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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Friedensmacht Europa?

Wel­chem Maß­stab müss­te eine »Euro­päi­sche Ver­tei­di­gungs­uni­on« genü­gen und nach wel­chen Kri­te­ri­en wäre sie zu kon­stru­ie­ren? Der kon­zep­tio­nel­le Schlüs­sel­be­griff dies­be­züg­lich muss lau­ten: Begren­zung – und zwar in mehr­fa­cher Hin­sicht: Wie Egon Bahr postu­lier­te, stellt, erstens, die Con­di­tio sine qua non frag­los die strik­te Bin­dung an das Völ­ker­recht dar – und zwar des in der Char­ta der Ver­ein­ten Natio­nen defi­nier­ten, nicht des von juri­sti­schen Zuhäl­tern nach der jewei­li­gen Inter­es­sen­la­ge des US-Hege­mo­nen zurecht­ge­bo­ge­nen. Im Klar­text: Im Rah­men einer zukünf­ti­gen »Euro­päi­schen Ver­tei­di­gungs­uni­on« dürf­te mili­tä­ri­sche Gewalt­an­wen­dung aus­schließ­lich ent­we­der auf der Grund­la­ge eines ein­deu­tig erteil­ten Man­da­tes des UN-Sicher­heits­ra­tes respek­ti­ve alter­na­tiv der OSZE als regio­na­ler Abma­chung der Ver­ein­ten Natio­nen erfol­gen oder aber im Rah­men indi­vi­du­el­ler bzw. kol­lek­ti­ver Selbst­ver­tei­di­gung gemäß Art. 51 der Sat­zung der Ver­ein­ten Natio­nen (SVN). Unzwei­fel­haft aus­ge­schlos­sen blei­ben müss­te jeg­li­che Form der Selbst­er­mäch­ti­gung, wie sie in der Ver­gan­gen­heit bereits mehr­fach durch die US-domi­nier­te Nato prak­ti­ziert wur­de. Letz­te­res wie­der­um erfor­dert, zwei­tens, zwin­gend, dass in jedem Fall des Ein­sat­zes bewaff­ne­ter Streit­kräf­te der Euro­päi­schen Uni­on zuvor sei­tens des Euro­päi­schen Par­la­men­tes die kon­sti­tu­ti­ve Zustim­mung erteilt wur­de, ganz so wie das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt in Karls­ru­he dies in der Ver­gan­gen­heit für ent­spre­chen­de Bun­des­wehr­ein­sät­ze nor­miert hat.

Dar­über hin­aus böte, drit­tens, die Ent­na­tio­na­li­sie­rung der Streit­kräf­te einer Euro­päi­schen Ver­tei­di­gungs­uni­on, deren Ein­satz jeweils einen Kon­sens inner­halb der Euro­päi­schen Kom­mis­si­on und damit indi­rekt zugleich der 27 Mit­glieds­staa­ten der Euro­päi­schen Uni­on vor­aus­setz­te, einen sehr wirk­sa­men Schutz­me­cha­nis­mus vor ent­hemm­ten Mili­tär­in­ter­ven­tio­nen glo­ba­len Ausmaßes.

Des Wei­te­ren wären die Mit­glied­staa­ten der Euro­päi­schen Uni­on gefor­dert, ihre gemein­sa­men außen- und sicher­heits­po­li­ti­schen Inter­es­sen, also Gegen­stand und Gel­tungs­be­reich einer zukünf­ti­gen Euro­päi­schen Ver­tei­di­gungs­uni­on, zu defi­nie­ren. Das bedeu­tet zum einen, dass, vier­tens, der mili­tä­ri­sche Inter­es­sen­ho­ri­zont der Euro­päi­schen Uni­on kei­nes­falls glo­ba­le Dimen­si­on besitzt, son­dern regio­nal begrenzt bleibt. Die Sicher­heit der Euro­päi­schen Uni­on wird eben gera­de nicht durch sicher­heits­po­li­ti­sche Ersatz­hand­lun­gen »am Hin­du­kusch« ver­tei­digt, wie ein bun­des­deut­scher Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster der­einst weis­zu­ma­chen ver­such­te. Die für Euro­pa sicher­heits­po­li­tisch rele­van­ten Pro­blem­la­gen exi­stie­ren an sei­ner Peri­phe­rie, das heißt im Osten und im Mit­tel­meer­raum, dem euro­päi­schen »Mare Nostrum«.

