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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Geschichten aus dem Niemandsland

Der Schrift­stel­ler Franz Wer­fel (1890-1945) muss­te Öster­reich, sei­nen Hei­mat­staat, ver­las­sen, als die­ser beim soge­nann­ten »Anschluss« von Nazi-Deutsch­land annek­tiert wur­de. Zu dem Zeit­punkt im Jahr 1938 befand er sich auf Capri, hat­te inso­fern eine weni­ger dra­ma­ti­sche Flucht­ge­schich­te als vie­le sei­ner Lands­leu­te. Den­noch zeig­ten sich gleich nach der Flucht ins süd­fran­zö­si­sche Sana­ry-sur-Mer gesund­heit­li­che Fol­ge­schä­den in Form wie­der­keh­ren­der Herz­at­tacken. Sie­ben Jah­re spä­ter soll­te er an einem Herz­in­farkt ster­ben. Flucht und Ver­trei­bung erleb­te auch Wer­fel als lebens­be­droh­li­chen Einschnitt.

Als Jude sowie als Autor von Büchern, die von den Nazis wegen »Gefähr­dung öffent­li­cher Sicher­heit und Ord­nung« ver­bo­ten wur­den, war sein Leben in Öster­reich nicht mehr sicher. Unter dem Ein­druck der Gescheh­nis­se schrieb Wer­fel »Die wah­re Geschich­te vom wie­der­her­ge­stell­ten Kreuz«, eine Novel­le, die 1942 ver­öf­fent­licht wur­de. Nicht »wahr« im doku­men­ta­ri­schen Sin­ne, aber rea­li­stisch hin­sicht­lich der Wer­fel bekann­ten Schick­sa­le jüdi­scher Öster­rei­cher, erzählt der Text, wie eine klei­ne jüdi­sche Gemein­schaft am ersten Tag der deut­schen Beset­zung aus ihrem Dorf im Bur­gen­land, wo sie Jahr­hun­der­te lang behei­ma­tet war, ver­trie­ben wird. Initia­to­ren des Ter­rors sind Lands­leu­te, die eine für damals cha­rak­te­ri­sti­sche Alli­anz bil­den: Der »miss­ra­te­ne Sohn« eines Groß­bau­ern wird – als Nazi – über Nacht zur bestim­men­den Auto­ri­tät. Ihm zur Sei­te steht ein wohl beleu­mun­de­ter Eisen­bahn­be­am­ter. Kri­mi­nel­le und gut­bür­ger­li­che Nach­barn ver­ei­nen sich, berau­ben die jüdi­schen Fami­li­en ihrer Habe und zwin­gen sie auf einen von ihnen eskor­tier­ten Treck zur unga­ri­schen Gren­ze. Aus Grün­den, die für die Erzäh­lung zen­tral sind, hier aber aus­ge­klam­mert blei­ben, beglei­tet die Flüch­ten­den ein katho­li­scher Prie­ster, teilt ihr Schick­sal und wird am Ende selbst zum Flüchtling.

