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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Francesca da Rimini

Chri­stof Loy insze­niert sel­ten gespiel­te Opern. Dar­in ist er Per­fek­tio­nist. Im Novem­ber folgt noch die Pre­mie­re von Umber­to Giord­a­nos »Fedo­ra«. Mit »Fran­ce­s­ca da Rimi­ni« von Ric­car­do Zan­do­nai (1883-1944) wähl­te er sogar den noch sel­te­ne­ren Fall einer Lite­ra­tur­oper. Die­se Gat­tung schließt an Richard Wag­ners Opern­dra­men an, folgt jedoch deren etwas spä­te­rer ita­lie­ni­scher Verismo-Variante.

Zan­do­nais »Fran­ce­s­ca da Rimi­ni« hat­te 1914 Pre­mie­re. Musik­ver­le­ger Tito Ricor­di such­te nicht nach einem berühm­ten Kom­po­ni­sten. Die Musik soll­te sich dem The­ma unter­ord­nen. Denn die Vor­aus­set­zung für die­se Oper war mit Gabrie­le D’Annunzios gleich­na­mi­gem Dra­ma bereits zwan­zig Jah­re frü­her geschaf­fen. Der Grat­wan­de­rer der Kün­ste wid­me­te sein Büh­nen­stück Dan­te, Fran­ce­s­ca da Rimi­ni und Pao­lo Mala­te­sta. Die­sem Bekennt­nis zu Dan­te Ali­ghie­ri und des­sen berühm­ter Lie­bes­ge­schich­te aus der »Gött­li­chen Komö­die« wohn­te bereits ein unüber­seh­ba­rer Bezug zur Gegen­wart, dem Sym­bo­lis­mus im Fin de Siè­cle bei. Denn D’Annunzios Wid­mung galt nicht dem »gött­li­chen« Dan­te wie die­ser erst seit Gio­van­ni Boc­c­ac­cio genannt wird, son­dern sei­ner Gelieb­ten, der »gött­li­chen Eleo­no­re Duse«, die die Titel­rol­le spiel­te. Das Stück wur­de 1901 ein sen­sa­tio­nel­ler Bühnenerfolg.

Wor­um war es Dan­te gegan­gen? Wes­halb sind sei­ne Kunst­fi­gu­ren Fran­ce­s­ca da Rimi­ni und Pao­lo Mala­te­sta bis heu­te so prä­sent? Um 1300 schil­dert Dan­te das Ver­lie­ben wie einen Blitz­schlag, der bei Betrof­fe­nen eine Ket­te unauf­halt­sa­mer inne­rer Befind­lich­kei­ten und Wand­lun­gen aus­löst. Sie sind gebannt, wer­den Schritt um Schritt von­ein­an­der ver­ein­nahmt, hal­ten anein­an­der fest. Was dar­aus folgt, ist ihnen abso­lut gleich­gül­tig. Das wird fas­zi­nie­rend aus­dif­fe­ren­ziert in der »Gött­li­chen Komödie«.

Fran­ce­s­ca war ver­hei­ra­tet. Sie ver­liebt sich in Pao­lo, Il Bel­lo, ihren Schwa­ger. Sie lasen gemein­sam nur ein Buch. Das war die Lie­bes­ge­schich­te von Rit­ter Lanze­lot aus dem König-Artus-Mythos. Dabei kam es zum ersten Kuss, wonach die berühm­ten Wor­te fie­len »quel gior­no piú non vi leg­ge­mo avan­te«. Wei­ter­le­sen konn­ten wir an die­sem Tage nicht mehr. Ehe­bruch folg­te. In fla­gran­ti vom Ehe­mann Gian­ciot­to Mala­te­sta gestellt, erstach die­ser bei­de an Ort und Stel­le. Ein Mord. Den schil­dert Dan­te nicht. Als der Dich­ter dem Paar im zwei­ten Höll­enzy­lin­der begeg­ne­te, ließ er sich von Fran­ce­s­ca Erin­ne­run­gen an ihre Tra­gö­die erzäh­len. Aus Mit­ge­fühl schwan­den ihm dabei die Sin­ne. Er fiel zu Boden, »wie ein toter Kör­per fällt«. Dan­tes Empa­thie für die­se ver­bo­te­ne Lie­be löste sich erst in einer Ohn­macht auf. Die Geschich­te ent­sprang wesent­lich Dan­tes Erfin­dung. Bis heu­te wird nach Quel­len gesucht. Dem Ver­ständ­nis aber für unauf­lös­ba­re Lie­be war mit neu­en Wort­fin­dun­gen erst­mals ein Denk­mal gesetzt.

Dan­tes Nach­fol­gern erschien die Tra­gö­die jedoch all­zu ver­knappt geschil­dert. Da fehl­te alles, Grün­de für den Ver­rat am Ehe­mann, und wie der Mord vor sich ging. Boc­c­ac­cio begann schon 1373 in sei­nen Vor­le­sun­gen zur »Gött­li­chen Komö­die« mit aus­führ­li­chen Kom­men­ta­ren und Ergän­zun­gen. Epo­chen­pro­ble­ma­tik, Stil­ent­wick­lung, Wan­del der Geschlech­ter­be­zie­hun­gen füll­ten in den fol­gen­den Epo­chen die Tra­gö­die mit immer neu­en auf­re­gen­den Aspek­ten auf. Ver­ge­gen­wär­ti­gun­gen des Gesche­hens gab es zu allen Zei­ten. Im spä­ten 19. Jahr­hun­dert hat­ten Lie­be, Ehe­bruch und Mord Dich­tung und Musik voll­kom­men im Griff. Mit auf­kom­men­der Dan­te-Renais­sance ist auch die »Gött­li­che Komö­die« in die­sem Zusam­men­hang neu inter­pre­tiert wor­den. Hen­rik Ibsen, der Nobel­preis­trä­ger José Eche­ga­ray mit »El gran Galeo­to« u. a. tru­gen die­se tra­gi­sche Geschich­te von Fran­ce­s­ca in das moder­ne bür­ger­li­che Leben hinein.

