Zum 75. Geburtstag beglückwünschte der damalige Bundespräsident Joachim Gauck den Freiburger Historiker Professor Dr. Wolfram Wette als »einen unermüdlichen Aufklärer und Mahner gegen das Vergessen« und zeichnete ihn mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande aus. Diese Ehrung würdigte einen produktiven Historiker, wissenschaftlichen Publizisten und lokalpolitisch engagierten Aktivisten, der immer wieder mit historischen Begründungen auch aktuelle Zeitfragen diskutiert, in politisch und gesellschaftlich bedeutende Debatten eingreift, historisch abgesichert Anstöße gibt, über gängige Erklärungsmuster, veröffentlichte Meinungen distanziert-kritisch zu reflektieren. Vom Leitbild eines dem äußeren wie inneren Frieden verpflichteten Verfassungspatriotismus ausgehend, ist es Wolfram Wettes Anliegen, durch historische Studien gegen Militarismus, Faschismus und Autoritarismus zu immunisieren.
Seit Jahrzehnten gehört er zu den profilierten kritischen Friedens- und Militarismusforschern mit einem beeindruckenden, umfangreichen Oeuvre, bewährt in heftigen Auseinandersetzungen mit konservativen Kontrahenten. Er gehört zu den ersten deutschen Historikern in den 1970er Jahren, die eine Kooperation von Friedensforschung und Geschichtswissenschaft wissenschaftstheoretisch begründeten. Für die damals kaum etablierte Historische Friedensforschung war es aus wissenschaftlichen und organisatorischen Gründen ein Segen, dass er zur Gruppe um den Bremer Pazifismusforscher Karl Holl stieß, die sich damals hauptsächlich mit der Organisationsgeschichte der historischen Friedensbewegung beschäftigte. Durch ihn erhielt der Arbeitskreis ein zusätzliches Profil. Ihm ist es maßgeblich zu verdanken, dass sich die Historische Friedensforschung als Teildisziplin der Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland etablieren konnte.
Sein erster Beitrag im Rahmen dieser Arbeitsgruppe über »Kriegsächtung und Kriegsverherrlichung« deutet die unterschiedlichen Pole, die Spannbreite dessen an, was Wolfram Wette wissenschaftlich auslotete: Nicht nur die Geschichte von Friedensorganisationen blieb sein Forschungsfeld und das des Arbeitskreises, sondern zugleich die historische Kriegsursachen- und Gewaltforschung, die Erforschung von internationalen und sozialen Konflikten, ebenso die Mentalitätsforschung. Wolfram Wette wurde zu einer unverzichtbaren Klammer zwischen Historischer Friedensforschung und Kritischer Militarismus-Forschung. In ihm fand der Arbeitskreis ein markantes Flaggschiff, einen argumentativ überzeugenden Geist mit Integrationskraft, der in weiten Teilen der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, einen solidarischen, vertrauenswürdigen Ratgeber, einen ertragreichen Autor, einen Redner, der schlagfertig, präzise, dabei sympathisch und verständlich durch Wort und Schrift ein breites Publikum erreicht.
Als ehemaliger Zeitsoldat, zuletzt Hauptmann der Reserve, als Historiker am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Freiburg (1971-1995), als Friedens- und Militarismusexperte, als außerordentlicher Professor in Freiburg war sein wissenschaftliches Erkenntnisinteresse weitreichend:
- die Erforschung des Vernichtungskrieges des NS-Regimes;
- die Zerstörung der Legende von der angeblich sauberen Wehrmacht;
- die Beschäftigung mit teilweise sehr fragwürdigen militärischen Traditionen;
- Erscheinungsweisen und Folgen des preußischen Militarismus;
- den Beitrag der historischen Friedensforschung für eine demokratisch gegründete Erinnerungspolitik;
- die Untersuchung von Tätern, Mitläufern und Opfern des Nationalsozialismus;
- die Erforschung einer überschaubaren Gruppe von zivilcouragierten pazifistischen Offizieren, von Rettern verfolgter Juden aus den Reihen der Wehrmacht, jener Organisation also, von der man am wenigsten Widerstreben gegen den Holocaust erwarten konnte;
- der Krieg des »kleinen Mannes«, dessen Widerständigkeit im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion;
- die Rehabilitierung jener, die wegen sog. Kriegsverrats, Wehrkraftzersetzung und Desertion hingerichtet wurden;
- Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert überhaupt;
- Beiträge zur allgemeinen deutschen Geschichte wie zur regionalgeschichtlichen Erforschung der NS-Zeit u. v. m.
Bei alledem nimmt Wolfram Wette den Friedensauftrag des Grundgesetzes ernst, historisch wie politisch gewaltfreie Friedensgestaltung und zivile Konfliktbearbeitung zu begründen. Er gehört zu jenen, die die Renaissance bellizistischer Meinungen bekämpfen, die sich scharf gegen wissenschaftlich maskierte Kriegsnostalgie wehren, die gegen Vergessen und Verdrängen argumentieren, auf die prinzipielle Friedfertigkeit der deutschen Zivilgesellschaft setzen und gegenüber militärischer Macht das erforderliche Misstrauen hegen.
Wolfram Wette ist als Wissenschaftler ein besonnener und schlagfertig argumentierender Kämpfertyp, der sich in aktuelle Debatten einmischt und sich dabei nicht scheut, gegen vorherrschende Meinungen zu löcken. Der Behauptung, eine gesteigerte Aufrüstung sei in einer »Zeitenwende« zwingend geboten, widerspricht er sachlich, argumentativ abgesichert. Den Ukrainekrieg z. B. bettet er profund historisch ein, belegt, wie Politiker und Militärs keineswegs schlafwandlerisch, sondern scharf kalkulierend von einer Position der Stärke aus Möglichkeiten einer neuen Sicherheitsstruktur von Washington bis Moskau ausschlugen. Die Völkerrechtswidrigkeit des Überfalls Russlands auf die Ukraine stellt er freilich nicht in Frage, fordert aber unablässig diplomatische Initiativen zur Konfliktbereinigung ein.
Grundlegende Werke zur deutschen Wehrmacht, zu Stalingrad, zur NS-Militärjustiz hat Wolfram Wette ebenso vorgelegt wie eindringliche, notwendige, aufrüttelnde Regionalstudien, z. B. über den »furchtbaren Juristen« Hans Karl Filbinger und über den SS-Standartenführer Karl Jäger, der für die Ermordung von 137.346 litauischen Juden verantwortlich ist – Studien, die gerade im regionalen Umfeld der Protagonisten erhebliche Kontroversen hervorriefen und zugleich zur Aufklärung über nationalsozialistische Verbrechen von Persönlichkeiten aus der vermeintlich integren bürgerlichen Mitte beitrugen.
Unerschrocken bis in diese Tage schreibt Wolfram Wette gegen den »Schwertglauben« an. Am 11. November feiert er seinen 85. Geburtstag. Viele seiner selbstständigen Veröffentlichungen, seiner von ihm herausgegebenen Bücher, seiner mehr als 50 Bände umfassenden Schriftenreihe »Geschichte und Frieden«, seiner wissenschaftlichen wie publizistischen Arbeiten, seiner regionalgeschichtlichen Studien stehen im Buchhandel oder in Bibliotheken zur Verfügung.