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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Freiheitswissen

War­um ist es so schwer, frag­te kürz­lich die Schrift­stel­le­rin Juli Zeh in der Sen­dung Hart aber fair, ein Gegen­gift gegen das Gift zu fin­den, das Donald Trump der Hälf­te der ame­ri­ka­ni­schen Bevöl­ke­rung erfolg­reich ver­ab­reicht hat? Wo bleibt die Gegen­er­zäh­lung, die uns emo­tio­nal anspricht und uns gleich­zei­tig zu einer ver­nünf­ti­ge­ren Poli­tik füh­ren könn­te? – Das macht mich so ner­vös, dass mir das sel­ber auch nicht ein­fällt, sag­te sie.

Die­ses Ein­ge­ständ­nis hat mich tief bewegt. Wir sind zwar der Über­zeu­gung, dass die Mensch­heit auf dem Weg ist, eine von äuße­ren Zwän­gen, Trie­ben und patri­ar­cha­li­schen Struk­tu­ren gepräg­te Lebens­wei­se zu über­win­den. Und doch leben wir heu­te in einer Welt, die von wach­sen­den Macht­kon­zen­tra­tio­nen und Krie­gen gezeich­net ist. Wir sehen uns mit einem Welt­bild kon­fron­tiert, das uns glau­ben lässt, alles sei objek­tiv vor­her­be­stimmt und damit »beherrsch­bar« – durch Daten, durch Geset­ze der Phy­sik, durch künst­li­che Intelligenz.

Die­se Ent­wick­lung führt– so para­dox das zunächst erscheint – zu einer Über­be­wer­tung von Authen­ti­zi­tät. Men­schen befür­wor­ten heu­te »ech­te Authen­ti­zi­tät« – und wäh­len Donald Trump, weil die­ser so »authen­tisch« daher­kom­me (sie­he Rüdi­ger Dam­mann: »Im Authen­ti­zi­täts­wahn«, Ossietzky 04/​2021). Das eigent­li­che Dra­ma fin­det auf der Rück­sei­te die­ses Gesche­hens statt und ist des­halb bis heu­te nur wenig greif­bar. Unser gan­zer neu­zeit­li­cher Meta­bo­lis­mus ist durch­drun­gen von einer Ent­wick­lungs­rich­tung, die zurück ins Reich des »authen­ti­schen Patri­ar­chats« der Herr­scher, Köni­ge und Alpha-Tie­re führt. Dem­ge­gen­über steht aber die Geburt von etwas ande­rem, das eben jene kano­nisch-instruk­ti­ve Welt über­wand. Und zwar mit­tels einer neu­ar­ti­gen, offe­nen und kul­tur-ermög­li­chen­den Sprach- und Denk­fä­hig­keit. Das ist die Geburts­stun­de des Sub­jek­tes. Weil wir aber immer mehr in eine deter­mi­ni­sti­sche Welt­ma­schi­ne ein­ge­pfercht wer­den, geben unse­re Ori­en­tie­rungs­an­ten­nen kei­ne oder nur zu gerin­ge Warn­si­gna­le, dass wir unse­re noch in der Auf­klä­rung zu Wort gekom­me­ne Sub­jek­ti­vi­tät gera­de wie­der über Bord werfen.

In die­sem Welt­bild geht also etwas ver­lo­ren, nach dem auch Juli Zeh zu suchen scheint. Wir haben es aus unse­rem Den­ken aus­ge­schlos­sen und für »unwis­sen­schaft­lich« erklärt: Unser eige­nes inne­res, den­ken­des Selbst, unse­re Sub­jek­ti­vi­tät ist zur per­so­na non gra­ta gewor­den. Die Fähig­keit, die Welt nicht nur zu beob­ach­ten, son­dern sie aus unse­rem inne­ren Erle­ben her­aus zu gestal­ten, haben wir zuneh­mend ver­drängt. Wie sonst kön­nen wir uns erklä­ren, dass wir die Poten­tia­le von Asyl­be­wer­bern über Mona­te und sogar Jah­re unge­nutzt las­sen? Könn­ten wir es uns etwa lei­sten, ca. 700.000 schul­rei­fe Kin­der ein­fach nicht ein­zu­schu­len? Die­se Miss­stän­de sind kein Zufall – sie sind das Ergeb­nis eines mecha­ni­sti­schen Welt­bilds, das den Men­schen als pas­si­ves Objekt betrach­tet, nicht als krea­ti­ves, sich ent­fal­ten­des Wesen.