Wie nicht zuletzt die Krie­ge in Syri­en und der Ukrai­ne bele­gen, ent­zie­hen sich all die poli­ti­schen, öko­no­mi­schen, demo­gra­phi­schen und öko­lo­gi­schen Pro­ble­me und Kon­flik­te a prio­ri einer Lösung mit mili­tä­ri­schen Mit­teln. Des­halb gilt es beson­de­res Augen­merk auf die tra­di­tio­nel­len Stär­ken der Euro­päi­schen Uni­on zu rich­ten, näm­lich gedul­di­ge Diplo­ma­tie, mul­ti­la­te­ra­le Kon­flikt­lö­sung, Stär­kung der Ver­ein­ten Natio­nen, kurz­um: müh­sa­me Frie­dens­ar­beit. Unab­ding­bar hier­für ist die schnellst­mög­li­che Rück­kehr zu den »Prin­zi­pi­en« der Ent­span­nungs­po­li­tik. Die Ver­hält­nis­se heu­te sind anders als in den 1970er-Jah­ren, aber an den Prin­zi­pi­en hat sich nichts ver­än­dert. Prin­zi­pi­en bedeu­ten, dass man immer auch die Inter­es­sen der ande­ren Sei­te sehen muss. Man muss sich bemü­hen, her­aus­zu­fin­den, ob es gemein­sa­me Inter­es­sen gibt, und wenn es die­se gibt, nach ihnen han­deln. Es gilt, Fel­der der Koope­ra­ti­on zu ent­wickeln, auf denen man zusam­men­ar­bei­ten kann. Die Vor­aus­set­zung dafür ist ein Min­dest­maß an gegen­sei­ti­gem Ver­trau­en. Die unab­ding­ba­re mate­ri­el­le Unter­füt­te­rung der­ar­ti­ger Frie­dens­po­li­tik ver­mag das erheb­li­che öko­no­mi­sche Poten­ti­al zu lei­sten, das die Euro­päi­sche Uni­on hier­zu in die Waag­scha­le wer­fen kann und das den Ver­gleich mit dem­je­ni­gen der USA mit­nich­ten zu scheu­en braucht. Nicht die »Ent­ta­bui­sie­rung des Mili­tä­ri­schen« ist in die­sem Kon­text dem­nach gefragt, son­dern die Rück­be­sin­nung auf eine der Ver­nunft und der Huma­ni­tät ver­pflich­te­te »Kul­tur der Zurückhaltung«.

Den­noch kann es Situa­tio­nen geben, in denen der Rück­griff auf das mili­tä­ri­sche Poten­ti­al einer zukünf­ti­gen Euro­päi­schen Ver­tei­di­gungs­uni­on die letz­te Opti­on dar­stellt, um einen Kon­flikt, der bereits eska­liert ist oder unmit­tel­bar zu eska­lie­ren droht, soweit zu sedie­ren, dass Diplo­ma­tie über­haupt wie­der eine Chan­ce hat – die 2003 unter der Ägi­de der Euro­päi­schen Uni­on in Maze­do­ni­en statt­ge­fun­de­ne »Mis­si­on Con­cor­dia« oder auch die erfolg­reich abge­schlos­se­ne Mis­si­on zur Absi­che­rung der demo­kra­ti­schen Wah­len im Kon­go im sel­ben Jahr mögen einen Ein­druck hier­von vermitteln.

Es gilt also, fünf­tens, dass mili­tä­ri­sches Domi­nanz­stre­ben oder gar mili­ta­ri­sti­scher Grö­ßen­wahn à la USA der Rai­son d’être einer zukünf­ti­gen Euro­päi­schen Ver­tei­di­gungs­uni­on völ­lig zuwi­der­lau­fen wür­de. Mitt­ler­wei­le offen­bart sich doch immer deut­li­cher, dass die Absur­di­tät einer der­ar­ti­gen Poli­tik aller­erst die­je­ni­gen Pro­ble­me gene­riert, die zu bewäl­ti­gen sie vor­gibt. Das kolo­nia­le Aben­teu­er der USA und ihrer Vasal­len im Irak illu­striert bis auf den heu­ti­gen Tag ein­drück­lich, wo die Gefah­ren lie­gen. Und auch in Afgha­ni­stan sind die Hilfs­trup­pen der Nato gemein­sam mit ihrer Füh­rungs­macht mit Voll­dampf in eine ver­hee­ren­de Nie­der­la­ge gerauscht.

