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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Genozidale Züge

Schau­en wir heu­te auf die israe­li­sche Gesell­schaft, so bie­tet sich uns kein sym­pa­thi­scher Anblick. Das mag an dem extrem krie­ge­ri­schen und ras­si­sti­schen Regime lie­gen, wel­ches ihr Mini­ster­prä­si­dent um sich gebaut hat. Aber auch die Gesell­schaft ver­mag mit ihrer offe­nen Ableh­nung der palä­sti­nen­si­schen Ein­woh­ner in den besetz­ten Gebie­ten und in Isra­el selbst das Bild nicht zu schö­nen. »Was ist das für eine Gesell­schaft«, frag­te jüngst in einem Inter­view die Lei­te­rin von B’tselem, Yuli Novak, Enke­lin von Holo­caust-Über­le­ben­den, »die oft über Jah­re einen Völ­ker­mord ver­übt, legi­ti­miert, igno­riert oder leug­net? Und genau das erle­be ich jetzt in Isra­el. (…) Wenn ich mir Isra­el heu­te anschaue, kom­me ich zu dem Schluss: Mei­ne Gesell­schaft nimmt geno­zi­da­le Züge an. (…) Aber 99 Pro­zent der Israe­lis sind sich des­sen nicht ein­mal bewusst.«

Es mag nun voll­kom­men falsch sein, von der Lite­ra­tur, einem Roman, zu die­ser Fra­ge eine Ant­wort zu erwar­ten. Aber von einer so dezi­diert poli­ti­schen und enga­gier­ten Künst­le­rin wie Nirit Som­mer­feld – in Isra­el gebo­ren, dort auf­ge­wach­sen, nach Deutsch­land gekom­men, wie­der zurück­ge­kehrt und aber­mals nach Deutsch­land gegan­gen, eine Wan­de­rin, poli­tisch getrie­ben –, erhofft man doch eini­ge Hin­wei­se zur Lösung die­ses Rät­sels, wenn sie sich mit ihrer Erzäh­lung mit­ten in die schein­ba­re Nor­ma­li­tät einer Fami­lie im Krieg begibt.

Es ist Nirit Som­mer­felds erster Roman, und sie wählt eine jun­ge jüdi­sche Stu­den­tin als Prot­ago­ni­stin und Ich­er­zäh­le­rin, Talia, die aus Deutsch­land nach Isra­el reist, um ihrem Ein­be­ru­fungs­be­fehl zu fol­gen, »dem Land im Krieg zu die­nen«. Offen­sicht­lich eben­so unbe­wusst wie jene 99 Pro­zent in Isra­el taucht sie ein in ein bür­ger­lich-zio­ni­sti­sches Milieu, aus dem sie ja selbst stammt. Die Alten leben noch in unmit­tel­ba­rer Erin­ne­rung an die furcht­ba­re Zeit in Deutsch­land, die Jun­gen sind ent­we­der schon im Krieg in Gaza oder stolz, schon bald wie Talia ein­ge­zo­gen zu wer­den. Es ist ein offen­bar pro­blem­lo­ses Neben­ein­an­der der Gene­ra­tio­nen, des­sen Untie­fen und Unge­reimt­hei­ten ihr erst durch ein Tage­buch, wel­ches der Groß­va­ter Talia hin­ter­las­sen hat, offen­ge­legt wer­den. In ihm bekennt er, dass er als füh­ren­des Mit­glied der Haga­na genau eine Woche nach der Grün­dung des Staa­tes Isra­el durch Ben Guri­on im Mai 1948 an einem Über­fall auf ein klei­nes Fischer­dorf, Tan­tura, 30 km süd­lich von Hai­fa, betei­ligt war und ein frucht­ba­res Mas­sa­ker anrich­te­te. »Ich will nicht jede Grau­sam­keit schil­dern, aber ich muss es so sagen: Wir alle, auch wir Juden sind zu den schreck­lich­sten Din­gen fähig. In Tan­tura zeig­te sich das wah­re Gesicht des Krie­ges, das in jedem Ein­zel­nen von uns zu einer häss­li­chen Frat­ze wird. Ich wer­de mein Leb­tag nicht ver­ges­sen, wie man­che von uns weit über ihre Befug­nis­se hin­aus eigen­mäch­tig handelten.«