Das bis­he­ri­ge Kon­zept der Neu­ro­wis­sen­schaft fußt auf der »Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on« und gesteht einem System einen gestal­ten­den Ein­fluss auf sei­ne eige­ne Ent­wick­lung zu. Die Annah­me von Neu­ro­wis­sen­schaft­lern wie Wolf­gang Sin­ger oder dem inzwi­schen ver­stor­be­nen Ger­hard Roth ist, dass sol­che Ent­wick­lun­gen jedoch immer im Rah­men von deter­mi­nie­ren­den Natur­ge­set­zen erfol­gen – dass also auch zukünf­ti­ge Zustän­de des Systems dar­un­ter sub­su­miert wer­den könn­ten. Damit ver­lie­ren wir jedoch eine zen­tra­le Eigen­schaft aus dem Blick, denn wir Men­schen sind dazu in der Lage, uns zu ent­wickeln, ja sogar über uns selbst hin­aus­zu­wach­sen. Das ist zen­tral für die Ent­wick­lung der Mensch­heit und auch für jeden ein­zel­nen von uns. Und es ist ein Kern­be­stand­teil des Kon­zep­tes von Gerald Hüt­her: die Fähig­keit des Men­schen zur Ent­fal­tung unge­ahn­ter Poten­tia­le. Wir erset­zen die deter­mi­ni­sti­sche, alles begren­zen­de Sicht­wei­se durch eine Sicht­wei­se der ent­gren­zen­den Inter­ak­ti­on – ein Ansatz, der das krea­ti­ve Wech­sel­spiel zwi­schen Bewusst­sein, Erfah­rung und Umwelt als eine »Berüh­rung« ver­steht. Dadurch lösen wir ein Para­do­xon der bis­he­ri­gen Neu­ro­wis­sen­schaft auf, wonach unser Erleb­nis von Frei­heit eine pure Fik­ti­on sei. Viel­mehr sehen wir, dass unse­re neu ent­deck­te Sub­jek­ti­vi­tät den Dreh- und Angel­punkt zwi­schen Wis­sen und ech­ter Frei­heit bil­det – eine neue Per­spek­ti­ve, in der Wis­sen und Frei­heit kein Wider­spruch sind, son­dern sich gegen­sei­tig ermög­li­chen. Eine ech­te Gegen­er­zäh­lung könn­te das Welt­bild der Kon­trol­le und Begren­zung durch eine Per­spek­ti­ve der Ent­fal­tung und Inter­ak­ti­on erset­zen. Doch was wider­fährt uns heu­te nur all­zu oft?

Manch­mal fühlt es sich an wie ein Blitz­schlag: Ein Mensch oder ein Ereig­nis reißt uns unver­mit­telt aus dem All­tag, trifft uns mit einer Macht, die unser Inner­stes erschüt­tert. Vie­le Men­schen haben im letz­ten Jahr­hun­dert unsag­ba­res Leid erlebt, und wir hat­ten die Hoff­nung, dies über­wun­den zu haben. Doch in unter­schied­lich­sten Gesell­schaf­ten ist die Über­grif­fig­keit wie­der auf dem Vor­marsch. Ein Kol­le­ge mag auf den ersten Blick klug und freund­lich wir­ken. Doch nach und nach erken­nen wir ver­steck­te Angrif­fe. Sol­che Angrif­fe neh­men zu, und so stellt sich die Fra­ge: Wie ist es so weit gekommen?

Wir pro­fi­tie­ren noch heu­te von den Früch­ten der Auf­klä­rung, die uns die Bot­schaft gab, dass wir mit den Mit­teln der Ver­nunft und der Ratio­na­li­tät die Türen zu einer bes­se­ren Welt öff­nen kön­nen. Die moder­ne Wis­sen­schaft ent­stand, und Gali­leo Gali­lei gelang das Kunst­stück, die Kraft eines sol­chen Den­kens gegen die Wider­stän­de einer Kir­che und einer staat­li­chen Ord­nung durch­zu­set­zen, die auf Unter­wür­fig­keit und Gehor­sam auf­bau­te. Die­ses Wis­sen war bewusst einer »objek­ti­ven Rea­li­tät« ver­schrie­ben und ver­half den moder­nen Wis­sen­schaf­ten zu ihrem Sie­ges­zug. Das aber for­der­te einen spe­zi­fi­schen Preis, denn – so hat es Erwin Schrö­din­ger, einer der Begrün­der der Quan­ten­phy­sik, vor 50 Jah­ren kom­men­tiert: Das Sub­jek­ti­ve war in die­sem Welt­bild begriff­lich aus­ge­schlos­sen. Oder – anders­her­um betrach­tet: Der Aus­gangs­punkt war ein die­ser Objek­ti­vi­tät ins­ge­samt unter­leg­tes, frei­heit­li­ches Sub­jekt, das man nicht wei­ter benen­nen muss­te. Damit ruht die­se Objek­ti­vi­tät auf den Fun­da­men­ten einer auf­ge­klär­ten, der Ver­nunft zuge­wand­ten Sei­te – und begrün­de­te mit die­sem Ethos die Grund­la­gen der moder­nen Phy­sik und unse­rer heu­ti­gen Zivi­li­sa­ti­on, mit all ihren Vor­zü­gen und Pro­ble­men. Wir sind unmerk­lich vom Ethos der Auf­klä­rung in einen Ethos der Groß­ma­schi­ne und der Macht­zen­triert­heit »migriert«. Wie könn­te nun aber ein Aus­weg aussehen?

