Welchem Maßstab müsste eine »Europäische Verteidigungsunion« genügen und nach welchen Kriterien wäre sie zu konstruieren? Der konzeptionelle Schlüsselbegriff diesbezüglich muss lauten: Begrenzung – und zwar in mehrfacher Hinsicht: Wie Egon Bahr postulierte, stellt, erstens, die Conditio sine qua non fraglos die strikte Bindung an das Völkerrecht dar – und zwar des in der Charta der Vereinten Nationen definierten, nicht des von juristischen Zuhältern nach der jeweiligen Interessenlage des US-Hegemonen zurechtgebogenen. Im Klartext: Im Rahmen einer zukünftigen »Europäischen Verteidigungsunion« dürfte militärische Gewaltanwendung ausschließlich entweder auf der Grundlage eines eindeutig erteilten Mandates des UN-Sicherheitsrates respektive alternativ der OSZE als regionaler Abmachung der Vereinten Nationen erfolgen oder aber im Rahmen individueller bzw. kollektiver Selbstverteidigung gemäß Art. 51 der Satzung der Vereinten Nationen (SVN). Unzweifelhaft ausgeschlossen bleiben müsste jegliche Form der Selbstermächtigung, wie sie in der Vergangenheit bereits mehrfach durch die US-dominierte Nato praktiziert wurde. Letzteres wiederum erfordert, zweitens, zwingend, dass in jedem Fall des Einsatzes bewaffneter Streitkräfte der Europäischen Union zuvor seitens des Europäischen Parlamentes die konstitutive Zustimmung erteilt wurde, ganz so wie das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe dies in der Vergangenheit für entsprechende Bundeswehreinsätze normiert hat.
Darüber hinaus böte, drittens, die Entnationalisierung der Streitkräfte einer Europäischen Verteidigungsunion, deren Einsatz jeweils einen Konsens innerhalb der Europäischen Kommission und damit indirekt zugleich der 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union voraussetzte, einen sehr wirksamen Schutzmechanismus vor enthemmten Militärinterventionen globalen Ausmaßes.
Des Weiteren wären die Mitgliedstaaten der Europäischen Union gefordert, ihre gemeinsamen außen- und sicherheitspolitischen Interessen, also Gegenstand und Geltungsbereich einer zukünftigen Europäischen Verteidigungsunion, zu definieren. Das bedeutet zum einen, dass, viertens, der militärische Interessenhorizont der Europäischen Union keinesfalls globale Dimension besitzt, sondern regional begrenzt bleibt. Die Sicherheit der Europäischen Union wird eben gerade nicht durch sicherheitspolitische Ersatzhandlungen »am Hindukusch« verteidigt, wie ein bundesdeutscher Verteidigungsminister dereinst weiszumachen versuchte. Die für Europa sicherheitspolitisch relevanten Problemlagen existieren an seiner Peripherie, das heißt im Osten und im Mittelmeerraum, dem europäischen »Mare Nostrum«.
Wie nicht zuletzt die Kriege in Syrien und der Ukraine belegen, entziehen sich all die politischen, ökonomischen, demographischen und ökologischen Probleme und Konflikte a priori einer Lösung mit militärischen Mitteln. Deshalb gilt es besonderes Augenmerk auf die traditionellen Stärken der Europäischen Union zu richten, nämlich geduldige Diplomatie, multilaterale Konfliktlösung, Stärkung der Vereinten Nationen, kurzum: mühsame Friedensarbeit. Unabdingbar hierfür ist die schnellstmögliche Rückkehr zu den »Prinzipien« der Entspannungspolitik. Die Verhältnisse heute sind anders als in den 1970er-Jahren, aber an den Prinzipien hat sich nichts verändert. Prinzipien bedeuten, dass man immer auch die Interessen der anderen Seite sehen muss. Man muss sich bemühen, herauszufinden, ob es gemeinsame Interessen gibt, und wenn es diese gibt, nach ihnen handeln. Es gilt, Felder der Kooperation zu entwickeln, auf denen man zusammenarbeiten kann. Die Voraussetzung dafür ist ein Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen. Die unabdingbare materielle Unterfütterung derartiger Friedenspolitik vermag das erhebliche ökonomische Potential zu leisten, das die Europäische Union hierzu in die Waagschale werfen kann und das den Vergleich mit demjenigen der USA mitnichten zu scheuen braucht. Nicht die »Enttabuisierung des Militärischen« ist in diesem Kontext demnach gefragt, sondern die Rückbesinnung auf eine der Vernunft und der Humanität verpflichtete »Kultur der Zurückhaltung«.
Dennoch kann es Situationen geben, in denen der Rückgriff auf das militärische Potential einer zukünftigen Europäischen Verteidigungsunion die letzte Option darstellt, um einen Konflikt, der bereits eskaliert ist oder unmittelbar zu eskalieren droht, soweit zu sedieren, dass Diplomatie überhaupt wieder eine Chance hat – die 2003 unter der Ägide der Europäischen Union in Mazedonien stattgefundene »Mission Concordia« oder auch die erfolgreich abgeschlossene Mission zur Absicherung der demokratischen Wahlen im Kongo im selben Jahr mögen einen Eindruck hiervon vermitteln.
Es gilt also, fünftens, dass militärisches Dominanzstreben oder gar militaristischer Größenwahn à la USA der Raison d’être einer zukünftigen Europäischen Verteidigungsunion völlig zuwiderlaufen würde. Mittlerweile offenbart sich doch immer deutlicher, dass die Absurdität einer derartigen Politik allererst diejenigen Probleme generiert, die zu bewältigen sie vorgibt. Das koloniale Abenteuer der USA und ihrer Vasallen im Irak illustriert bis auf den heutigen Tag eindrücklich, wo die Gefahren liegen. Und auch in Afghanistan sind die Hilfstruppen der Nato gemeinsam mit ihrer Führungsmacht mit Volldampf in eine verheerende Niederlage gerauscht.
