1.Frontex: Mehr Abschottung als Schutz
Die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, auch Frontex genannt, ist eine Agentur der Europäischen Union mit Sitz in Warschau, die, so heißt es offiziell, für den Schutz der Außengrenzen des Schengen-Raums zuständig ist. Ein Schwerpunkt der Frontex-Aktivitäten findet auf dem bzw. rund um das Mittelmeer statt.
Doch was so euphemistisch Schutz genannt wird, bedeutet in Wahrheit Abschottung und Abwehr. Mit Stacheldraht bewehrte, meterhohe Barrieren; modernste Überwachungstechnik, Schnellboote, Hubschrauber, Drohnen, Kriegsschiffe: Die Europäische Union »schützt« ihre Außengrenzen über ihre Grenzschutzagentur Frontex mit zahlreichen brutalen Maßnahmen gegen Flüchtlinge und Migranten. Zunehmend kommt dabei Militär zum Einsatz. Um das zu rechtfertigen, wird argumentiert, es ginge um die Bekämpfung von Schleppern. Dabei ist die Abschottung der EU die Geschäftsgrundlage der Schleuser. Flüchtlinge bleiben in jedem Fall die Opfer der Abschottung: Denn abgeriegelte Grenzen führen zu längeren und riskanteren Fluchtwegen. Und damit zu mehr Toten.
Zahlreiche Menschenrechtsorganisationen kritisieren Frontex in Zusammenhang mit militärischen Flüchtlings-Abwehrmaßnahmen in der Mittelmeer-Region. Die zentrale Mittelmeer-Route ist der wichtigste Korridor für Menschen, die aus Afrika
und dem Mittleren Osten nach Europa gelangen wollen. Wo sie einen Asylantrag stellen können. In Griechenland, Italien oder Spanien. Ein Rechtsgutachten des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) kommt zu dem Schluss, dass die EU-Grenzschützer auch außerhalb der Territorien der EU-Staaten – also etwa auch auf Hoher See jenseits der 12-Meilen-Zone – an Flüchtlings- und Menschenrechte gebunden sind. Mitten auf dem Meer aufgegriffene Flüchtlinge haben demzufolge das Recht, einen Asylantrag zu stellen. Sie dürfen nicht zurückgeschoben werden, wenn ihnen möglicherweise Verfolgung oder Misshandlung droht. Um Flüchtlinge aber erst gar nicht bis zur Mittelmeerküste gelangen zu lassen, unterstützt Frontex zum Beispiel die Einrichtung von Lagern in entlegenen libyschen Wüstengebieten. Hierzu zählen in Libyen die Kufra-Oasen und Sabha.
Flüchtlinge aus dem Senegal beschrieben in Report Mainz, gesendet am 5. Oktober 2009, wie ihr Boot auf See aufgebracht wurde: »Wir hatten nur noch drei Tage zu fahren, da hat uns ein Polizeischiff aufgehalten. Sie wollten uns kein Wasser geben. Sie haben gedroht, unser Boot zu zerstören, wenn wir nicht sofort umkehren. Wir waren fast verdurstet und hatten auch Leichen an Bord. Trotzdem mussten wir zurück nach Senegal.« Amnesty International, Pro Asyl und der Evangelische Entwicklungsdienst bestätigen auf Anfrage von Report Mainz übereinstimmend solche Berichte.
2.Die Geschichte von Amjad Naim
Die Grenzschutzagentur Frontex wird immer wieder von Skandalen erschüttert, so musste Ende April 2022 der damalige Frontex-Direktor Fabrice Leggeri zurücktreten. Dem Rücktritt vorangegangen waren Berichte eines Untersuchungsausschusses im EU-Parlament zu Menschenrechtsverletzungen an den Grenzen und außerdem zahlreiche Medienberichte über Verwicklungen von Frontex in illegale Zurückweisungen an den EU-Außengrenzen.