Dies wie­der­um bedeu­tet, kei­nes­falls einer ver­eng­ten mili­tä­ri­schen Sicht­wei­se anheim­zu­fal­len und in der Fol­ge dann nach dem Muster USA jedes poli­ti­sche Pro­blem als Nagel zu defi­nie­ren, bloß weil man über einen schlag­kräf­ti­gen mili­tä­ri­schen Ham­mer ver­fügt. Es kann gera­de nicht um Hege­mo­nie oder gar Impe­ria­lis­mus qua mili­tä­ri­scher Macht­ent­fal­tung gehen, son­dern, im Gegen­teil, um die frie­dens­si­chern­de und frie­dens­ver­träg­li­che Beschrän­kung der mili­tär­stra­te­gi­schen Ambi­tio­nen der Euro­päi­schen Uni­on. Für die Euro­päi­sche Uni­on ergibt sich dar­aus die Kon­se­quenz, Abstand zu den USA zu hal­ten, sich gegen­über der übri­gen Welt als eigen­stän­di­ger Akteur zu prä­sen­tie­ren sowie glaub­wür­di­ge poli­ti­sche und öko­no­mi­sche Alter­na­ti­ven anzu­bie­ten. Für eine sol­cher­ma­ßen aus­ge­rich­te­te Poli­tik im inter­na­tio­na­len System gel­ten fol­gen­de vier Prin­zi­pi­en: Frie­den durch kol­lek­ti­ve und gemein­sa­me Sicher­heit, Abrü­stung und struk­tu­rel­le Nicht­an­griffs­fä­hig­keit. »Struk­tu­rel­le Nicht­an­griffs­fä­hig­keit« auf EU-Ebe­ne hie­ße: Aus­tritt der ein­zel­nen Mit­glied­staa­ten aus den mili­tä­ri­schen Struk­tu­ren der Nato, strik­te Ver­tei­di­gungs­dok­trin, abso­lu­te Bin­dung an das Völ­ker­recht, Abrü­stungs­in­itia­ti­ven und die Auf­ga­be von Atomwaffen.

Nicht »Frie­den schaf­fen mit aller Gewalt«, son­dern: »Der Frie­de ist der Ernst­fall« (Gustav Hei­ne­mann), muss also, sech­stens, die Devi­se lau­ten. Jedes alter­na­ti­ve Sicher­heits­kon­zept hat die Kriegs­un­taug­lich­keit der euro­päi­schen Indu­strie­ge­sell­schaf­ten in den Mit­tel­punkt zu stel­len, denn im Fal­le eines gro­ßen kon­ven­tio­nell oder ato­mar geführ­ten Krie­ges wer­den Indu­strie und über­le­bens­not­wen­di­ge Infra­struk­tu­ren größ­ten­teils ver­nich­tet und die Umwelt groß­flä­chig ver­gif­tet, zer­stört und unbewohnbar.

