Warum ist es so schwer, fragte kürzlich die Schriftstellerin Juli Zeh in der Sendung Hart aber fair, ein Gegengift gegen das Gift zu finden, das Donald Trump der Hälfte der amerikanischen Bevölkerung erfolgreich verabreicht hat? Wo bleibt die Gegenerzählung, die uns emotional anspricht und uns gleichzeitig zu einer vernünftigeren Politik führen könnte? – Das macht mich so nervös, dass mir das selber auch nicht einfällt, sagte sie.
Dieses Eingeständnis hat mich tief bewegt. Wir sind zwar der Überzeugung, dass die Menschheit auf dem Weg ist, eine von äußeren Zwängen, Trieben und patriarchalischen Strukturen geprägte Lebensweise zu überwinden. Und doch leben wir heute in einer Welt, die von wachsenden Machtkonzentrationen und Kriegen gezeichnet ist. Wir sehen uns mit einem Weltbild konfrontiert, das uns glauben lässt, alles sei objektiv vorherbestimmt und damit »beherrschbar« – durch Daten, durch Gesetze der Physik, durch künstliche Intelligenz.
Diese Entwicklung führt– so paradox das zunächst erscheint – zu einer Überbewertung von Authentizität. Menschen befürworten heute »echte Authentizität« – und wählen Donald Trump, weil dieser so »authentisch« daherkomme (siehe Rüdiger Dammann: »Im Authentizitätswahn«, Ossietzky 04/2021). Das eigentliche Drama findet auf der Rückseite dieses Geschehens statt und ist deshalb bis heute nur wenig greifbar. Unser ganzer neuzeitlicher Metabolismus ist durchdrungen von einer Entwicklungsrichtung, die zurück ins Reich des »authentischen Patriarchats« der Herrscher, Könige und Alpha-Tiere führt. Demgegenüber steht aber die Geburt von etwas anderem, das eben jene kanonisch-instruktive Welt überwand. Und zwar mittels einer neuartigen, offenen und kultur-ermöglichenden Sprach- und Denkfähigkeit. Das ist die Geburtsstunde des Subjektes. Weil wir aber immer mehr in eine deterministische Weltmaschine eingepfercht werden, geben unsere Orientierungsantennen keine oder nur zu geringe Warnsignale, dass wir unsere noch in der Aufklärung zu Wort gekommene Subjektivität gerade wieder über Bord werfen.
In diesem Weltbild geht also etwas verloren, nach dem auch Juli Zeh zu suchen scheint. Wir haben es aus unserem Denken ausgeschlossen und für »unwissenschaftlich« erklärt: Unser eigenes inneres, denkendes Selbst, unsere Subjektivität ist zur persona non grata geworden. Die Fähigkeit, die Welt nicht nur zu beobachten, sondern sie aus unserem inneren Erleben heraus zu gestalten, haben wir zunehmend verdrängt. Wie sonst können wir uns erklären, dass wir die Potentiale von Asylbewerbern über Monate und sogar Jahre ungenutzt lassen? Könnten wir es uns etwa leisten, ca. 700.000 schulreife Kinder einfach nicht einzuschulen? Diese Missstände sind kein Zufall – sie sind das Ergebnis eines mechanistischen Weltbilds, das den Menschen als passives Objekt betrachtet, nicht als kreatives, sich entfaltendes Wesen.
Das bisherige Konzept der Neurowissenschaft fußt auf der »Selbstorganisation« und gesteht einem System einen gestaltenden Einfluss auf seine eigene Entwicklung zu. Die Annahme von Neurowissenschaftlern wie Wolfgang Singer oder dem inzwischen verstorbenen Gerhard Roth ist, dass solche Entwicklungen jedoch immer im Rahmen von determinierenden Naturgesetzen erfolgen – dass also auch zukünftige Zustände des Systems darunter subsumiert werden könnten. Damit verlieren wir jedoch eine zentrale Eigenschaft aus dem Blick, denn wir Menschen sind dazu in der Lage, uns zu entwickeln, ja sogar über uns selbst hinauszuwachsen. Das ist zentral für die Entwicklung der Menschheit und auch für jeden einzelnen von uns. Und es ist ein Kernbestandteil des Konzeptes von Gerald Hüther: die Fähigkeit des Menschen zur Entfaltung ungeahnter Potentiale. Wir ersetzen die deterministische, alles begrenzende Sichtweise durch eine Sichtweise der entgrenzenden Interaktion – ein Ansatz, der das kreative Wechselspiel zwischen Bewusstsein, Erfahrung und Umwelt als eine »Berührung« versteht. Dadurch lösen wir ein Paradoxon der bisherigen Neurowissenschaft auf, wonach unser Erlebnis von Freiheit eine pure Fiktion sei. Vielmehr sehen wir, dass unsere neu entdeckte Subjektivität den Dreh- und Angelpunkt zwischen Wissen und echter Freiheit bildet – eine neue Perspektive, in der Wissen und Freiheit kein Widerspruch sind, sondern sich gegenseitig ermöglichen. Eine echte Gegenerzählung könnte das Weltbild der Kontrolle und Begrenzung durch eine Perspektive der Entfaltung und Interaktion ersetzen. Doch was widerfährt uns heute nur allzu oft?