Eine der Geschichten beschrieb der Spiegel: »Amjad Naim hatte Samos schon fast erreicht, als die Männer mit den Sturmhauben kamen. Es war der 13. Mai 2020, Naim saß auf einem wackeligen Schlauchboot. Mit knapp 30 anderen Flüchtlingen war der Palästinenser auf dem Weg nach Griechenland. Die Küste, so erinnerte er sich wenig später am Telefon, konnte er schon sehen. Es waren nur noch wenige Meter. Naim hörte den Lärm eines Helikopters über sich. Dann habe sich ein großes Boot genähert. Naim erinnert sich an die griechische Flagge an der Außenwand, an die Beiboote. Dann hätten die Vermummten angegriffen. Die Männer, so sagt Naim, hätten ins Wasser geschossen, mit einem Haken auf das Boot eingeschlagen, den Motor zerstört und so das Boot gestoppt. Dann schließlich hätten sie die Flüchtlinge an Bord genommen. Naim habe geweint, so sagt er, und sein Handy in der Unterhose versteckt.
Die nächsten Bilder, die es von Naim gibt, dokumentieren ein Verbrechen. Naim filmt 55 Sekunden lang. Die Bilder zeigen ihn und die anderen Flüchtlinge auf zwei aufblasbaren Rettungsinseln. Die griechische Küstenwache hat die Flüchtlinge ausgesetzt. Die quadratische Plattform, auf der sie sitzen, ist ein wackeliges Rettungsfloß aus Gummi, es hat keinen Motor.
Ein griechisches Küstenwacheschiff, Typ Panther, 18 Meter lang, zieht das Rettungsfloß Richtung Türkei. Ein weiteres Schiff begleitet die Aktion. In Naims Floß dringt Wasser ein.
Dann, so zeigt es das Video, das Naim dem Spiegel geschickt hat, löst die griechische Küstenwache das Tau. Sie setzt die Flüchtlinge aus. Mitten auf dem Meer. Erst Stunden später wird die türkische Küstenwache die verängstigten und durstigen Flüchtlinge retten.
Was Amjad Naim an diesem Morgen filmte, nennen Menschenrechtler einen Pushback: Asylsuchende werden an der EU-Außengrenze auf dem Meer ausgesetzt, außerhalb der griechischen Territorialgewässer. Sie sollen keinen Asylantrag in Europa stellen. Die Aktionen sind illegal, sie verstoßen gegen internationales, europäisches und griechisches Recht. Die griechische Küstenwache führt sie seit März 2020 trotzdem systematisch durch – mit der Hilfe von Frontex.«
3.Zahlreiche Frontex-Rechtsbrüche belegt
Für den Zeitraum von März 2020 bis September 2021hat der Spiegel – gemeinsam mit Lighthouse Reports, den Schweizer Medien SRF und Republik sowie der französischen Zeitung Le Monde – zahlreiche solcher Rechtsbrüche zweifelsfrei dokumentiert. Belegt ist auch, dass deutsche Bundespolizisten im Frontex-Einsatz in die Pushbacks verstrickt sind. Die Frontex-Beamten entdecken die Flüchtlingsboote im Auftrag der Griechen. Die übernehmen dann den Pushback.
In einer Datenbank, die auf den Servern der europäischen Grenzschutzagentur Frontex liegt, wird das Geschehen an den EU-Außengrenzen genau festgehalten. Der Inhalt der Datenbank ist geheim. Nur europäische Grenzschützer haben Zugriff auf die Daten. Eigentlich. Doch auf Basis des europäischen Informationsfreiheitsgesetzes konnten die Rechercheure die interne Frontex-Datenbank einsehen und mit Fotos und Videos von Pushback-Operationen abgleichen. Die Recherchen belegten erstmals das ganze Ausmaß der Frontex-Unterstützung für die griechischen Pushbacks in der Ägäis. Auch Naims Fall ist dort notiert.