Das Gegen­gift, nach dem wir mit Juli Zeh suchen, liegt in einer ein­fa­chen, aber tie­fen Erkennt­nis: All unser Wis­sen, so objek­tiv und detail­liert es auch sein mag, folgt letzt­lich einer bis­her über­se­he­nen Logik – uns dabei zu hel­fen, über die Gren­zen von uns selbst und damit auch von unse­rer Welt hin­aus­zu­wach­sen. Wir »moder­nen« Men­schen sind wahr­schein­lich ent­stan­den, indem unse­re Vor­fah­ren sich von den herr­schen­den patri­ar­cha­li­schen Struk­tu­ren befrei­ten. Sie erschlos­sen dadurch eine wach­sen­de Viel­falt von Mög­lich­kei­ten – in einer Koevo­lu­ti­on mit der Ent­ste­hung der Spra­che. Wenn sich bei­spiels­wei­se zwei Sub­jek­te ver­bin­den oder »berüh­ren«, dann kostet dies wenig Ener­gie, kann aber viel Ener­gie frei­set­zen. Wenn man hin­ge­gen ein Sub­jekt steu­ern und kon­trol­lie­ren möch­te, dann kostet das für sich schon viel Ener­gie: Aus dem Sub­jekt wird ein Objekt fabri­ziert. Den­noch ist die­se Denk- und Hand­lungs­wei­se heu­te wie­der auf dem Vor­marsch. Und zwar, weil in kom­ple­xen Situa­tio­nen der Ver­än­de­rung (mit der wir es ja heu­te im glo­ba­len Maß­stab zu tun haben) immer eine sowohl psy­cho­lo­gisch als auch phy­si­ka­lisch erkenn­ba­re Ten­denz besteht, immer wie­der in ver­al­te­te, aber – so die Hoff­nung – »funk­tio­nie­ren­de« Hand­lungs- und Deu­tungs­wei­sen zurückzufallen.

Wie passt das aber mit der Neu­ro­wis­sen­schaft zusam­men? Der Schlüs­sel zu einer bis­her ver­schlos­se­nen Tür stammt aus der neue­ren Phy­sik. Danach for­men nicht »deter­mi­nie­ren­de« Geset­ze, son­dern Wech­sel­wir­kun­gen zwi­schen Ele­men­ten die Welt. Ähn­lich ist es mit dem mensch­li­chen Bewusst­sein: Nicht feste Struk­tu­ren, son­dern geleb­te Inter­ak­ti­on eröff­net neue Mög­lich­kei­ten. Die Ele­men­te schaf­fen sich durch ihre Inter­ak­tio­nen ihre eige­nen Räu­me, die durch eine bis­her nicht gese­he­ne Eigen­schaft gekenn­zeich­net sind: Die Ele­men­te kön­nen sich in einem Unend­li­chen, also einem Jen­sei­ti­gen »berüh­ren«. So gelingt es Ein­zellern, ihre kom­ple­xen Bewe­gungs­for­men ganz ohne »Algo­rith­men« zu orga­ni­sie­ren. Und mit Blick auf das Kon­zept der Poten­ti­al­ent­fal­tung kön­nen wir end­lich bes­ser ver­ste­hen, dass es nicht ein von außen Wir­ken­des ist, das den Kern unse­res Emp­fin­dens aus­macht, son­dern dass wir von innen her­aus den Impuls dazu nach außen geben. Wir erset­zen die deter­mi­ni­sti­sche, alles begren­zen­de Sicht­wei­se durch eine Sicht­wei­se der ent­gren­zen­den Inter­ak­ti­on. Im bis­he­ri­gen Welt­bild ist nicht vor­ge­se­hen, dass es »Sub­jek­te« gibt, die auch noch zu einer selbst­tä­ti­gen Gestal­tung der Welt imstan­de wären. Aber genau das ist der Fall – erst­mals sehen wir, dass das Sub­jek­ti­ve in uns der Dreh- und Angel­punkt zur Erschaf­fung von Wis­sen und Frei­heit ist – den »unge­schrie­be­nen Regeln« unse­res Zusam­men­le­bens. Im Kern unse­res Mensch­seins liegt ein »Frei­heits­wis­sen«, das im heu­ti­gen Welt­bild nicht nur unsicht­bar, son­dern zuneh­mend auch uner­wünscht ist.