Talia wird die­se »häss­li­che Frat­ze« des Krie­ges spä­ter sel­ber sehen, als sie von einer Grup­pe pro­te­stie­ren­der Jugend­li­cher zur Räu­mung des Bedui­nen­dorfs Umm al-Hiran in der Negev mit­ge­nom­men wird. Ent­setzt über die Bru­ta­li­tät der Zer­stö­rung, flippt Talia aus und springt einen Sol­da­ten an. Die set­zen Trä­nen­gas ein, Talia wird ohn­mäch­tig und wacht erst in einem Zelt wie­der auf, wo sie mit einem Glas Schafs­milch mit Kräu­tern, der »Bedui­nen­milch«, wie­der zu sich kommt. In Erin­ne­rung wird ihr ein Satz blei­ben, der ihr zuge­ru­fen wird: »Du hast die See­le einer Bedui­nin, das ist gut. Lass dich nicht unterkriegen!«

Man weiß von Anfang an, wohin Tali­as kur­zer Weg der Erkennt­nis und Ent­schei­dung füh­ren wird, denn die Autorin hat mit ihrer Musik, ihren Vor­trä­gen und öffent­li­chen Brie­fen nie einen Zwei­fel an ihrem Ein­satz gegen den Krieg und für die Rech­te des palä­sti­nen­si­schen Vol­kes auf­kom­men las­sen. So mag es ihr einst selbst ergan­gen sein wie Talia, die über ein Gerichts­ver­fah­ren gegen einen ara­bi­schen Bau­ar­bei­ter, der ohne Geneh­mi­gung ille­gal in Isra­el arbei­tet, ihre ersten Ein­drücke von einem System der Unter­drückung und Dis­kri­mi­nie­rung sam­melt. Die kunst­voll ent­wickel­te Geschich­te endet den­noch posi­tiv für den Bau­ar­bei­ter und öff­net Talia zugleich einen über­ra­schen­den und über­wäl­ti­gen­den Zugang zur ara­bi­schen Familie.

Auf ihrem Weg durch die unbe­kann­te Rea­li­tät der israe­li­schen Gegen­wart ist ihr alles neu: ob in den ver­las­se­nen Mau­ern der palä­sti­nen­si­schen Ort­schaft Lifta oder unter den über die Stra­ßen gespann­ten Net­zen in Hebron, auf die die Sied­ler ihre Abfäl­le wer­fen. So absurd die­se Rea­li­tät erscheint, sie bewirkt den­noch, dass sich der spon­ta­ne Idea­lis­mus der jun­gen Stu­den­tin in eine kla­re poli­ti­sche Ent­schei­dung ver­wan­delt, die­sem Land nicht »im Krieg zu dienen«.

Man könn­te die­sen Roman eine kur­ze Geschich­te der Eman­zi­pa­ti­on nen­nen. Er wirft aber auch einen unver­stell­ten Blick auf eine zer­ris­se­ne Gesell­schaft und ein ana­chro­ni­sti­sches men­schen­feind­li­ches System des Kolo­nia­lis­mus. Die Unter­stüt­zung, die Talia für ihre Ent­schei­dung aus der ange­pass­ten Fami­lie den­noch erhält und die so freund­schaft­li­chen Begeg­nun­gen mit der frem­den ara­bi­schen Welt geben der Erzäh­lung einen Opti­mis­mus, der dar­auf hin­deu­tet, dass es auch für die­sen Staat einen Weg aus dem Ver­bre­chen des Völ­ker­mor­des und eine Per­spek­ti­ve des Frie­dens mit dem ara­bi­schen Volk gibt. Dafür mag der Titel die­ses Buches »Bedui­nen­milch« stehen.

Das Buch ist span­nend zu lesen bis zur letz­ten Sei­te. Nichts ist Fik­ti­on alles Rea­li­tät. Es ist zugleich lehr­reich und ver­mag nicht nur denen, die wie Talia zu wenig über Isra­el wis­sen, ein deut­li­che­res Bild die­ses Lan­des zu ver­mit­teln – eine unbe­ding­te Empfehlung.

Nirit Som­mer­feld, Bedui­nen­milch, ars viven­di, 2025, 342 S., 22 €.