Der Spiegel schreibt: »In der Datenbank steht, ein deutscher Helikopter im Frontex-Einsatz habe das Flüchtlingsboot an diesem Tag in türkischen Gewässern entdeckt, gemeinsam mit einem Patrouillenboot der Bundespolizei. Die deutschen Polizisten hätten das gemeinsame Kontrollzentrum in Piräus informiert, die Griechen dann wiederum die türkische Küstenwache. Ein türkisches Patrouillenboot sei am Ort des Geschehens angekommen und habe die Verantwortung für den Vorfall übernommen. Das war’s. Angeblich. In der Frontex-Datenbank ist der Vorfall als »prevention of departure« registriert, also als »Verhinderung der Ausreise«. Der Begriff soll eigentlich nur genutzt werden, wenn die türkische Küstenwache Flüchtlingsboote in türkischen Gewässern aufhält. Aber so war es nicht. Amjad Naim befand sich klar in griechischen Gewässern. Er hätte einen Asylantrag stellen dürfen.
Auch die Ankunft und der Angriff der griechischen Grenzschützer in unmittelbarer Nähe von Samos, die wackeligen Rettungsflöße, der Pushback, der klar auf Video festgehalten ist, werden in der Datenbank verschwiegen. Die Beschreibung des Vorfalls, das steht fest, ist falsch.«
Zwischen März 2020 und September 2021 war Frontex in illegale Pushbacks von mindestens 957 Flüchtlingen involviert. Das sind 22 Fälle, bei denen es sich zweifelsfrei um einen griechischen Pushback handelte. Die wahre Zahl der Pushbacks, bei denen Frontex behilflich war, liegt höchstwahrscheinlich noch höher.
Der Spiegel: »Die Recherchen zeigen zudem, dass diese Pushbacks in der Datenbasis fein säuberlich erfasst werden – allerdings stets mit dem falschen, unverdächtigen Begriff »prevention of departure«. Die Datenbank wird also frisiert. Die Datenbank von Europas größter Behörde, ursprünglich dazu gedacht, ein akkurates Bild von der Situation an den EU-Grenzen vermitteln, ist zu einem Werkzeug geworden, mit dem die Rechtsbrüche der griechischen Regierung und die Komplizenschaft einer EU-Behörde vertuscht werden.«
4.Keine guten Wünsche zum Geburtstag
Am 26. Oktober 2024 wurde Frontex, die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, 20 Jahre alt. Das sind 20 Jahre des Wegschauens bei Menschenrechtsverletzungen und 20 Jahre der Migrationsabwehr ohne Rücksicht auf Grundrechte. Ursprünglich gegründet zum verstärkten Schutz der EU-Außengrenzen, um gleichzeitig im Rahmen des Schengener Abkommens die Kontrolle an den EU-Binnengrenzen abzuschaffen, hat Frontex sich längst verselbstständigt. Anfangs war noch gedacht, dass die ausführenden Organe weiterhin die Mitgliedsstaaten sind, zum Beispiel mit ihren Küstenwachen oder zuständigen Behörden an den Landgrenzen. Inzwischen ist Frontex aber zu einer Grenzpolizei mit eigenem bewaffnetem und uniformiertem Personal mutiert. Eine Verordnung aus 2016 regelte, dass die Agentur eigene Ausrüstung anschaffen kann; ab 2019 begann die Agentur mit der Rekrutierung von eigenem Personal – und kann seither unabhängig von den Mitgliedstaaten agieren. Dennoch müssen die Frontex-Grenztruppen weiterhin, um an bestimmten Orten aktiv werden zu können, von den betreffenden Staaten eingeladen werden.
Frontex ist immer auf dem neusten Stand der Technik. »Das Mittelmeer«, so nd-Redakteur Matthias Monroy, der seit Jahren zum Thema arbeitet, »ist wahrscheinlich das am besten überwachte Meer der Welt.« Die Flugzeuge, die Frontex zur Grenzüberwachung einsetzt, sind mit Kameras, Infrarot und Radar ausgestattet. Außerdem können Satellitentelefone, die Geflüchtete in vielen Fällen auf den Booten haben, von Satelliten geortet werden. Derzeit forscht Frontex zu sogenannten hochfliegenden Plattformen, die sich autonom in der Stratosphäre bewegen können: Die Agentur hat 5 Millionen Euro für ein Forschungsprojekt mit Airbus ausgegeben, um die Lücke zwischen Flugzeugen, Drohnen und Satelliten zu schließen. Das ganze Arsenal diene angeblich der Entdeckung von Seenotfällen, wird aber vor allem zur Migrationsabwehr angeschafft und eingesetzt. Matthias Monroy in einem Gespräch mit der zivilen Seenotrettungsorganisation »Sea-Eye«: »Die Seenotfälle werden gern nach Libyen gemeldet und eben nicht an die zivilen Rettungsschiffe. So beteiligt sich Frontex daran, dass schutzsuchende Menschen zurück in libysche Lager gebracht werden und dort schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind.« Und wie immer neue Berichte zeigen, erst 2024 von der BBC, ist Frontex auch weiterhin an Pushbacks beteiligt.
