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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Franziskus: Eine Stimme für die Entrechteten

Grün­don­ners­tag 2016. Zwei Tage nach den bei­den Selbst­mord­at­ten­ta­ten in der Brüs­se­ler Innen­stadt und am Flug­ha­fen Brüs­sel-Zaven­tem – ein Ter­ror­an­schlag, zu dem sich der IS bekannt hat­te und bei dem 32 Men­schen ums Leben kamen – ließ sich Papst Fran­zis­kus in einer Asyl­be­wer­ber­un­ter­kunft in der Klein­stadt Castel­nuo­vo di Por­to in der Nähe von Rom vor elf Asyl­be­wer­bern und einer Mit­ar­bei­te­rin der Ein­rich­tung auf die Knie nie­der und wusch ihnen die Füße. Aus­ge­wählt waren für das Ritu­al vier Katho­li­ken aus Nige­ria, drei Kop­tin­nen aus Eri­trea, ein Hin­du aus Indi­en sowie eine ita­lie­ni­sche Mit­ar­bei­te­rin der Unter­kunft. Und außer­dem drei Mus­li­me aus Mali, Paki­stan und Syri­en. Die Nach­rich­ten waren voll von der Empö­rung über den isla­mi­sti­schen Anschlag, die Stim­mung in Euro­pa war auf­ge­wühlt, doch der Papst han­del­te auch an den Mus­li­men, wie Jesus es an sei­nen Jün­gern getan hat­te. Uner­hört! Was für eine Pro­vo­ka­ti­on. Doch nicht nur den Geflüch­te­ten lie­fen die Trä­nen über das Gesicht, als das Ober­haupt von 1,4 Mil­li­ar­den Katho­li­ken ihnen nach der Waschung die Füße trock­ne­te, sie zum Mund führ­te und küss­te. Papst Fran­zis­kus sprach von einer »brü­der­li­chen« Geste im Ange­sicht von Krieg und Gewalt und ver­ur­teil­te noch­mals die Anschlä­ge von Brüs­sel als »Geste des Krie­ges, der Zer­stö­rung«. »Für uns Mos­lems ist das, was hier geschieht, ein Sym­bol des Frie­dens«, sag­te der 37-jäh­ri­ge Sira Madi­ga­ta über die Fuß­wa­schung. Das Ritu­al zei­ge, »dass ein Zusam­men­le­ben über­all mög­lich ist«.

Es waren Gesten wie die­se, die das Bild von Papst Fran­zis­kus welt­weit präg­ten. Emo­tio­na­le, empha­ti­sche, anrüh­ren­de Gesten, die in einer Zeit der poli­ti­schen Här­te uner­läss­lich, aber viel zu sel­ten sind. In katho­li­schen Gemein­den gehört die Fuß­wa­schung zur Grün­don­ners­tags­lit­ur­gie, seit Pius XII. sie 1955 als mög­li­chen Bestand­teil der Abend­mahls­mes­se fest­ge­schrie­ben hat­te. Die Tra­di­ti­on beruht auf der Über­lie­fe­rung, der zufol­ge Jesus beim letz­ten Abend­mahl vor sei­ner Kreu­zi­gung sei­nen zwölf Apo­steln die Füße wusch. Papst Fran­zis­kus hat in sei­ner Amts­zeit vie­les revo­lu­tio­niert, dar­un­ter auch die For­ma­li­en der Oster­fei­er­lich­kei­ten. Wäh­rend sei­ne Vor­gän­ger aus­schließ­lich Prie­stern die Füße wuschen, wähl­te Fran­zis­kus für die Fuß­wa­schung regel­mä­ßig Lai­en, dar­un­ter Kran­ke, Behin­der­te, Häft­lin­ge, Flücht­lin­ge – und auch Frau­en. Sie sind seit Janu­ar 2016 per Dekret von Papst Fran­zis­kus zu der Zere­mo­nie zuge­las­sen. Damit brach der Argen­ti­ni­er mit alt­her­ge­brach­ten Kir­chen­tra­di­tio­nen und brach­te kon­ser­va­ti­ve Katho­li­ken gegen sich auf – so wie mit der Fuß­wa­schung bei Muslimen.

2013 führ­te sei­ne erste Rei­se den frisch gewähl­ten Pon­ti­fex auf die Flucht­in­sel Lam­pe­du­sa. Der erste Latein­ame­ri­ka­ner auf dem Stuhl Petri, selbst Sohn von Migran­ten wie er ein­mal vor dem US-Kon­gress beton­te, hielt dem angeb­lich christ­li­chen Abend­land den Spie­gel vor: Er stand immer auf der Sei­te der Aus­ge­schlos­se­nen, er küss­te und umarm­te Men­schen in Flücht­lings­hei­men, in Gefäng­nis­sen und Armen­vier­teln. Die Neue Züri­cher Zei­tung nann­te Fran­zis­kus‹ Wir­ken eine »Revo­lu­ti­on der zärt­li­chen Liebe«.

In sei­nem Gepäck hat­te Fran­zis­kus, der erste latein­ame­ri­ka­ni­sche Papst und der erste Jesu­it im Amt, die Befrei­ungs­theo­lo­gie mit in den Vati­kan gebracht. Spät beru­fen war der Argen­ti­ni­er ein gemä­ßig­ter, aber doch klas­si­scher Ver­tre­ter die­ser lin­ken Got­tes­leh­re. Das zeig­te sich auch immer wie­der in sei­nen Ankla­gen gegen Kriegs­trei­ber und mili­tä­ri­sche Auf­rü­stung, in sei­nen Appel­len zur Lage der Armen oder der Flücht­lin­ge. Mit sei­nem Tod ist die ein­zi­ge pro­mi­nen­te Stim­me gegen die ent­fes­sel­te euro­päi­sche Migra­ti­ons­po­li­tik ver­schwun­den. »Die Katho­li­ken«, so titel­te die Washing­ton Post, trau­ern um die ver­lo­re­ne Stim­me für die Ent­rech­te­ten.« Sicher nicht nur die Katholiken.

 

Ausgabe 15.16/2025