Dies wiederum bedeutet, keinesfalls einer verengten militärischen Sichtweise anheimzufallen und in der Folge dann nach dem Muster USA jedes politische Problem als Nagel zu definieren, bloß weil man über einen schlagkräftigen militärischen Hammer verfügt. Es kann gerade nicht um Hegemonie oder gar Imperialismus qua militärischer Machtentfaltung gehen, sondern, im Gegenteil, um die friedenssichernde und friedensverträgliche Beschränkung der militärstrategischen Ambitionen der Europäischen Union. Für die Europäische Union ergibt sich daraus die Konsequenz, Abstand zu den USA zu halten, sich gegenüber der übrigen Welt als eigenständiger Akteur zu präsentieren sowie glaubwürdige politische und ökonomische Alternativen anzubieten. Für eine solchermaßen ausgerichtete Politik im internationalen System gelten folgende vier Prinzipien: Frieden durch kollektive und gemeinsame Sicherheit, Abrüstung und strukturelle Nichtangriffsfähigkeit. »Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit« auf EU-Ebene hieße: Austritt der einzelnen Mitgliedstaaten aus den militärischen Strukturen der Nato, strikte Verteidigungsdoktrin, absolute Bindung an das Völkerrecht, Abrüstungsinitiativen und die Aufgabe von Atomwaffen.
Nicht »Frieden schaffen mit aller Gewalt«, sondern: »Der Friede ist der Ernstfall« (Gustav Heinemann), muss also, sechstens, die Devise lauten. Jedes alternative Sicherheitskonzept hat die Kriegsuntauglichkeit der europäischen Industriegesellschaften in den Mittelpunkt zu stellen, denn im Falle eines großen konventionell oder atomar geführten Krieges werden Industrie und überlebensnotwendige Infrastrukturen größtenteils vernichtet und die Umwelt großflächig vergiftet, zerstört und unbewohnbar.
Friede als Ernstfall wiederum bedingt, siebtens, dass die Europäische Union als Völkerrechtssubjekt den völkerrechtlichen Status der Neutralität erklärt und einnimmt. Zugleich impliziert dies, dass eine zukünftige Europäische Verteidigungsunion den Status bewaffneter Neutralität wahrt. Im völkerrechtlichen Sinne wird Neutralität heute vor allem militärisch definiert: Neutral ist, wer keiner offensiv kriegführenden Kriegspartei oder keinem militärischen Bündnis angehört. Militärische Verteidigung ist einem Neutralen aber erlaubt, in gewissen Fällen ist er sogar dazu verpflichtet. Desgleichen schließt Neutralität keineswegs die aktive Mitwirkung an Maßnahmen im Rahmen und strikt nach den Regeln der Charta der Vereinten Nationen aus. Freilich müsste die Europäische Union entsprechend den in den Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 festgelegten Prinzipen bereits in Friedenszeiten ihre gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik so betreiben, dass sie im Falle eines bewaffneten Konfliktes glaubhaft darlegen kann, keine der Konfliktparteien zu bevorzugen oder zu benachteiligen sowie an keinen Kampfhandlungen teilzunehmen oder gar sie zu fördern. Aus dem Prinzip der Bündnisfreiheit folgt selbstredend zwingend der Austritt der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten aus dem klassischen Militärbündnis der Nato.
Davon abgesehen betrifft ein völkerrechtlicher Neutralitätsstatus nicht allein militärische Angelegenheiten, sondern ebenso wirtschaftliche Beziehungen, die neutral zu gestalten sind. Die Politik eines Neutralen umfasst somit nicht nur die formale Bündnisfreiheit, sondern auch das Glaubhaftmachen der neutralen Haltung. Die Vorteile einer derartigen Neutralitätspolitik liegen auf der Hand: Erstens werden Neutrale, da sie sich nicht an Militärbündnissen beteiligen, von Gegnern dieser Bündnisse in der Regel nicht als Bedrohung wahrgenommen und daher nicht angegriffen. Und zweitens können Neutrale durch aktive Neutralitätspolitik zur Stabilisierung von internationalen Krisen beitragen und bieten sich als Austragungsorte für Verhandlungen zwischen verfeindeten Bündnissen an.
Für eine auf den Status »immerwährender Neutralität« verpflichtete Europäische Verteidigungsunion kann somit lediglich ein militärisches Residualpotential als legitim erscheinen, das gleichwohl einer strategisch begrenzten Zielsetzung operativ genügen muss. Aus bitterer historischer Erfahrung heraus hat das alte Europa vor allem der Maxime zu folgen: »Frieden schaffen mit möglichst wenigen Waffen«, auch wenn angesichts des nunmehr schon Jahre dauernden Mordens auf den Schlachtfeldern im Osten gegenwärtig Militarismus, Waffenwahn, Schwertglauben und Siegesillusionen fröhliche Urständ feiern. Wenn der deutschen und der europäischen Öffentlichkeit am Projekt einer neutralen und unparteiischen Friedensmacht Europa gelegen ist, die sich auf den langen Marsch zu einem demokratischen, sozialen und ökologischen Universalismus begibt, so ist sie zweifelsohne gut beraten, die Vision einer »Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion« ständig kritisch, fast möchte man sagen: misstrauisch zu begleiten.