Zwar gibt es bei Frontex Stellen für sogenannte Grundrechtsbeobachter – unter dem ehemaligen Chef Fabrice Leggeri (jetzt Abgeordneter der rechtsextremen Partei Rassemblement National in Frankreich) wurde keine der Stellen besetzt. Unter seinem Nachfolger Hans Leijtens aus den Niederlanden sind es mittlerweile etwa 50. Doch sie sind Teil von Frontex und ihre Berichte sind nur intern. Matthias Monroy: »Bei Frontex fehlen definitiv unabhängige Beobachter, die Skandale aufdecken und auch Einfluss darauf haben, was mit ihren Berichten passiert. Diese Rolle übernehmen derzeit eigentlich nur Journalisten und Menschenrechtsorganisationen. Sie sind im Moment die Einzigen, die dafür sorgen, dass nach diesen Berichten, die sie häufig mithilfe von Informationsfreiheitsgesetzen anfordern, auch etwas passiert. Je weniger Kontrollmechanismen es für Frontex gibt, desto wichtiger ist die Arbeit, die Aktivisten und die Medien machen.«
5.Frontex: Von Europa in die ganze Welt
Während das Frontex-Budget in 2005 noch sechs Millionen Euro betrug, werden für 2025 rund 1,12 Milliarden prognostiziert. In Zukunft soll Frontex zunehmend außerhalb der EU eingesetzt werden. Seit 2016 kann Frontex Personal in benachbarte Drittstaaten entsenden. Geregelt wird das über Statusabkommen. Die gibt es mit Albanien, Mazedonien, Bosnien und Herzegowina sowie Serbien. Seit 2019 darf Frontex auch mit nicht-benachbarten Ländern wie dem Kosovo solche Abkommen abschließen. Inzwischen gibt es schon Verträge mit afrikanischen Ländern wie dem Senegal oder Mauretanien. Und die EU-Kommission will die Zahl der Vertragspartner zur Flüchtlingsabwehr weiter erhöhen. Nach ihrer Vorstellung sollen die Menschen möglichst erst gar nicht aus diesen Ländern herauskommen. Matthias Monroy: »Frontex ist auf keinen Fall reformierbar und sollte deshalb abgeschafft werden. Wir brauchen keine Organisation, deren primäres Ziel die Abwehr von Migration ist und die dafür sogar Menschenrechtsverletzungen in Kauf nimmt. Zudem ist der Ansatz, Menschen an den Grenzen an der irregulären Einreise zu hindern, völlig falsch, solange das die einzige Möglichkeit ist, in einem Land in Europa Asyl zu beantragen.«
6.Zahl der Toten auf dem Mittelmehr steigt wieder
Die Zahl der im Mittelmeer ertrunkenen Geflüchteten steigt nach Angaben der UNO-Flüchtlingshilfe wieder an. 2023 waren es 4.110 Tote und Vermisste; die höchste Zahl seit 2016. Damals waren 5.096 Todesopfer zu beklagen. Auch 2024 bleiben die Zahlen auf hohem Niveau: es starben oder verschwanden 3.530 Menschen. Viele von ihnen hätten von den Schiffen der technisch hochgerüsteten Grenzschutz-Agentur Frontex gerettet werden können.
Matthias Monroy: »Das, was jetzt die zivilen Seenotrettungsorganisationen machen, sollten die Mitgliedstaaten übernehmen – nämlich dafür zu sorgen, dass keine Menschen im Mittelmeer sterben. Das sollte nicht die Aufgabe von Vereinen sein, die sich über Spenden finanzieren, sondern eine staatliche Aufgabe.«