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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Friedrich Merz und die Seilbahn des Grauen

Mal wie­der in Ber­lin. An einem son­ni­gen Tag Ende Sep­tem­ber fah­re ich mit einem Beglei­ter nach Mar­zahn, um die Gär­ten der Welt zu besu­chen und auch mit der Seil­bahn zu fah­ren. Kaum haben wir die Kas­se pas­siert, gera­ten wir schon auf dem Weg zur Gon­del­sta­ti­on ins Stau­nen. Die von diver­sen Künst­lern kon­zi­pier­ten Gar­ten­ka­bi­net­te sind eine Wucht. Ganz Beson­ders das Was­ser-lasti­ge Thai­län­di­sche Kabi­nett besticht durch sei­ne stark medi­ta­ti­ve Wir­kung. Raf­fi­niert ver­än­dern Spie­gel in Kom­bi­na­ti­on mit dem blau­en Nass gewohn­te Sicht­wei­sen. Geheim­nis­voll in der Son­ne glit­zern­de ter­ras­sen­för­mig ange­leg­te Türm­chen spie­len mit der Wahr­neh­mung. Aber auch die ande­ren Län­der – von Austra­li­en über Deutsch­land bis Süd­afri­ka – über­ra­schen mit außer­ge­wöhn­lich kon­zi­pier­ter Gar­ten­kunst, wobei das gan­ze Spek­trum zwi­schen Tra­di­ti­on und Moder­ne abge­deckt wird.

Die Gon­del­sta­ti­on naht und wir stei­gen ein. Mir ist das Gan­ze, trotz aller bis­he­ri­gen Har­mo­nie, doch etwas suspekt. Ich bin nicht ganz schwin­del­frei, vor Höhen habe ich Respekt und des­halb seit über 20 Jah­ren auch kein Flug­zeug mehr betre­ten. Dann bewegt sich die Gon­del lang­sam auf­wärts und beim Blick zurück kann man schon bald den Ber­li­ner Fern­seh­turm sehen, der zunächst von den Mar­zah­n­er Hoch­häu­sern ver­deckt war. Die Son­ne lässt ihn fast über­ir­disch erstrah­len, der Him­mel blaut der­weil vor sich hin. So lang­sam wäh­ne ich mich in Sicher­heit. Doch die ist trügerisch.

Dann ruckelt es kurz. Die Gon­del bleibt ste­hen und rührt sich nicht mehr. Stil­le. Eine weib­li­che Stim­me ertönt: »Tech­ni­sche Stö­rung«. Ver­wir­rung, aber noch kei­ne Panik, bestimmt geht es gleich wei­ter. Erneut sagt die emo­ti­ons­lo­se Stim­me »Tech­ni­sche Stö­rung«, und kurz dar­auf noch ein­mal. Ich rut­sche immer tie­fer in den Sitz, ver­su­che, die auf­kom­men­de Unru­he zu unter­drücken, aber auch, mich mög­lichst wenig zu bewe­gen, damit die Gon­del nicht auch noch unnö­tig schwankt. Dann herr­sche ich die Stim­me unsin­ni­ger­wei­se mit einem unflä­ti­gen Schimpf­wort, das hier nichts zur Sache tut, an, und set­ze noch »Ich will hier raus!« hin­ter­her. Stil­le. Still­stand. Ein stump­fer Alb­traum wird wahr. Den­noch sehe ich ein, dass das alles kei­nen Sinn macht. Angst kom­bi­niert mit Wut ist zweck­los. Drau­ßen ist es trotz Son­nen­schein immer win­di­ger gewor­den, sodass die Gon­del tat­säch­lich zuneh­mend schwankt. Unter mir, ich kämp­fe mitt­ler­wei­le mit einem leich­ten Brech­reiz, und mei­nem – bis jetzt – uner­schüt­ter­li­chen Beglei­ter lodert der uner­bitt­li­che Abgrund. Ich bereue in die­sem Moment, noch kein Testa­ment gemacht zu haben. Und: vor­her nicht zur Toi­let­te gegan­gen zu sein. Auch mein Beglei­ter kämpft mitt­ler­wei­le mit sei­ner schwa­chen Blase.

Dann pas­siert etwas ganz Merk­wür­di­ges, das ich mir bis heu­te nicht erklä­ren kann. War das Bier am Vor­abend schlecht? Hat mir jemand bewusst­seins­er­wei­tern­de Dro­gen ins Früh­stück gemischt? Was und wer auch immer es war, wie von Zau­ber­hand habe ich auf ein­mal eine Visi­on. Für einen kur­zen Moment sehe ich den deut­schen Bun­des­kanz­ler vor mir, wie der an sei­nem Red­ner­pult hin und her ham­pelt, wie es so sei­ne Art ist. Dann ruft er sei­nem Gegen­über (mir) auch noch barsch zu: »Hör doch mal auf, so weh­lei­dig zu sein!« Wie­so duzt der mich?, den­ke ich ver­wun­dert und will zu einer pat­zi­gen Ant­wort anset­zen, da ist die hage­re Visi­on auch schon ver­schwun­den. Sehr selt­sam, aber irgend­wie hat der Mann ja schon ein wenig recht, auch wenn er das in einem ganz ande­ren Zusam­men­hang gesagt hat, wor­auf­hin ein veri­ta­bler Shits­torm über ihn hin­weg­ge­fegt ist. Aber: Alles Jam­mern hilft in man­chen Momen­ten tat­säch­lich über­haupt nichts, so auch nicht in die­ser ver­ma­le­dei­ten Gon­del. Hilf­reich wäre es, wenn die tech­ni­sche Stö­rung in weni­gen Minu­ten beho­ben wer­den könn­te oder die öster­rei­chi­sche Berg­ret­tung erschie­ne, samt Heli­ko­pter und Kletterseil.