Manchmal fühlt es sich an wie ein Blitzschlag: Ein Mensch oder ein Ereignis reißt uns unvermittelt aus dem Alltag, trifft uns mit einer Macht, die unser Innerstes erschüttert. Viele Menschen haben im letzten Jahrhundert unsagbares Leid erlebt, und wir hatten die Hoffnung, dies überwunden zu haben. Doch in unterschiedlichsten Gesellschaften ist die Übergriffigkeit wieder auf dem Vormarsch. Ein Kollege mag auf den ersten Blick klug und freundlich wirken. Doch nach und nach erkennen wir versteckte Angriffe. Solche Angriffe nehmen zu, und so stellt sich die Frage: Wie ist es so weit gekommen?
Wir profitieren noch heute von den Früchten der Aufklärung, die uns die Botschaft gab, dass wir mit den Mitteln der Vernunft und der Rationalität die Türen zu einer besseren Welt öffnen können. Die moderne Wissenschaft entstand, und Galileo Galilei gelang das Kunststück, die Kraft eines solchen Denkens gegen die Widerstände einer Kirche und einer staatlichen Ordnung durchzusetzen, die auf Unterwürfigkeit und Gehorsam aufbaute. Dieses Wissen war bewusst einer »objektiven Realität« verschrieben und verhalf den modernen Wissenschaften zu ihrem Siegeszug. Das aber forderte einen spezifischen Preis, denn – so hat es Erwin Schrödinger, einer der Begründer der Quantenphysik, vor 50 Jahren kommentiert: Das Subjektive war in diesem Weltbild begrifflich ausgeschlossen. Oder – andersherum betrachtet: Der Ausgangspunkt war ein dieser Objektivität insgesamt unterlegtes, freiheitliches Subjekt, das man nicht weiter benennen musste. Damit ruht diese Objektivität auf den Fundamenten einer aufgeklärten, der Vernunft zugewandten Seite – und begründete mit diesem Ethos die Grundlagen der modernen Physik und unserer heutigen Zivilisation, mit all ihren Vorzügen und Problemen. Wir sind unmerklich vom Ethos der Aufklärung in einen Ethos der Großmaschine und der Machtzentriertheit »migriert«. Wie könnte nun aber ein Ausweg aussehen?
Das Gegengift, nach dem wir mit Juli Zeh suchen, liegt in einer einfachen, aber tiefen Erkenntnis: All unser Wissen, so objektiv und detailliert es auch sein mag, folgt letztlich einer bisher übersehenen Logik – uns dabei zu helfen, über die Grenzen von uns selbst und damit auch von unserer Welt hinauszuwachsen. Wir »modernen« Menschen sind wahrscheinlich entstanden, indem unsere Vorfahren sich von den herrschenden patriarchalischen Strukturen befreiten. Sie erschlossen dadurch eine wachsende Vielfalt von Möglichkeiten – in einer Koevolution mit der Entstehung der Sprache. Wenn sich beispielsweise zwei Subjekte verbinden oder »berühren«, dann kostet dies wenig Energie, kann aber viel Energie freisetzen. Wenn man hingegen ein Subjekt steuern und kontrollieren möchte, dann kostet das für sich schon viel Energie: Aus dem Subjekt wird ein Objekt fabriziert. Dennoch ist diese Denk- und Handlungsweise heute wieder auf dem Vormarsch. Und zwar, weil in komplexen Situationen der Veränderung (mit der wir es ja heute im globalen Maßstab zu tun haben) immer eine sowohl psychologisch als auch physikalisch erkennbare Tendenz besteht, immer wieder in veraltete, aber – so die Hoffnung – »funktionierende« Handlungs- und Deutungsweisen zurückzufallen.