Frie­de als Ernst­fall wie­der­um bedingt, sieb­tens, dass die Euro­päi­sche Uni­on als Völ­ker­rechts­sub­jekt den völ­ker­recht­li­chen Sta­tus der Neu­tra­li­tät erklärt und ein­nimmt. Zugleich impli­ziert dies, dass eine zukünf­ti­ge Euro­päi­sche Ver­tei­di­gungs­uni­on den Sta­tus bewaff­ne­ter Neu­tra­li­tät wahrt. Im völ­ker­recht­li­chen Sin­ne wird Neu­tra­li­tät heu­te vor allem mili­tä­risch defi­niert: Neu­tral ist, wer kei­ner offen­siv krieg­füh­ren­den Kriegs­par­tei oder kei­nem mili­tä­ri­schen Bünd­nis ange­hört. Mili­tä­ri­sche Ver­tei­di­gung ist einem Neu­tra­len aber erlaubt, in gewis­sen Fäl­len ist er sogar dazu ver­pflich­tet. Des­glei­chen schließt Neu­tra­li­tät kei­nes­wegs die akti­ve Mit­wir­kung an Maß­nah­men im Rah­men und strikt nach den Regeln der Char­ta der Ver­ein­ten Natio­nen aus. Frei­lich müss­te die Euro­päi­sche Uni­on ent­spre­chend den in den Haa­ger Frie­dens­kon­fe­ren­zen von 1899 und 1907 fest­ge­leg­ten Prin­zi­pen bereits in Frie­dens­zei­ten ihre gemein­sa­me Außen- und Sicher­heits­po­li­tik so betrei­ben, dass sie im Fal­le eines bewaff­ne­ten Kon­flik­tes glaub­haft dar­le­gen kann, kei­ne der Kon­flikt­par­tei­en zu bevor­zu­gen oder zu benach­tei­li­gen sowie an kei­nen Kampf­hand­lun­gen teil­zu­neh­men oder gar sie zu för­dern. Aus dem Prin­zip der Bünd­nis­frei­heit folgt selbst­re­dend zwin­gend der Aus­tritt der Euro­päi­schen Uni­on und ihrer Mit­glied­staa­ten aus dem klas­si­schen Mili­tär­bünd­nis der Nato.

Davon abge­se­hen betrifft ein völ­ker­recht­li­cher Neu­tra­li­täts­sta­tus nicht allein mili­tä­ri­sche Ange­le­gen­hei­ten, son­dern eben­so wirt­schaft­li­che Bezie­hun­gen, die neu­tral zu gestal­ten sind. Die Poli­tik eines Neu­tra­len umfasst somit nicht nur die for­ma­le Bünd­nis­frei­heit, son­dern auch das Glaub­haft­ma­chen der neu­tra­len Hal­tung. Die Vor­tei­le einer der­ar­ti­gen Neu­tra­li­täts­po­li­tik lie­gen auf der Hand: Erstens wer­den Neu­tra­le, da sie sich nicht an Mili­tär­bünd­nis­sen betei­li­gen, von Geg­nern die­ser Bünd­nis­se in der Regel nicht als Bedro­hung wahr­ge­nom­men und daher nicht ange­grif­fen. Und zwei­tens kön­nen Neu­tra­le durch akti­ve Neu­tra­li­täts­po­li­tik zur Sta­bi­li­sie­rung von inter­na­tio­na­len Kri­sen bei­tra­gen und bie­ten sich als Aus­tra­gungs­or­te für Ver­hand­lun­gen zwi­schen ver­fein­de­ten Bünd­nis­sen an.

Für eine auf den Sta­tus »immer­wäh­ren­der Neu­tra­li­tät« ver­pflich­te­te Euro­päi­sche Ver­tei­di­gungs­uni­on kann somit ledig­lich ein mili­tä­ri­sches Resi­du­al­po­ten­ti­al als legi­tim erschei­nen, das gleich­wohl einer stra­te­gisch begrenz­ten Ziel­set­zung ope­ra­tiv genü­gen muss. Aus bit­te­rer histo­ri­scher Erfah­rung her­aus hat das alte Euro­pa vor allem der Maxi­me zu fol­gen: »Frie­den schaf­fen mit mög­lichst weni­gen Waf­fen«, auch wenn ange­sichts des nun­mehr schon Jah­re dau­ern­den Mor­dens auf den Schlacht­fel­dern im Osten gegen­wär­tig Mili­ta­ris­mus, Waf­fen­wahn, Schwert­glau­ben und Sie­ges­il­lu­sio­nen fröh­li­che Urständ fei­ern. Wenn der deut­schen und der euro­päi­schen Öffent­lich­keit am Pro­jekt einer neu­tra­len und unpar­tei­ischen Frie­dens­macht Euro­pa gele­gen ist, die sich auf den lan­gen Marsch zu einem demo­kra­ti­schen, sozia­len und öko­lo­gi­schen Uni­ver­sa­lis­mus begibt, so ist sie zwei­fels­oh­ne gut bera­ten, die Visi­on einer »Euro­päi­schen Sicher­heits- und Ver­tei­di­gungs­uni­on« stän­dig kri­tisch, fast möch­te man sagen: miss­trau­isch zu begleiten.