Christof Loy inszeniert selten gespielte Opern. Darin ist er Perfektionist. Im November folgt noch die Premiere von Umberto Giordanos »Fedora«. Mit »Francesca da Rimini« von Riccardo Zandonai (1883-1944) wählte er sogar den noch selteneren Fall einer Literaturoper. Diese Gattung schließt an Richard Wagners Operndramen an, folgt jedoch deren etwas späterer italienischer Verismo-Variante.
Zandonais »Francesca da Rimini« hatte 1914 Premiere. Musikverleger Tito Ricordi suchte nicht nach einem berühmten Komponisten. Die Musik sollte sich dem Thema unterordnen. Denn die Voraussetzung für diese Oper war mit Gabriele D’Annunzios gleichnamigem Drama bereits zwanzig Jahre früher geschaffen. Der Gratwanderer der Künste widmete sein Bühnenstück Dante, Francesca da Rimini und Paolo Malatesta. Diesem Bekenntnis zu Dante Alighieri und dessen berühmter Liebesgeschichte aus der »Göttlichen Komödie« wohnte bereits ein unübersehbarer Bezug zur Gegenwart, dem Symbolismus im Fin de Siècle bei. Denn D’Annunzios Widmung galt nicht dem »göttlichen« Dante wie dieser erst seit Giovanni Boccaccio genannt wird, sondern seiner Geliebten, der »göttlichen Eleonore Duse«, die die Titelrolle spielte. Das Stück wurde 1901 ein sensationeller Bühnenerfolg.
Worum war es Dante gegangen? Weshalb sind seine Kunstfiguren Francesca da Rimini und Paolo Malatesta bis heute so präsent? Um 1300 schildert Dante das Verlieben wie einen Blitzschlag, der bei Betroffenen eine Kette unaufhaltsamer innerer Befindlichkeiten und Wandlungen auslöst. Sie sind gebannt, werden Schritt um Schritt voneinander vereinnahmt, halten aneinander fest. Was daraus folgt, ist ihnen absolut gleichgültig. Das wird faszinierend ausdifferenziert in der »Göttlichen Komödie«.
Francesca war verheiratet. Sie verliebt sich in Paolo, Il Bello, ihren Schwager. Sie lasen gemeinsam nur ein Buch. Das war die Liebesgeschichte von Ritter Lanzelot aus dem König-Artus-Mythos. Dabei kam es zum ersten Kuss, wonach die berühmten Worte fielen »quel giorno piú non vi leggemo avante«. Weiterlesen konnten wir an diesem Tage nicht mehr. Ehebruch folgte. In flagranti vom Ehemann Gianciotto Malatesta gestellt, erstach dieser beide an Ort und Stelle. Ein Mord. Den schildert Dante nicht. Als der Dichter dem Paar im zweiten Höllenzylinder begegnete, ließ er sich von Francesca Erinnerungen an ihre Tragödie erzählen. Aus Mitgefühl schwanden ihm dabei die Sinne. Er fiel zu Boden, »wie ein toter Körper fällt«. Dantes Empathie für diese verbotene Liebe löste sich erst in einer Ohnmacht auf. Die Geschichte entsprang wesentlich Dantes Erfindung. Bis heute wird nach Quellen gesucht. Dem Verständnis aber für unauflösbare Liebe war mit neuen Wortfindungen erstmals ein Denkmal gesetzt.
Dantes Nachfolgern erschien die Tragödie jedoch allzu verknappt geschildert. Da fehlte alles, Gründe für den Verrat am Ehemann, und wie der Mord vor sich ging. Boccaccio begann schon 1373 in seinen Vorlesungen zur »Göttlichen Komödie« mit ausführlichen Kommentaren und Ergänzungen. Epochenproblematik, Stilentwicklung, Wandel der Geschlechterbeziehungen füllten in den folgenden Epochen die Tragödie mit immer neuen aufregenden Aspekten auf. Vergegenwärtigungen des Geschehens gab es zu allen Zeiten. Im späten 19. Jahrhundert hatten Liebe, Ehebruch und Mord Dichtung und Musik vollkommen im Griff. Mit aufkommender Dante-Renaissance ist auch die »Göttliche Komödie« in diesem Zusammenhang neu interpretiert worden. Henrik Ibsen, der Nobelpreisträger José Echegaray mit »El gran Galeoto« u. a. trugen diese tragische Geschichte von Francesca in das moderne bürgerliche Leben hinein.
