Mal wieder in Berlin. An einem sonnigen Tag Ende September fahre ich mit einem Begleiter nach Marzahn, um die Gärten der Welt zu besuchen und auch mit der Seilbahn zu fahren. Kaum haben wir die Kasse passiert, geraten wir schon auf dem Weg zur Gondelstation ins Staunen. Die von diversen Künstlern konzipierten Gartenkabinette sind eine Wucht. Ganz Besonders das Wasser-lastige Thailändische Kabinett besticht durch seine stark meditative Wirkung. Raffiniert verändern Spiegel in Kombination mit dem blauen Nass gewohnte Sichtweisen. Geheimnisvoll in der Sonne glitzernde terrassenförmig angelegte Türmchen spielen mit der Wahrnehmung. Aber auch die anderen Länder – von Australien über Deutschland bis Südafrika – überraschen mit außergewöhnlich konzipierter Gartenkunst, wobei das ganze Spektrum zwischen Tradition und Moderne abgedeckt wird.
Die Gondelstation naht und wir steigen ein. Mir ist das Ganze, trotz aller bisherigen Harmonie, doch etwas suspekt. Ich bin nicht ganz schwindelfrei, vor Höhen habe ich Respekt und deshalb seit über 20 Jahren auch kein Flugzeug mehr betreten. Dann bewegt sich die Gondel langsam aufwärts und beim Blick zurück kann man schon bald den Berliner Fernsehturm sehen, der zunächst von den Marzahner Hochhäusern verdeckt war. Die Sonne lässt ihn fast überirdisch erstrahlen, der Himmel blaut derweil vor sich hin. So langsam wähne ich mich in Sicherheit. Doch die ist trügerisch.
Dann ruckelt es kurz. Die Gondel bleibt stehen und rührt sich nicht mehr. Stille. Eine weibliche Stimme ertönt: »Technische Störung«. Verwirrung, aber noch keine Panik, bestimmt geht es gleich weiter. Erneut sagt die emotionslose Stimme »Technische Störung«, und kurz darauf noch einmal. Ich rutsche immer tiefer in den Sitz, versuche, die aufkommende Unruhe zu unterdrücken, aber auch, mich möglichst wenig zu bewegen, damit die Gondel nicht auch noch unnötig schwankt. Dann herrsche ich die Stimme unsinnigerweise mit einem unflätigen Schimpfwort, das hier nichts zur Sache tut, an, und setze noch »Ich will hier raus!« hinterher. Stille. Stillstand. Ein stumpfer Albtraum wird wahr. Dennoch sehe ich ein, dass das alles keinen Sinn macht. Angst kombiniert mit Wut ist zwecklos. Draußen ist es trotz Sonnenschein immer windiger geworden, sodass die Gondel tatsächlich zunehmend schwankt. Unter mir, ich kämpfe mittlerweile mit einem leichten Brechreiz, und meinem – bis jetzt – unerschütterlichen Begleiter lodert der unerbittliche Abgrund. Ich bereue in diesem Moment, noch kein Testament gemacht zu haben. Und: vorher nicht zur Toilette gegangen zu sein. Auch mein Begleiter kämpft mittlerweile mit seiner schwachen Blase.
Dann passiert etwas ganz Merkwürdiges, das ich mir bis heute nicht erklären kann. War das Bier am Vorabend schlecht? Hat mir jemand bewusstseinserweiternde Drogen ins Frühstück gemischt? Was und wer auch immer es war, wie von Zauberhand habe ich auf einmal eine Vision. Für einen kurzen Moment sehe ich den deutschen Bundeskanzler vor mir, wie der an seinem Rednerpult hin und her hampelt, wie es so seine Art ist. Dann ruft er seinem Gegenüber (mir) auch noch barsch zu: »Hör doch mal auf, so wehleidig zu sein!« Wieso duzt der mich?, denke ich verwundert und will zu einer patzigen Antwort ansetzen, da ist die hagere Vision auch schon verschwunden. Sehr seltsam, aber irgendwie hat der Mann ja schon ein wenig recht, auch wenn er das in einem ganz anderen Zusammenhang gesagt hat, woraufhin ein veritabler Shitstorm über ihn hinweggefegt ist. Aber: Alles Jammern hilft in manchen Momenten tatsächlich überhaupt nichts, so auch nicht in dieser vermaledeiten Gondel. Hilfreich wäre es, wenn die technische Störung in wenigen Minuten behoben werden könnte oder die österreichische Bergrettung erschiene, samt Helikopter und Kletterseil.
