fast 23 Pro­zent gestei­gert. Das ent­spricht dem gegen­wär­ti­gen Trend in Euro­pa. In der Frank­fur­ter Rund­schau hieß es dazu: »Alle, die Che­ga nicht gewählt haben, fra­gen sich nach den Moti­ven derer, die das getan haben. All­ge­mei­ne Unzu­frie­den­heit fällt den mei­sten ein, ins­be­son­de­re Unbe­ha­gen ange­sichts zuneh­men­der Migra­ti­on. Wirt­schaft­lich ist Por­tu­gal aus dem Gröb­sten raus, gehört aber immer noch zu Euro­pas Schluss­lich­tern« (20. Mai 2025).

Die­se Erklä­rung ist typisch für das, was man in den Medi­en zu lesen und zu hören bekommt, wenn wie­der ein­mal die Rech­ten zuge­legt haben. Als ob der ehe­ma­li­ge Innen­mi­ni­ster See­ho­fer (CSU) bestä­tigt wer­den soll, der die Migra­ti­on sei­ner­zeit als »Mut­ter aller Pro­ble­me« bezeich­net hat – was alle Rechts­po­pu­li­sten seit­dem nach­spre­chen. Die Migra­ti­on neh­me eben stän­dig zu und ins­be­son­de­re des­halb wach­se die »all­ge­mei­ne Unzu­frie­den­heit« und ein »Unbe­ha­gen« in der Bevöl­ke­rung, was mehr Wäh­ler­stim­men für die Rech­ten zur Fol­ge habe. Die­se Behaup­tun­gen sind so selbst­ver­ständ­lich gewor­den, dass wei­ter kein Gedan­ke dar­an ver­schwen­det wird, ob sie wirk­lich wahr sind.

Tat­säch­lich han­delt es sich hier um eine Schein­be­grün­dung, die nichts erklärt, son­dern vie­les ver­un­klart. Vor allem wird das Pro­blem der unglei­chen und unge­rech­ten Ver­tei­lung von Wohl­stand und Lebens­chan­cen nicht benannt, wenn nicht sogar bewusst ver­schwie­gen. Die­se ist näm­lich nicht nur die Haupt­ur­sa­che der welt­wei­ten Migra­ti­ons­be­we­gun­gen, son­dern auch die Ursa­che dafür, dass Zuwan­dern­de mit den Ein­hei­mi­schen in eine Kon­kur­renz­si­tua­ti­on gera­ten, was Arbeits­stel­len, Woh­nun­gen und Sozi­al­lei­stun­gen betrifft. Dann erscheint es so, als ob die Zuwan­de­rer den Ein­hei­mi­schen etwas weg­neh­men wür­den, als ob sie es sei­en, die dar­an schuld sind, dass es zu weni­ge Jobs, zu weni­ge Woh­nun­gen und zu wenig Unter­stüt­zung für Not­lei­den­de gibt.

Wür­den Flucht­ur­sa­chen bekämpft, die Ent­wick­lungs­hil­fe für ärme­re Län­der ver­stärkt und genü­gend Mit­tel für die Inte­gra­ti­on von Migran­tin­nen und Migran­ten bereit­ge­stellt, dann lie­ßen sich der Migra­ti­ons­druck und die Diver­gen­zen zwi­schen denen, die ins Land kom­men, und denen, die schon da sind, ent­schär­fen. Wer dar­an kein Inter­es­se hat, dürf­te klar sein: Die­je­ni­gen, die von der Aus­beu­tung bil­li­ger und wil­li­ger Arbeits­kräf­te pro­fi­tie­ren, die mög­lichst wenig Steu­ern für Gemein­schafts­auf­ga­ben zah­len wol­len und denen es nur recht sein kann, wenn die Kon­kur­renz unter den Lohn­ab­hän­gi­gen ver­hin­dert, dass sie sich zusam­men­schlie­ßen und gemein­sam ihre Lage zu ver­bes­sern suchen.

