Der Schriftsteller Franz Werfel (1890-1945) musste Österreich, seinen Heimatstaat, verlassen, als dieser beim sogenannten »Anschluss« von Nazi-Deutschland annektiert wurde. Zu dem Zeitpunkt im Jahr 1938 befand er sich auf Capri, hatte insofern eine weniger dramatische Fluchtgeschichte als viele seiner Landsleute. Dennoch zeigten sich gleich nach der Flucht ins südfranzösische Sanary-sur-Mer gesundheitliche Folgeschäden in Form wiederkehrender Herzattacken. Sieben Jahre später sollte er an einem Herzinfarkt sterben. Flucht und Vertreibung erlebte auch Werfel als lebensbedrohlichen Einschnitt.
Als Jude sowie als Autor von Büchern, die von den Nazis wegen »Gefährdung öffentlicher Sicherheit und Ordnung« verboten wurden, war sein Leben in Österreich nicht mehr sicher. Unter dem Eindruck der Geschehnisse schrieb Werfel »Die wahre Geschichte vom wiederhergestellten Kreuz«, eine Novelle, die 1942 veröffentlicht wurde. Nicht »wahr« im dokumentarischen Sinne, aber realistisch hinsichtlich der Werfel bekannten Schicksale jüdischer Österreicher, erzählt der Text, wie eine kleine jüdische Gemeinschaft am ersten Tag der deutschen Besetzung aus ihrem Dorf im Burgenland, wo sie Jahrhunderte lang beheimatet war, vertrieben wird. Initiatoren des Terrors sind Landsleute, die eine für damals charakteristische Allianz bilden: Der »missratene Sohn« eines Großbauern wird – als Nazi – über Nacht zur bestimmenden Autorität. Ihm zur Seite steht ein wohl beleumundeter Eisenbahnbeamter. Kriminelle und gutbürgerliche Nachbarn vereinen sich, berauben die jüdischen Familien ihrer Habe und zwingen sie auf einen von ihnen eskortierten Treck zur ungarischen Grenze. Aus Gründen, die für die Erzählung zentral sind, hier aber ausgeklammert bleiben, begleitet die Flüchtenden ein katholischer Priester, teilt ihr Schicksal und wird am Ende selbst zum Flüchtling.
Den dramatischen Hauptteil der Novelle bilden die Vorkommnisse an der Grenze. Ein ungarischer Grenzbeamter teilt den Flüchtenden mit, dass Ungarn am selben Tag eine Verordnung erlassen hat, die den Grenzübertritt ohne eine »Permission vom Königlich Ungarischen Generalkonsulat in Wien« verbietet. Von den österreichischen Nazis unverhohlen mit dem Tod bedroht, sollen die Flüchtenden nach Wien reisen und sich Papiere für die Grenze besorgen – staatlicher Zynismus. Auch der ungarische Offizier, den zu sprechen der Priester verlangt, bestätigt die Rechtslage, verschanzt sich dahinter und verweist auf Frau und Kinder, die er bei Zuwiderhandlung in Gefahr bringen würde. Zuletzt unterbreitet er der Gemeinde das Angebot, sie könnten zum Schein die Grenze passieren, sodass die Nazis glauben würden ihr Ziel erreicht zu haben, würden aber am nächsten Tag wieder nach Österreich zurückgeschoben – militärischer Zynismus. Währenddessen kampieren die Gejagten, darunter Greise, schwangere Frauen und Kinder, unter freiem Himmel im Niemandsland, kaum mit dem Nötigsten versorgt und von ihren Peinigern mit Prozeduren verhöhnt, wie sie in deutschen KZs an der Tagesordnung sind. Auf dem Höhepunkt der Quälerei zeigt der Obernazi dem Rabbiner der Gemeinde ein Hakenkreuz, das er aus einem geschändeten Grabkreuz mit vier angenagelten Querbalken hat anfertigen lassen, und fordert ihn auf, es zu küssen. Der Pfarrer soll dazu das Kyrie eleison singen.