Mein Begleiter ahnt nichts von meiner seltsamen Merz-Vision. Er hat wohl einfach nur Hunger. Derweil hat mich eine völlig unerwartete Gelassenheit ereilt, die die Angst tatsächlich zunehmend in den Hintergrund drängt. Ich denke an den meditativen Garten, den ich kurz zuvor sehr genossen habe. An Buddha und Konsorten. Und überhaupt: Die Situation samt Merzscher Vision hat ja auch eine gewisse Symbolkraft. Die Gondel in Richtung aufwärts, dann der Stillstand, das Bild trifft ja auch auf vieles in diesem Land zu. Aber: Kneifen macht keinen Sinn, es muss ja immer weiter gehen, sonst kann man den Laden gleich dichtmachen. So gilt es hier wie allerorts, die Nerven zu bewahren und nach vorne zu schauen, was immer da auch kommen mag. Jammern ist tatsächlich kontraproduktiv, einseitige Schuldzuweisungen auch, was zum Beispiel das Geschäftsmodell einer gewissen Partei ist, die zumeist völlig blau ist. Mir drängt sich immer stärker die Metapher Gondel/Deutschland auf, die den eigenen Zustand in den Hintergrund schiebt. Und bevor das schwebende Gefährt doch noch zum sinkenden Schiff wird oder gar abstürzt, rufe ich: Nein! Die Gondel muss weiterfahren!
Und tatsächlich: Nach ungefähr einer dreiviertel Stunde ruckelt es erneut und die Gondel bewegt sich wieder. Das Schiff ist nicht gesunken, die Mannschaft ist zwar leicht angeschlagen, aber sie lebt. Und ich weiß nun, dass man vieles bewältigen kann, wenn man nur die inneren Kräfte mobilisiert. Nicht zuletzt auch, um genau die mentale Stärke aufzubringen, die man in diesen Zeiten – nicht nur in der Gondel – schon mal verlieren kann. Wenn die Presse sich mit Hiobsbotschaften überschlägt, Parteien sich bekriegen und ihre Kämpfe in sinnlosen Talkshows austragen. Wenn ein echter Krieg immer näher rückt, man unbedingt »kriegstüchtig« werden muss und man das Gefühl hat, dass manche den Ernstfall kaum erwarten können. Schließlich erreicht die Gondel ihr Ziel und ich falle dem Mitarbeiter, der die Türen öffnet, halb in die Arme. »Mir ist schlecht«, murmele ich, und der Mann entschuldigt sich kleinlaut mit »Tut mir leid«, anstatt sofort ein alkoholisches Getränk zu reichen. Endlich Boden unter den Füßen! Jetzt heißt es tatsächlich, nach vorne zu schauen und diese Gondelfahrt zu verdauen. Das Wetter ist traumhaft, die Sonne wärmt, und so langsam hebt sich die Stimmung wieder, ist die Gondel des Grauens schon bald vergessen, der farblose Friedrich Merz sowieso. Unweit des chinesischen Gartens mit seinem asiatischen Pavillon im See wird sich am Imbiss mit gebratenen Nudeln gelabt, dann geht es weiter in diesem außergewöhnlichen Berliner Gartenreich, in dem man locker den ganzen Tag verbringen kann. Ein Dahlienmeer erstrahlt in den schönsten Farben, die Rosen des Englischen Gartens duften herrlich, sogar ein Original-Cottage hat man dort errichtet, in dem man gepflegt Kaffee trinken kann. Und: Es ist ein Ort, an dem Judentum und Islam einträchtig nebeneinander existieren, zumindest in Gartenform. Warum kann das nicht überall so sein?