Die »all­ge­mei­ne Unzu­frie­den­heit« und das »Unbe­ha­gen« rich­ten sich nicht auto­ma­tisch, nicht von selbst auf Migran­tin­nen und Migran­ten, son­dern sie wer­den auf sie gerich­tet. Das Muster dabei ist immer das glei­che: Die gesell­schaft­li­che Spal­tungs- und Kon­flikt­ach­se wird aus der Ver­ti­ka­len in die Hori­zon­ta­le gedreht, also regel­recht ver­dreht. Aus dem Gegen­satz zwi­schen Oben und Unten, Mäch­ti­gen und Abhän­gi­gen, Kapi­tal und Arbeit wird so ein Gegen­satz zwi­schen Innen und Außen, Ein­hei­mi­schen und Frem­den gemacht. Fremd sind dabei nicht nur Ein­wan­dern­de und Asyl­su­chen­de, son­dern auch »glo­ba­li­sti­sche Eli­ten«, die angeb­lich von außen hin­ein­re­gie­ren und steu­ern wol­len. Ihnen wird vor­ge­wor­fen, die inter­na­tio­na­le Migra­ti­on zu for­cie­ren und einen »gro­ßen Aus­tausch« der Bevöl­ke­run­gen zu pla­nen, um sie bes­ser mani­pu­lie­ren zu können.

Dage­gen müs­se sich die Gemein­schaft der Ein­hei­mi­schen schüt­zen und zur Wehr set­zen. Zu die­ser Gemein­schaft gehö­ren nicht nur abhän­gig Arbei­ten­de, son­dern auch Selbst­stän­di­ge und die »natio­na­le« Unter­neh­mer­schaft. Ten­den­zi­ell aus­ge­schlos­sen aus ihr wer­den »aso­zia­le Ele­men­te«, »nicht Arbeits­wil­li­ge« und »nicht Inte­gra­ti­ons­fä­hi­ge«. Die­se Vor­stel­lung ent­spricht einer Eth­ni­sie­rung und Kul­tu­ra­li­sie­rung sozia­ler Kon­flik­te, wäh­rend ihr sozi­al­struk­tu­rel­ler, syste­mi­scher und öko­no­mi­scher Hin­ter­grund ver­leug­net wird.

Die Eth­ni­sie­rung des Sozia­len ver­wan­delt gesell­schaft­li­che Ver­hält­nis­se in sol­che der Natur und der Kul­tur – die fest­lie­gen­de bio­lo­gi­sche oder kul­tu­rel­le Her­kunft und Zuge­hö­rig­keit der Betei­lig­ten wer­den wich­ti­ger als ihre ver­än­der­ba­re sozia­le und poli­ti­sche Position.

War­um gewin­nen sol­che Anschau­un­gen immer mehr Anhän­ger und Sym­pa­thi­san­ten? Die Grün­de dafür sind viel­fäl­tig. Fan­gen wir mit dem Ein­fach­sten an: »Jeder ist sich selbst der Näch­ste«; »Das Hemd ist mir näher als der Rock« – die­se popu­lä­ren Merk­sprü­che drücken aus, was beson­ders in Zei­ten der Kri­se und einer wach­sen­den Ver­un­si­che­rung für vie­le zur Leit­schnur wird. Jahr­zehn­te neo­li­be­ra­ler Hege­mo­nie haben das Ihre dazu getan, die Ten­den­zen zur Indi­vi­dua­li­sie­rung und Ent­so­li­da­ri­sie­rung zu ver­stär­ken. Die alten und neu­en sozia­len Bewe­gun­gen haben dem nicht genü­gend ent­ge­gen­set­zen kön­nen. Eine idea­le Situa­ti­on für die poli­ti­sche Rech­te, um erfolg­reich Gemein­schafts­an­ge­bo­te zur Iden­ti­fi­ka­ti­on mit dem »Eige­nen« zu machen, das gegen das »Frem­de«, gegen die feind­li­che und ver­un­si­chern­de Außen­welt abge­grenzt wer­den soll. So kann an die Stel­le einer Wahr­neh­mung der tat­säch­lich bedrän­gen­den sozia­len Pro­ble­me und Kon­flik­te und einer bewuss­ten Wahr­neh­mung eige­ner Bedürf­nis­se und Inter­es­sen der Kul­tur­kampf um Unter­schie­de im Lebens­stil und in Glau­bens­din­gen treten.

Es ist beque­mer und unge­fähr­li­cher, den wach­sen­den Unmut auf dafür bereit­ge­stell­te Sün­den­böcke zu len­ken, statt auf die wirk­li­chen Ursa­chen der Beschwer­den. Der Sozio­lo­ge Zyg­munt Bau­mann hat die Feind­se­lig­keit gegen­über Migran­tin­nen und Migran­ten ein­mal als »umge­lei­te­ten Zorn« bezeich­net, der Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Claus Leg­ge­wie als »ver­scho­be­nen Klas­sen­kampf«. Hier müss­te qua­si eine Umkehr oder Rück­über­set­zung erfol­gen, um die ursprüng­li­chen, berech­tig­ten Anläs­se und Inten­tio­nen freizulegen.

 

Ausgabe 15.16/2025