Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Friedensfähig, nicht kriegstüchtig

Zum 75. Geburts­tag beglück­wünsch­te der dama­li­ge Bun­des­prä­si­dent Joa­chim Gauck den Frei­bur­ger Histo­ri­ker Pro­fes­sor Dr. Wolf­ram Wet­te als »einen uner­müd­li­chen Auf­klä­rer und Mah­ner gegen das Ver­ges­sen« und zeich­ne­te ihn mit dem Bun­des­ver­dienst­kreuz am Ban­de aus. Die­se Ehrung wür­dig­te einen pro­duk­ti­ven Histo­ri­ker, wis­sen­schaft­li­chen Publi­zi­sten und lokal­po­li­tisch enga­gier­ten Akti­vi­sten, der immer wie­der mit histo­ri­schen Begrün­dun­gen auch aktu­el­le Zeit­fra­gen dis­ku­tiert, in poli­tisch und gesell­schaft­lich bedeu­ten­de Debat­ten ein­greift, histo­risch abge­si­chert Anstö­ße gibt, über gän­gi­ge Erklä­rungs­mu­ster, ver­öf­fent­lich­te Mei­nun­gen distan­ziert-kri­tisch zu reflek­tie­ren. Vom Leit­bild eines dem äuße­ren wie inne­ren Frie­den ver­pflich­te­ten Ver­fas­sungs­pa­trio­tis­mus aus­ge­hend, ist es Wolf­ram Wet­tes Anlie­gen, durch histo­ri­sche Stu­di­en gegen Mili­ta­ris­mus, Faschis­mus und Auto­ri­ta­ris­mus zu immunisieren.

Seit Jahr­zehn­ten gehört er zu den pro­fi­lier­ten kri­ti­schen Frie­dens- und Mili­ta­ris­mus­for­schern mit einem beein­drucken­den, umfang­rei­chen Oeu­vre, bewährt in hef­ti­gen Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit kon­ser­va­ti­ven Kon­tra­hen­ten. Er gehört zu den ersten deut­schen Histo­ri­kern in den 1970er Jah­ren, die eine Koope­ra­ti­on von Frie­dens­for­schung und Geschichts­wis­sen­schaft wis­sen­schafts­theo­re­tisch begrün­de­ten. Für die damals kaum eta­blier­te Histo­ri­sche Frie­dens­for­schung war es aus wis­sen­schaft­li­chen und orga­ni­sa­to­ri­schen Grün­den ein Segen, dass er zur Grup­pe um den Bre­mer Pazi­fis­mus­for­scher Karl Holl stieß, die sich damals haupt­säch­lich mit der Orga­ni­sa­ti­ons­ge­schich­te der histo­ri­schen Frie­dens­be­we­gung beschäf­tig­te. Durch ihn erhielt der Arbeits­kreis ein zusätz­li­ches Pro­fil. Ihm ist es maß­geb­lich zu ver­dan­ken, dass sich die Histo­ri­sche Frie­dens­for­schung als Teil­dis­zi­plin der Geschichts­wis­sen­schaft in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land eta­blie­ren konnte.

Sein erster Bei­trag im Rah­men die­ser Arbeits­grup­pe über »Kriegs­äch­tung und Kriegs­ver­herr­li­chung« deu­tet die unter­schied­li­chen Pole, die Spann­brei­te des­sen an, was Wolf­ram Wet­te wis­sen­schaft­lich aus­lo­te­te: Nicht nur die Geschich­te von Frie­dens­or­ga­ni­sa­tio­nen blieb sein For­schungs­feld und das des Arbeits­krei­ses, son­dern zugleich die histo­ri­sche Kriegs­ur­sa­chen- und Gewalt­for­schung, die Erfor­schung von inter­na­tio­na­len und sozia­len Kon­flik­ten, eben­so die Men­ta­li­täts­for­schung. Wolf­ram Wet­te wur­de zu einer unver­zicht­ba­ren Klam­mer zwi­schen Histo­ri­scher Frie­dens­for­schung und Kri­ti­scher Mili­ta­ris­mus-For­schung. In ihm fand der Arbeits­kreis ein mar­kan­tes Flagg­schiff, einen argu­men­ta­tiv über­zeu­gen­den Geist mit Inte­gra­ti­ons­kraft, der in wei­ten Tei­len der Öffent­lich­keit wahr­ge­nom­men wur­de, einen soli­da­ri­schen, ver­trau­ens­wür­di­gen Rat­ge­ber, einen ertrag­rei­chen Autor, einen Red­ner, der schlag­fer­tig, prä­zi­se, dabei sym­pa­thisch und ver­ständ­lich durch Wort und Schrift ein brei­tes Publi­kum erreicht.