Den dra­ma­ti­schen Haupt­teil der Novel­le bil­den die Vor­komm­nis­se an der Gren­ze. Ein unga­ri­scher Grenz­be­am­ter teilt den Flüch­ten­den mit, dass Ungarn am sel­ben Tag eine Ver­ord­nung erlas­sen hat, die den Grenz­über­tritt ohne eine »Per­mis­si­on vom König­lich Unga­ri­schen Gene­ral­kon­su­lat in Wien« ver­bie­tet. Von den öster­rei­chi­schen Nazis unver­hoh­len mit dem Tod bedroht, sol­len die Flüch­ten­den nach Wien rei­sen und sich Papie­re für die Gren­ze besor­gen – staat­li­cher Zynis­mus. Auch der unga­ri­sche Offi­zier, den zu spre­chen der Prie­ster ver­langt, bestä­tigt die Rechts­la­ge, ver­schanzt sich dahin­ter und ver­weist auf Frau und Kin­der, die er bei Zuwi­der­hand­lung in Gefahr brin­gen wür­de. Zuletzt unter­brei­tet er der Gemein­de das Ange­bot, sie könn­ten zum Schein die Gren­ze pas­sie­ren, sodass die Nazis glau­ben wür­den ihr Ziel erreicht zu haben, wür­den aber am näch­sten Tag wie­der nach Öster­reich zurück­ge­scho­ben – mili­tä­ri­scher Zynis­mus. Wäh­rend­des­sen kam­pie­ren die Gejag­ten, dar­un­ter Grei­se, schwan­ge­re Frau­en und Kin­der, unter frei­em Him­mel im Nie­mands­land, kaum mit dem Nötig­sten ver­sorgt und von ihren Pei­ni­gern mit Pro­ze­du­ren ver­höhnt, wie sie in deut­schen KZs an der Tages­ord­nung sind. Auf dem Höhe­punkt der Quä­le­rei zeigt der Ober­na­zi dem Rab­bi­ner der Gemein­de ein Haken­kreuz, das er aus einem geschän­de­ten Grab­kreuz mit vier ange­na­gel­ten Quer­bal­ken hat anfer­ti­gen las­sen, und for­dert ihn auf, es zu küs­sen. Der Pfar­rer soll dazu das Kyrie elei­son singen.

Was dann geschieht, und was vom Autor in einen aus­führ­li­chen, hier ver­nach­läs­sig­ten Zusam­men­hang gestellt wird, ver­leiht der Erzäh­lung den Titel. Der Rab­bi­ner ent­fernt sorg­fäl­tig die Quer­bal­ken von dem Kreuz und über­gibt es dem Pfar­rer, unge­stört durch die ver­dutz­ten Scher­gen. »Nie­mand hin­der­te den Ver­lo­re­nen an der lang­sa­men Ver­nich­tung des tri­um­phie­ren­den Sym­bols.« Sei­nen Mut bezahlt der Rab­bi­ner anschlie­ßend jedoch mit dem Leben. Man erschießt ihn, tritt und prü­gelt noch auf den Ster­ben­den ein. Das Über­maß der Bru­ta­li­tät sprengt den Rah­men jeder Vor­stel­lung. Und wird zum Wen­de­punkt, indem nun der unga­ri­sche Offi­zier sei­ne Mann­schaft die Waf­fen auf die Nazis rich­ten lässt, sie in die Flucht treibt und wenig­stens den vola­ti­len Flüch­ten­den den Grenz­über­tritt gestat­tet. Den gesun­den Män­nern erklärt er den Weg zur tsche­cho­slo­wa­ki­schen Gren­ze, die sie ohne Schi­ka­ne pas­sie­ren können.

Ein­dring­lich erzählt Wer­fel, wie grau­sam poli­ti­sche Ver­fol­gung sein kann – und wie unmensch­lich schwer, ihr zu ent­ge­hen. Der Boden­satz einer Gesell­schaft wird über Nacht bestim­mend, das Unter­ste der mensch­li­chen Nie­der­tracht hoch gespült in eine neue Nor­ma­li­tät. Staat, Geset­ze, Beam­ten­schaft, Mili­tär, Zivil­per­so­nen ver­wei­gern jeg­li­chen Schutz, und das nicht nur in den Ver­fol­ger­staa­ten, son­dern auch da, wo ver­meint­lich recht­li­che Zustän­de herr­schen und Flüch­ten­de über­le­ben wollen.