Was dann geschieht, und was vom Autor in einen ausführlichen, hier vernachlässigten Zusammenhang gestellt wird, verleiht der Erzählung den Titel. Der Rabbiner entfernt sorgfältig die Querbalken von dem Kreuz und übergibt es dem Pfarrer, ungestört durch die verdutzten Schergen. »Niemand hinderte den Verlorenen an der langsamen Vernichtung des triumphierenden Symbols.« Seinen Mut bezahlt der Rabbiner anschließend jedoch mit dem Leben. Man erschießt ihn, tritt und prügelt noch auf den Sterbenden ein. Das Übermaß der Brutalität sprengt den Rahmen jeder Vorstellung. Und wird zum Wendepunkt, indem nun der ungarische Offizier seine Mannschaft die Waffen auf die Nazis richten lässt, sie in die Flucht treibt und wenigstens den volatilen Flüchtenden den Grenzübertritt gestattet. Den gesunden Männern erklärt er den Weg zur tschechoslowakischen Grenze, die sie ohne Schikane passieren können.
Eindringlich erzählt Werfel, wie grausam politische Verfolgung sein kann – und wie unmenschlich schwer, ihr zu entgehen. Der Bodensatz einer Gesellschaft wird über Nacht bestimmend, das Unterste der menschlichen Niedertracht hoch gespült in eine neue Normalität. Staat, Gesetze, Beamtenschaft, Militär, Zivilpersonen verweigern jeglichen Schutz, und das nicht nur in den Verfolgerstaaten, sondern auch da, wo vermeintlich rechtliche Zustände herrschen und Flüchtende überleben wollen.
In einer Rahmenhandlung äußert der Pfarrer, dem mittlerweile die Emigration in die USA gelungen ist, dem Erzähler gegenüber, ebenfalls aus Österreich geflüchtet, »den Wunsch, Ihnen diese verschollene Geschichte anzuvertrauen, das heißt, sie in Ihre Hände zu legen«. Gleiches tun heute Journalisten mit Berichten, die sie von Flüchtlingen an der polnischen EU-Außengrenze erhalten. Sie legen sie in unsere Hand. »Ewa Michalska und Adrian Sekura arbeiten gerade an dem Buch ›Die Grenze des Leidens. Zeugnisse aus dem weißrussisch-polnischen Grenzgebiet‹, einer Sammlung von Interviews mit Geflüchteten, die die grüne polnisch-belarussische Grenze überquert haben.« Mit diesen Worten leitet die Zeitschrift graswurzelrevolution ihren Artikel »Zur Flucht gezwungen« ein. Darin geht es um Anna, eine junge Äthiopierin, die von Michalska/Sekura interviewt wird. Annas letzter Satz lautet: »Ich hoffe, dieses Buch wird den Menschen helfen zu verstehen, was an den Grenzen geschieht und warum es so wichtig ist, dass wir uns gegenseitig unterstützen.«
Erschütternd ähneln Annas Erfahrungen denjenigen der Verfolgten von 1938. Auch sie landet im Niemandsland zwischen zwei Staaten, die keinerlei Interesse an ihr zeigen. Fünfzig Tage lang harren sie und ihre Schicksalsgenossen im »Dschungel« vor der polnischen Grenze aus, ohne jede Unterstützung von staatlicher oder ziviler Seite. Falls die belarussischen Soldaten sie aufspüren, werden sie sie »verhaften oder Schlimmeres tun«. Nach Überquerung der grünen Grenze stößt ein polnischer Soldat Anna in den Grenzfluss und sagt, sie solle nach Belarus zurückschwimmen. Vorher hat er ihr Handy zerstört. Bei weiteren Versuchen verliert sie fast alles, was sie noch hat. Ihre Papiere werden entweder zerstört oder beschlagnahmt. Kein einziger Soldat, auf keiner der beiden Seiten, habe irgendjemanden geholfen, niemand habe sich menschlich gezeigt, auch keine Zivilperson, berichtet Anna. Schwangere hätten Fehlgeburten erlitten, Reizgas mit giftigen Beimengungen, die zu Hautentzündungen führten, habe man gegen die Flüchtenden eingesetzt. Als sie später ihre Verletzungen in einem polnischen Krankenhaus vorstellt, will man, dass sie die Medikamente selbst bezahlt. Seit Wochen besitzt sie keinen Cent mehr.
Wie sich die Bilder gleichen. Glauben wir nicht, oder besser: tun wir nicht so, als hätten die Fluchtschicksale verfolgter Menschen mit der Nazizeit aufgehört. Nichts hat aufgehört. Immer mehr Staaten auf der Welt behandeln ihre Bürger wie Schlachtvieh und zählen dabei auf unsere Ignoranz. Und immer mehr ähnelt das Verhalten der EU-Staaten gegenüber Flüchtenden dem eines präfaschistischen Landes wie Ungarn im Jahr 1938.