Wie passt das aber mit der Neurowissenschaft zusammen? Der Schlüssel zu einer bisher verschlossenen Tür stammt aus der neueren Physik. Danach formen nicht »determinierende« Gesetze, sondern Wechselwirkungen zwischen Elementen die Welt. Ähnlich ist es mit dem menschlichen Bewusstsein: Nicht feste Strukturen, sondern gelebte Interaktion eröffnet neue Möglichkeiten. Die Elemente schaffen sich durch ihre Interaktionen ihre eigenen Räume, die durch eine bisher nicht gesehene Eigenschaft gekennzeichnet sind: Die Elemente können sich in einem Unendlichen, also einem Jenseitigen »berühren«. So gelingt es Einzellern, ihre komplexen Bewegungsformen ganz ohne »Algorithmen« zu organisieren. Und mit Blick auf das Konzept der Potentialentfaltung können wir endlich besser verstehen, dass es nicht ein von außen Wirkendes ist, das den Kern unseres Empfindens ausmacht, sondern dass wir von innen heraus den Impuls dazu nach außen geben. Wir ersetzen die deterministische, alles begrenzende Sichtweise durch eine Sichtweise der entgrenzenden Interaktion. Im bisherigen Weltbild ist nicht vorgesehen, dass es »Subjekte« gibt, die auch noch zu einer selbsttätigen Gestaltung der Welt imstande wären. Aber genau das ist der Fall – erstmals sehen wir, dass das Subjektive in uns der Dreh- und Angelpunkt zur Erschaffung von Wissen und Freiheit ist – den »ungeschriebenen Regeln« unseres Zusammenlebens. Im Kern unseres Menschseins liegt ein »Freiheitswissen«, das im heutigen Weltbild nicht nur unsichtbar, sondern zunehmend auch unerwünscht ist.
Juli Zeh fragt nach einer Gegenerzählung, die emotional anspricht und zur Vernunft führt. Vielleicht ist genau dieses Freiheitswissen, unsere Fähigkeit zur intuitiven Orientierung, die Basis für eine solche Erzählung. Lassen Sie sich, liebe Leserin und lieber Leser, dazu einfach einmal auf ihr »Hier und Jetzt« ein. Vielleicht engagieren Sie sich gerade für ein feministisches Anliegen, oder denken darüber nach, ob man jenen Kandidaten für diesen Job einstellen könnte, oder sie möchten das Klimageschehen für sich selbst besser verstehen. In diesen Momenten, wo sie »bei sich« sind, ist aus Sicht einer »objektiv beschriebenen Welt« völlig undefiniert, in welchem Zustand sie sich gerade befinden. Sie arbeiten am »Aufspüren« von neuen Möglichkeiten oder Zuständen. Es ist eine starke, bisher wenig beachtete Eigenschaft des menschlichen Geistes, dass wir immer zuerst unseren eigenen »ungeschriebenen Regeln«, unserem »Freiheitswissen« vertrauen. Dadurch schreiben wir unsere innere Freiheit und gleichzeitig unsere innere Stabilität fort. Indem wir verstehen, dass subjektive Wahrheiten den Kern unseres Denkens ausmachen, erkennen wir auch, warum politische Debatten oft eskalieren: Wer die innere Welt des anderen angreift, greift nicht nur eine Meinung an, sondern dessen gesamte Wirklichkeit.
Aber es gibt auch die Perspektive nach vorne. Unsere Intuition, unser moralisches Gespür, unsere Unruhe bei Unrecht – all das sind keine subjektiven Schwächen, sondern wertvolle Hinweise auf unsere innere Freiheit. Statt nur nach äußeren »authentischen« Autoritäten zu suchen, sollten wir uns die Frage stellen: Was sagt mir meine innere Stimme? Habe ich den Mut, ihr zu folgen? Das führt uns zu echtem Freiheitswissen. Ein aufgeklärtes Individuum mag stark sein, doch eine Gesellschaft, die den Wert des eigenständigen Denkens von allen erkennt, ist unaufhaltsam.
Die Übergriffigkeit, die unsere Subjektivität heute bedrängt, ist leider noch real und wächst sogar – aber sie ist nicht unüberwindbar. Das Gegengift liegt in uns selbst: in unserem Mut, unserer Neugier, unserer Fähigkeit, Freiheit und Wissen miteinander zu verbinden. Freiheitswissen ist keine abstrakte Theorie, sondern eine Praxis, die jeder von uns leben kann. Es beginnt mit einer einfachen, aber revolutionären Entscheidung: unserem eigenen Empfinden wieder zu vertrauen. Der Stoff, aus dem nicht nur spannende und lehrreiche Gegenerzählungen möglich sind. Sondern auch die Welt von morgen.