Wie inszeniert nun Christof Loy den Opernstoff? Der Liebesgeschichte wird erst einmal eine wüste Kampfszene zwischen Ghibellinen und Guelfen vorangestellt. Daraus soll die Verfeindung der Familien da Polenta aus Ravenna und der Malatesta di Verucchio in Rimini erklärt und ursächlich für die folgende dynastische Heirat herausgestellt werden. Von der Heirat verspricht man sich Familienfrieden sowie Machtzuwachs. Zum Vollzug des Ehevertrags erscheint der schöne Paolo aus Rimini. In ihn verliebt sich Francesca auf Anhieb. Eine Lesestunde wird hierzu nicht mehr gebraucht. Dennoch fliegt ein Buch unmotiviert durch die Luft, für den Kenner ein Dantezitat. Dass der tatsächliche Ehemann, historisch verstanden, nie selbst zur Werbung anreist, das weiß Francesca offenbar nicht. Nicht Paolo »Il bello« wird Ehemann, sondern der familienälteste, aber hinkende Gianciotto Malatesta. Sie merkt es jedenfalls erst am frühen Morgen nach der Hochzeitsnacht. Damit geht es ihr wie Brünnhilde in Wagners Ring. Diese hatte die Verwechslung des schwachen Königs Gunther mit dem starken Siegfried auch erst am Morgen nach der Hochzeitsnacht erkannt. Dieser Widerspruch bricht unvermittelt in die moderne Inszenierung ein. Er bleibt unaufgelöst, wird überspielt, so dass die Liebesgeschichte mit Paolo überhaupt nicht zündet. D’Annunzio hatte die Familie Malatesta erweitert mit dem brutalen Malatestino, einem weiteren Bruder des Ehemanns. Also verkehrte sie – im modernen Sinne, nichts Außergewöhnliches, mit Il Bello, ihrem Liebhaber, dem Ehemann Gianciotto und aus Angst noch mit dem brutalen einäugigen Malatestino.
Bis der Ehemann von diesem eifersüchtigen Bruder alles erfährt. In Flagranti ertappt, ersticht der Betrogene seine Frau und den eigenen Bruder im Bett. Dieser Mord wird – genau im Gegensatz zu Dante – so suggestiv ausgeweitet wie im Krimi in Fernsehen oder Kino. Zandonai entfernt sich musikalisch von den großen Veristen der italienischen Oper eines Giacomo Puccini, Ruggero Leoncavallo und auch von seinem Lehrer Pietro Mascagni. Er verzichtet gänzlich auf die Tradition von Arien und Duetten. Im Liebesakt, der zugleich der Sterbeakt für beide Protagonisten wird, gestattet der Komponist, das Zusammensingen des Paares. Das bleibt einmalig.
Dirigent Carlo Rizzi, der jedoch das Repertoire der klassischen italienischen Oper bevorzugt, bietet im Programmheft einen Kommentar zur Modernität von Zandonais Musik für die literarische Oper, die er als frühes Beispiel für das Musiktheater interpretiert. Obwohl das große Orchester in der Stärke von 120 Instrumentalisten mit allen Raffinessen ausgestattet ist, dominiert eine starke jeweils punktuell auf das Libretto bezogene, aber orchestral großräumige Rhythmik. So als wolle die Musik den Inhalt selbst erzählen. Beim Auftritt des hinkenden Malatestino schlagen die Bogenstangen auf die Saiten der Geigen. Sie verweisen auf die Brutalität von Malatestino. Das Publikum raste vor Begeisterung.
Die Oper wird wegen der hohen musikalischen Ansprüche an das Große Orchester und an die sängerische Besetzung im November nur dreimal gespielt.