Mein Beglei­ter ahnt nichts von mei­ner selt­sa­men Merz-Visi­on. Er hat wohl ein­fach nur Hun­ger. Der­weil hat mich eine völ­lig uner­war­te­te Gelas­sen­heit ereilt, die die Angst tat­säch­lich zuneh­mend in den Hin­ter­grund drängt. Ich den­ke an den medi­ta­ti­ven Gar­ten, den ich kurz zuvor sehr genos­sen habe. An Bud­dha und Kon­sor­ten. Und über­haupt: Die Situa­ti­on samt Merz­scher Visi­on hat ja auch eine gewis­se Sym­bol­kraft. Die Gon­del in Rich­tung auf­wärts, dann der Still­stand, das Bild trifft ja auch auf vie­les in die­sem Land zu. Aber: Knei­fen macht kei­nen Sinn, es muss ja immer wei­ter gehen, sonst kann man den Laden gleich dicht­ma­chen. So gilt es hier wie aller­orts, die Ner­ven zu bewah­ren und nach vor­ne zu schau­en, was immer da auch kom­men mag. Jam­mern ist tat­säch­lich kon­tra­pro­duk­tiv, ein­sei­ti­ge Schuld­zu­wei­sun­gen auch, was zum Bei­spiel das Geschäfts­mo­dell einer gewis­sen Par­tei ist, die zumeist völ­lig blau ist. Mir drängt sich immer stär­ker die Meta­pher Gondel/​Deutschland auf, die den eige­nen Zustand in den Hin­ter­grund schiebt. Und bevor das schwe­ben­de Gefährt doch noch zum sin­ken­den Schiff wird oder gar abstürzt, rufe ich: Nein! Die Gon­del muss weiterfahren!

Und tat­säch­lich: Nach unge­fähr einer drei­vier­tel Stun­de ruckelt es erneut und die Gon­del bewegt sich wie­der. Das Schiff ist nicht gesun­ken, die Mann­schaft ist zwar leicht ange­schla­gen, aber sie lebt. Und ich weiß nun, dass man vie­les bewäl­ti­gen kann, wenn man nur die inne­ren Kräf­te mobi­li­siert. Nicht zuletzt auch, um genau die men­ta­le Stär­ke auf­zu­brin­gen, die man in die­sen Zei­ten – nicht nur in der Gon­del – schon mal ver­lie­ren kann. Wenn die Pres­se sich mit Hiobs­bot­schaf­ten über­schlägt, Par­tei­en sich bekrie­gen und ihre Kämp­fe in sinn­lo­sen Talk­shows aus­tra­gen. Wenn ein ech­ter Krieg immer näher rückt, man unbe­dingt »kriegs­tüch­tig« wer­den muss und man das Gefühl hat, dass man­che den Ernst­fall kaum erwar­ten kön­nen. Schließ­lich erreicht die Gon­del ihr Ziel und ich fal­le dem Mit­ar­bei­ter, der die Türen öff­net, halb in die Arme. »Mir ist schlecht«, mur­me­le ich, und der Mann ent­schul­digt sich klein­laut mit »Tut mir leid«, anstatt sofort ein alko­ho­li­sches Getränk zu rei­chen. End­lich Boden unter den Füßen! Jetzt heißt es tat­säch­lich, nach vor­ne zu schau­en und die­se Gon­del­fahrt zu ver­dau­en. Das Wet­ter ist traum­haft, die Son­ne wärmt, und so lang­sam hebt sich die Stim­mung wie­der, ist die Gon­del des Grau­ens schon bald ver­ges­sen, der farb­lo­se Fried­rich Merz sowie­so. Unweit des chi­ne­si­schen Gar­tens mit sei­nem asia­ti­schen Pavil­lon im See wird sich am Imbiss mit gebra­te­nen Nudeln gelabt, dann geht es wei­ter in die­sem außer­ge­wöhn­li­chen Ber­li­ner Gar­ten­reich, in dem man locker den gan­zen Tag ver­brin­gen kann. Ein Dah­li­en­meer erstrahlt in den schön­sten Far­ben, die Rosen des Eng­li­schen Gar­tens duf­ten herr­lich, sogar ein Ori­gi­nal-Cot­ta­ge hat man dort errich­tet, in dem man gepflegt Kaf­fee trin­ken kann. Und: Es ist ein Ort, an dem Juden­tum und Islam ein­träch­tig neben­ein­an­der exi­stie­ren, zumin­dest in Gar­ten­form. War­um kann das nicht über­all so sein?