Schauen wir heute auf die israelische Gesellschaft, so bietet sich uns kein sympathischer Anblick. Das mag an dem extrem kriegerischen und rassistischen Regime liegen, welches ihr Ministerpräsident um sich gebaut hat. Aber auch die Gesellschaft vermag mit ihrer offenen Ablehnung der palästinensischen Einwohner in den besetzten Gebieten und in Israel selbst das Bild nicht zu schönen. »Was ist das für eine Gesellschaft«, fragte jüngst in einem Interview die Leiterin von B’tselem, Yuli Novak, Enkelin von Holocaust-Überlebenden, »die oft über Jahre einen Völkermord verübt, legitimiert, ignoriert oder leugnet? Und genau das erlebe ich jetzt in Israel. (…) Wenn ich mir Israel heute anschaue, komme ich zu dem Schluss: Meine Gesellschaft nimmt genozidale Züge an. (…) Aber 99 Prozent der Israelis sind sich dessen nicht einmal bewusst.«
Es mag nun vollkommen falsch sein, von der Literatur, einem Roman, zu dieser Frage eine Antwort zu erwarten. Aber von einer so dezidiert politischen und engagierten Künstlerin wie Nirit Sommerfeld – in Israel geboren, dort aufgewachsen, nach Deutschland gekommen, wieder zurückgekehrt und abermals nach Deutschland gegangen, eine Wanderin, politisch getrieben –, erhofft man doch einige Hinweise zur Lösung dieses Rätsels, wenn sie sich mit ihrer Erzählung mitten in die scheinbare Normalität einer Familie im Krieg begibt.
Es ist Nirit Sommerfelds erster Roman, und sie wählt eine junge jüdische Studentin als Protagonistin und Icherzählerin, Talia, die aus Deutschland nach Israel reist, um ihrem Einberufungsbefehl zu folgen, »dem Land im Krieg zu dienen«. Offensichtlich ebenso unbewusst wie jene 99 Prozent in Israel taucht sie ein in ein bürgerlich-zionistisches Milieu, aus dem sie ja selbst stammt. Die Alten leben noch in unmittelbarer Erinnerung an die furchtbare Zeit in Deutschland, die Jungen sind entweder schon im Krieg in Gaza oder stolz, schon bald wie Talia eingezogen zu werden. Es ist ein offenbar problemloses Nebeneinander der Generationen, dessen Untiefen und Ungereimtheiten ihr erst durch ein Tagebuch, welches der Großvater Talia hinterlassen hat, offengelegt werden. In ihm bekennt er, dass er als führendes Mitglied der Hagana genau eine Woche nach der Gründung des Staates Israel durch Ben Gurion im Mai 1948 an einem Überfall auf ein kleines Fischerdorf, Tantura, 30 km südlich von Haifa, beteiligt war und ein fruchtbares Massaker anrichtete. »Ich will nicht jede Grausamkeit schildern, aber ich muss es so sagen: Wir alle, auch wir Juden sind zu den schrecklichsten Dingen fähig. In Tantura zeigte sich das wahre Gesicht des Krieges, das in jedem Einzelnen von uns zu einer hässlichen Fratze wird. Ich werde mein Lebtag nicht vergessen, wie manche von uns weit über ihre Befugnisse hinaus eigenmächtig handelten.«
Talia wird diese »hässliche Fratze« des Krieges später selber sehen, als sie von einer Gruppe protestierender Jugendlicher zur Räumung des Beduinendorfs Umm al-Hiran in der Negev mitgenommen wird. Entsetzt über die Brutalität der Zerstörung, flippt Talia aus und springt einen Soldaten an. Die setzen Tränengas ein, Talia wird ohnmächtig und wacht erst in einem Zelt wieder auf, wo sie mit einem Glas Schafsmilch mit Kräutern, der »Beduinenmilch«, wieder zu sich kommt. In Erinnerung wird ihr ein Satz bleiben, der ihr zugerufen wird: »Du hast die Seele einer Beduinin, das ist gut. Lass dich nicht unterkriegen!«
Man weiß von Anfang an, wohin Talias kurzer Weg der Erkenntnis und Entscheidung führen wird, denn die Autorin hat mit ihrer Musik, ihren Vorträgen und öffentlichen Briefen nie einen Zweifel an ihrem Einsatz gegen den Krieg und für die Rechte des palästinensischen Volkes aufkommen lassen. So mag es ihr einst selbst ergangen sein wie Talia, die über ein Gerichtsverfahren gegen einen arabischen Bauarbeiter, der ohne Genehmigung illegal in Israel arbeitet, ihre ersten Eindrücke von einem System der Unterdrückung und Diskriminierung sammelt. Die kunstvoll entwickelte Geschichte endet dennoch positiv für den Bauarbeiter und öffnet Talia zugleich einen überraschenden und überwältigenden Zugang zur arabischen Familie.
Auf ihrem Weg durch die unbekannte Realität der israelischen Gegenwart ist ihr alles neu: ob in den verlassenen Mauern der palästinensischen Ortschaft Lifta oder unter den über die Straßen gespannten Netzen in Hebron, auf die die Siedler ihre Abfälle werfen. So absurd diese Realität erscheint, sie bewirkt dennoch, dass sich der spontane Idealismus der jungen Studentin in eine klare politische Entscheidung verwandelt, diesem Land nicht »im Krieg zu dienen«.
Man könnte diesen Roman eine kurze Geschichte der Emanzipation nennen. Er wirft aber auch einen unverstellten Blick auf eine zerrissene Gesellschaft und ein anachronistisches menschenfeindliches System des Kolonialismus. Die Unterstützung, die Talia für ihre Entscheidung aus der angepassten Familie dennoch erhält und die so freundschaftlichen Begegnungen mit der fremden arabischen Welt geben der Erzählung einen Optimismus, der darauf hindeutet, dass es auch für diesen Staat einen Weg aus dem Verbrechen des Völkermordes und eine Perspektive des Friedens mit dem arabischen Volk gibt. Dafür mag der Titel dieses Buches »Beduinenmilch« stehen.
Das Buch ist spannend zu lesen bis zur letzten Seite. Nichts ist Fiktion alles Realität. Es ist zugleich lehrreich und vermag nicht nur denen, die wie Talia zu wenig über Israel wissen, ein deutlicheres Bild dieses Landes zu vermitteln – eine unbedingte Empfehlung.
Nirit Sommerfeld, Beduinenmilch, ars vivendi, 2025, 342 S., 22 €.