In einer Rah­men­hand­lung äußert der Pfar­rer, dem mitt­ler­wei­le die Emi­gra­ti­on in die USA gelun­gen ist, dem Erzäh­ler gegen­über, eben­falls aus Öster­reich geflüch­tet, »den Wunsch, Ihnen die­se ver­schol­le­ne Geschich­te anzu­ver­trau­en, das heißt, sie in Ihre Hän­de zu legen«. Glei­ches tun heu­te Jour­na­li­sten mit Berich­ten, die sie von Flücht­lin­gen an der pol­ni­schen EU-Außen­gren­ze erhal­ten. Sie legen sie in unse­re Hand. »Ewa Mich­als­ka und Adri­an Seku­ra arbei­ten gera­de an dem Buch ›Die Gren­ze des Lei­dens. Zeug­nis­se aus dem weiß­rus­sisch-pol­ni­schen Grenz­ge­biet‹, einer Samm­lung von Inter­views mit Geflüch­te­ten, die die grü­ne pol­nisch-bela­rus­si­sche Gren­ze über­quert haben.« Mit die­sen Wor­ten lei­tet die Zeit­schrift gras­wur­zel­re­vo­lu­ti­on ihren Arti­kel »Zur Flucht gezwun­gen« ein. Dar­in geht es um Anna, eine jun­ge Äthio­pie­rin, die von Michalska/​Sekura inter­viewt wird. Annas letz­ter Satz lau­tet: »Ich hof­fe, die­ses Buch wird den Men­schen hel­fen zu ver­ste­hen, was an den Gren­zen geschieht und war­um es so wich­tig ist, dass wir uns gegen­sei­tig unterstützen.«

Erschüt­ternd ähneln Annas Erfah­run­gen den­je­ni­gen der Ver­folg­ten von 1938. Auch sie lan­det im Nie­mands­land zwi­schen zwei Staa­ten, die kei­ner­lei Inter­es­se an ihr zei­gen. Fünf­zig Tage lang har­ren sie und ihre Schick­sals­ge­nos­sen im »Dschun­gel« vor der pol­ni­schen Gren­ze aus, ohne jede Unter­stüt­zung von staat­li­cher oder zivi­ler Sei­te. Falls die bela­rus­si­schen Sol­da­ten sie auf­spü­ren, wer­den sie sie »ver­haf­ten oder Schlim­me­res tun«. Nach Über­que­rung der grü­nen Gren­ze stößt ein pol­ni­scher Sol­dat Anna in den Grenz­fluss und sagt, sie sol­le nach Bela­rus zurück­schwim­men. Vor­her hat er ihr Han­dy zer­stört. Bei wei­te­ren Ver­su­chen ver­liert sie fast alles, was sie noch hat. Ihre Papie­re wer­den ent­we­der zer­stört oder beschlag­nahmt. Kein ein­zi­ger Sol­dat, auf kei­ner der bei­den Sei­ten, habe irgend­je­man­den gehol­fen, nie­mand habe sich mensch­lich gezeigt, auch kei­ne Zivil­per­son, berich­tet Anna. Schwan­ge­re hät­ten Fehl­ge­bur­ten erlit­ten, Reiz­gas mit gif­ti­gen Bei­men­gun­gen, die zu Haut­ent­zün­dun­gen führ­ten, habe man gegen die Flüch­ten­den ein­ge­setzt. Als sie spä­ter ihre Ver­let­zun­gen in einem pol­ni­schen Kran­ken­haus vor­stellt, will man, dass sie die Medi­ka­men­te selbst bezahlt. Seit Wochen besitzt sie kei­nen Cent mehr.

Wie sich die Bil­der glei­chen. Glau­ben wir nicht, oder bes­ser: tun wir nicht so, als hät­ten die Flucht­schick­sa­le ver­folg­ter Men­schen mit der Nazi­zeit auf­ge­hört. Nichts hat auf­ge­hört. Immer mehr Staa­ten auf der Welt behan­deln ihre Bür­ger wie Schlacht­vieh und zäh­len dabei auf unse­re Igno­ranz. Und immer mehr ähnelt das Ver­hal­ten der EU-Staa­ten gegen­über Flüch­ten­den dem eines prä­fa­schi­sti­schen Lan­des wie Ungarn im Jahr 1938.

 

Ausgabe 15.16/2025