Wie insze­niert nun Chri­stof Loy den Opern­stoff? Der Lie­bes­ge­schich­te wird erst ein­mal eine wüste Kampf­sze­ne zwi­schen Ghi­bel­li­nen und Guel­fen vor­an­ge­stellt. Dar­aus soll die Ver­fein­dung der Fami­li­en da Polen­ta aus Raven­na und der Mala­te­sta di Veruc­chio in Rimi­ni erklärt und ursäch­lich für die fol­gen­de dyna­sti­sche Hei­rat her­aus­ge­stellt wer­den. Von der Hei­rat ver­spricht man sich Fami­li­en­frie­den sowie Macht­zu­wachs. Zum Voll­zug des Ehe­ver­trags erscheint der schö­ne Pao­lo aus Rimi­ni. In ihn ver­liebt sich Fran­ce­s­ca auf Anhieb. Eine Lese­stun­de wird hier­zu nicht mehr gebraucht. Den­noch fliegt ein Buch unmo­ti­viert durch die Luft, für den Ken­ner ein Dan­te­zi­tat. Dass der tat­säch­li­che Ehe­mann, histo­risch ver­stan­den, nie selbst zur Wer­bung anreist, das weiß Fran­ce­s­ca offen­bar nicht. Nicht Pao­lo »Il bel­lo« wird Ehe­mann, son­dern der fami­li­en­äl­te­ste, aber hin­ken­de Gian­ciot­to Mala­te­sta. Sie merkt es jeden­falls erst am frü­hen Mor­gen nach der Hoch­zeits­nacht. Damit geht es ihr wie Brünn­hil­de in Wag­ners Ring. Die­se hat­te die Ver­wechs­lung des schwa­chen Königs Gun­ther mit dem star­ken Sieg­fried auch erst am Mor­gen nach der Hoch­zeits­nacht erkannt. Die­ser Wider­spruch bricht unver­mit­telt in die moder­ne Insze­nie­rung ein. Er bleibt unauf­ge­löst, wird über­spielt, so dass die Lie­bes­ge­schich­te mit Pao­lo über­haupt nicht zün­det. D’Annunzio hat­te die Fami­lie Mala­te­sta erwei­tert mit dem bru­ta­len Mala­testi­no, einem wei­te­ren Bru­der des Ehe­manns. Also ver­kehr­te sie – im moder­nen Sin­ne, nichts Außer­ge­wöhn­li­ches, mit Il Bel­lo, ihrem Lieb­ha­ber, dem Ehe­mann Gian­ciot­to und aus Angst noch mit dem bru­ta­len ein­äu­gi­gen Malatestino.

Bis der Ehe­mann von die­sem eifer­süch­ti­gen Bru­der alles erfährt. In Fla­gran­ti ertappt, ersticht der Betro­ge­ne sei­ne Frau und den eige­nen Bru­der im Bett. Die­ser Mord wird – genau im Gegen­satz zu Dan­te – so sug­ge­stiv aus­ge­wei­tet wie im Kri­mi in Fern­se­hen oder Kino. Zan­do­nai ent­fernt sich musi­ka­lisch von den gro­ßen Veri­sten der ita­lie­ni­schen Oper eines Gia­co­mo Puc­ci­ni, Rug­ge­ro Leon­ca­vallo und auch von sei­nem Leh­rer Pie­tro Mas­ca­gni. Er ver­zich­tet gänz­lich auf die Tra­di­ti­on von Ari­en und Duet­ten. Im Lie­bes­akt, der zugleich der Ster­be­akt für bei­de Prot­ago­ni­sten wird, gestat­tet der Kom­po­nist, das Zusam­men­sin­gen des Paa­res. Das bleibt einmalig.

Diri­gent Car­lo Riz­zi, der jedoch das Reper­toire der klas­si­schen ita­lie­ni­schen Oper bevor­zugt, bie­tet im Pro­gramm­heft einen Kom­men­tar zur Moder­ni­tät von Zan­do­nais Musik für die lite­ra­ri­sche Oper, die er als frü­hes Bei­spiel für das Musik­thea­ter inter­pre­tiert. Obwohl das gro­ße Orche­ster in der Stär­ke von 120 Instru­men­ta­li­sten mit allen Raf­fi­nes­sen aus­ge­stat­tet ist, domi­niert eine star­ke jeweils punk­tu­ell auf das Libret­to bezo­ge­ne, aber orche­stral groß­räu­mi­ge Rhyth­mik. So als wol­le die Musik den Inhalt selbst erzäh­len. Beim Auf­tritt des hin­ken­den Mala­testi­no schla­gen die Bogen­stan­gen auf die Sai­ten der Gei­gen. Sie ver­wei­sen auf die Bru­ta­li­tät von Mala­testi­no. Das Publi­kum raste vor Begeisterung.

Die Oper wird wegen der hohen musi­ka­li­schen Ansprü­che an das Gro­ße Orche­ster und an die sän­ge­ri­sche Beset­zung im Novem­ber nur drei­mal gespielt.