Juli Zeh fragt nach einer Gegen­er­zäh­lung, die emo­tio­nal anspricht und zur Ver­nunft führt. Viel­leicht ist genau die­ses Frei­heits­wis­sen, unse­re Fähig­keit zur intui­ti­ven Ori­en­tie­rung, die Basis für eine sol­che Erzäh­lung. Las­sen Sie sich, lie­be Lese­rin und lie­ber Leser, dazu ein­fach ein­mal auf ihr »Hier und Jetzt« ein. Viel­leicht enga­gie­ren Sie sich gera­de für ein femi­ni­sti­sches Anlie­gen, oder den­ken dar­über nach, ob man jenen Kan­di­da­ten für die­sen Job ein­stel­len könn­te, oder sie möch­ten das Kli­ma­ge­sche­hen für sich selbst bes­ser ver­ste­hen. In die­sen Momen­ten, wo sie »bei sich« sind, ist aus Sicht einer »objek­tiv beschrie­be­nen Welt« völ­lig unde­fi­niert, in wel­chem Zustand sie sich gera­de befin­den. Sie arbei­ten am »Auf­spü­ren« von neu­en Mög­lich­kei­ten oder Zustän­den. Es ist eine star­ke, bis­her wenig beach­te­te Eigen­schaft des mensch­li­chen Gei­stes, dass wir immer zuerst unse­ren eige­nen »unge­schrie­be­nen Regeln«, unse­rem »Frei­heits­wis­sen« ver­trau­en. Dadurch schrei­ben wir unse­re inne­re Frei­heit und gleich­zei­tig unse­re inne­re Sta­bi­li­tät fort. Indem wir ver­ste­hen, dass sub­jek­ti­ve Wahr­hei­ten den Kern unse­res Den­kens aus­ma­chen, erken­nen wir auch, war­um poli­ti­sche Debat­ten oft eska­lie­ren: Wer die inne­re Welt des ande­ren angreift, greift nicht nur eine Mei­nung an, son­dern des­sen gesam­te Wirklichkeit.

Aber es gibt auch die Per­spek­ti­ve nach vor­ne. Unse­re Intui­ti­on, unser mora­li­sches Gespür, unse­re Unru­he bei Unrecht – all das sind kei­ne sub­jek­ti­ven Schwä­chen, son­dern wert­vol­le Hin­wei­se auf unse­re inne­re Frei­heit. Statt nur nach äuße­ren »authen­ti­schen« Auto­ri­tä­ten zu suchen, soll­ten wir uns die Fra­ge stel­len: Was sagt mir mei­ne inne­re Stim­me? Habe ich den Mut, ihr zu fol­gen? Das führt uns zu ech­tem Frei­heits­wis­sen. Ein auf­ge­klär­tes Indi­vi­du­um mag stark sein, doch eine Gesell­schaft, die den Wert des eigen­stän­di­gen Den­kens von allen erkennt, ist unaufhaltsam.

Die Über­grif­fig­keit, die unse­re Sub­jek­ti­vi­tät heu­te bedrängt, ist lei­der noch real und wächst sogar – aber sie ist nicht unüber­wind­bar. Das Gegen­gift liegt in uns selbst: in unse­rem Mut, unse­rer Neu­gier, unse­rer Fähig­keit, Frei­heit und Wis­sen mit­ein­an­der zu ver­bin­den. Frei­heits­wis­sen ist kei­ne abstrak­te Theo­rie, son­dern eine Pra­xis, die jeder von uns leben kann. Es beginnt mit einer ein­fa­chen, aber revo­lu­tio­nä­ren Ent­schei­dung: unse­rem eige­nen Emp­fin­den wie­der zu ver­trau­en. Der Stoff, aus dem nicht nur span­nen­de und lehr­rei­che Gegen­er­zäh­lun­gen mög­lich sind. Son­dern auch die Welt von morgen.