Als ehe­ma­li­ger Zeit­sol­dat, zuletzt Haupt­mann der Reser­ve, als Histo­ri­ker am Mili­tär­ge­schicht­li­chen For­schungs­amt in Frei­burg (1971-1995), als Frie­dens- und Mili­ta­ris­mus­exper­te, als außer­or­dent­li­cher Pro­fes­sor in Frei­burg war sein wis­sen­schaft­li­ches Erkennt­nis­in­ter­es­se weitreichend:

  • die Erfor­schung des Ver­nich­tungs­krie­ges des NS-Regimes;
  • die Zer­stö­rung der Legen­de von der angeb­lich sau­be­ren Wehrmacht;
  • die Beschäf­ti­gung mit teil­wei­se sehr frag­wür­di­gen mili­tä­ri­schen Traditionen;
  • Erschei­nungs­wei­sen und Fol­gen des preu­ßi­schen Militarismus;
  • den Bei­trag der histo­ri­schen Frie­dens­for­schung für eine demo­kra­tisch gegrün­de­te Erinnerungspolitik;
  • die Unter­su­chung von Tätern, Mit­läu­fern und Opfern des Nationalsozialismus;
  • die Erfor­schung einer über­schau­ba­ren Grup­pe von zivil­cou­ra­gier­ten pazi­fi­sti­schen Offi­zie­ren, von Ret­tern ver­folg­ter Juden aus den Rei­hen der Wehr­macht, jener Orga­ni­sa­ti­on also, von der man am wenig­sten Wider­stre­ben gegen den Holo­caust erwar­ten konnte;
  • der Krieg des »klei­nen Man­nes«, des­sen Wider­stän­dig­keit im Ver­nich­tungs­krieg gegen die Sowjetunion;
  • die Reha­bi­li­tie­rung jener, die wegen sog. Kriegs­ver­rats, Wehr­kraft­zer­set­zung und Deser­ti­on hin­ge­rich­tet wurden;
  • Kriegs­ver­bre­chen im 20. Jahr­hun­dert überhaupt;
  • Bei­trä­ge zur all­ge­mei­nen deut­schen Geschich­te wie zur regio­nal­ge­schicht­li­chen Erfor­schung der NS-Zeit u. v. m.

Bei alle­dem nimmt Wolf­ram Wet­te den Frie­dens­auf­trag des Grund­ge­set­zes ernst, histo­risch wie poli­tisch gewalt­freie Frie­dens­ge­stal­tung und zivi­le Kon­flikt­be­ar­bei­tung zu begrün­den. Er gehört zu jenen, die die Renais­sance bel­li­zi­sti­scher Mei­nun­gen bekämp­fen, die sich scharf gegen wis­sen­schaft­lich mas­kier­te Kriegs­nost­al­gie weh­ren, die gegen Ver­ges­sen und Ver­drän­gen argu­men­tie­ren, auf die prin­zi­pi­el­le Fried­fer­tig­keit der deut­schen Zivil­ge­sell­schaft set­zen und gegen­über mili­tä­ri­scher Macht das erfor­der­li­che Miss­trau­en hegen.

Wolf­ram Wet­te ist als Wis­sen­schaft­ler ein beson­ne­ner und schlag­fer­tig argu­men­tie­ren­der Kämp­fer­typ, der sich in aktu­el­le Debat­ten ein­mischt und sich dabei nicht scheut, gegen vor­herr­schen­de Mei­nun­gen zu löcken. Der Behaup­tung, eine gestei­ger­te Auf­rü­stung sei in einer »Zei­ten­wen­de« zwin­gend gebo­ten, wider­spricht er sach­lich, argu­men­ta­tiv abge­si­chert. Den Ukrai­ne­krieg z. B. bet­tet er pro­fund histo­risch ein, belegt, wie Poli­ti­ker und Mili­tärs kei­nes­wegs schlaf­wand­le­risch, son­dern scharf kal­ku­lie­rend von einer Posi­ti­on der Stär­ke aus Mög­lich­kei­ten einer neu­en Sicher­heits­struk­tur von Washing­ton bis Mos­kau aus­schlu­gen. Die Völ­ker­rechts­wid­rig­keit des Über­falls Russ­lands auf die Ukrai­ne stellt er frei­lich nicht in Fra­ge, for­dert aber unab­läs­sig diplo­ma­ti­sche Initia­ti­ven zur Kon­flikt­be­rei­ni­gung ein.

Grund­le­gen­de Wer­ke zur deut­schen Wehr­macht, zu Sta­lin­grad, zur NS-Mili­tär­ju­stiz hat Wolf­ram Wet­te eben­so vor­ge­legt wie ein­dring­li­che, not­wen­di­ge, auf­rüt­teln­de Regio­nal­stu­di­en, z. B. über den »furcht­ba­ren Juri­sten« Hans Karl Fil­bin­ger und über den SS-Stan­dar­ten­füh­rer Karl Jäger, der für die Ermor­dung von 137.346 litaui­schen Juden ver­ant­wort­lich ist – Stu­di­en, die gera­de im regio­na­len Umfeld der Prot­ago­ni­sten erheb­li­che Kon­tro­ver­sen her­vor­rie­fen und zugleich zur Auf­klä­rung über natio­nal­so­zia­li­sti­sche Ver­bre­chen von Per­sön­lich­kei­ten aus der ver­meint­lich inte­gren bür­ger­li­chen Mit­te beitrugen.

Uner­schrocken bis in die­se Tage schreibt Wolf­ram Wet­te gegen den »Schwert­glau­ben« an. Am 11. Novem­ber fei­ert er sei­nen 85. Geburts­tag. Vie­le sei­ner selbst­stän­di­gen Ver­öf­fent­li­chun­gen, sei­ner von ihm her­aus­ge­ge­be­nen Bücher, sei­ner mehr als 50 Bän­de umfas­sen­den Schrif­ten­rei­he »Geschich­te und Frie­den«, sei­ner wis­sen­schaft­li­chen wie publi­zi­sti­schen Arbei­ten, sei­ner regio­nal­ge­schicht­li­chen Stu­di­en ste­hen im Buch­han­del oder in Biblio­the­ken zur Verfügung.